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Der Sinn des Lebens - eine Aufgabe?
von Carola de Decker
Erläuterung zum Studium für den Monat Mai
Wie man seine Dankbarkeit erweist Dt. Gosho, Bd. 4, S. 264-265
„Wenn Nichirens Mitgefühl wirklich groß und umfassend ist, dann wird sich Nam-Myoho-Renge-Kyo mehr als zehntausend Jahre lang in alle Ewigkeit verbreiten, denn es besitzt die wohltuende Kraft, die blinden Augen eines jeden Lebewesens im Lande Japan zu öffnen, und es blockiert die Straße, die zur Hölle des unaufhörlichen Leidens führt. Sein Nutzen übersteigt den Dengyos und T‘ien-t‘ais und ist dem Nutzen von Nagarjuna und Mahakashyapa überlegen.
Hundert Jahre der Ausübung im Land der Vollkommenen Glückseligkeit können sich nicht mit dem Nutzen vergleichen, den man von einem Tag der Ausübung in dieser unreinen Welt erlangt. Zweitausend Jahre der Verbreitung des Buddhismus im Frühen und Mittleren Tag des Gesetzes sind einer Stunde der Verbreitung in diesem, dem Späten Tag des Gesetzes, unterlegen. Dies liegt in keiner Weise an meiner, Nichirens, Weisheit, sondern einfach an der Zeit. Im Frühling öffnen sich die Blüten und im Herbst erscheinen die Früchte. Der Sommer ist heiß und der Winter kalt. Dafür ist die jeweilige Jahreszeit verantwortlich, oder nicht?“
„Das Leben ist begrenzt; wir sollten es nicht bereuen. Wonach wir wirklich streben sollten, ist das Buddhaland.“ (WND, S. 214)
In der heutigen Zeit gibt es undenkbar viele Möglichkeiten, das Leben zu gestalten und die Freiheit, einen individuellen Lebensweg zu wählen, ist enorm groß. Aber macht die Vielfalt der Möglichkeiten, macht diese Freiheit wirklich glücklich? Eine Shell-Studie aus dem Jahr 2002 hat belegt, dass sich Jugendliche noch vor zehn Jahren materiell abgesichert fühlten, aber nicht mit dem Umfang ihrer Handlungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten zufrieden waren. Im neuen Jahrhundert empfinden die lugendlichen, so die Shell-Studie zwar alle Freiheiten zu haben, mitzubestimmen und zu handeln, aber jetzt leiden sie unter materieller Unsicherheit und Zukunftsangst. Es scheint also so, als ob persönliches Glück nicht unbedingt in dem Maße zunimmt, in dem man frei ist, seine Träume zu verwirklichen.
In einer Novelle mit dem Titel „Ein Leben“ erzählt der französische Schriftsteller Guy de Maupassant (1850-1893) die Lebensgeschichte einer „Tochter aus gutem Hause“, die beschützt vor den Härten des Lebens aufwächst. Sie lebt in einem herrlichen Schloss und strahlt eine reine Lieblichkeit aus. Voller Hoffnung und Romantik träumt sie von einer glücklichen Zukunft. Bald verliebt sie sich dann auch in den Sohn einer Aristokraten-Familie und die beiden feiern eine Traum-Hochzeit. Es sieht so aus, als ob Jeanne die Erfüllung aller Träume und ein Leben voller Glück erwartet. Doch bereits kurz nach der Hochzeit findet das Paar heraus, dass es nichts gemeinsam hat. Für Jeanne ist ihr Gatte eine ständige Quelle der Enttäuschung und Desillusionierung. Er betrügt sie, ihre Mutter verstirbt und dann stirbt auch ihr Mann. Um diese unglücklichen Erinnerungen hinter sich zu lassen, widmet sich Jeanne gänzlich der Erziehung ihres Sohnes, doch der entwickelt sich zu einem verwöhnten und verschwenderischen Draufgänger, der das Vermögen der Familie verprasst. Schließlich muss die mittlerweile älter gewordene Jeanne ihr geliebtes Schloss aufgeben und fällt in tiefe Einsamkeit.
Obwohl diese Novelle bereits vor mehr als 100 Jahren geschrieben wurde, wirft sie Fragen auf, die auch heute noch von Bedeutung sind. Was ist das Leben? Was ist Glück? Wie kann man ein erfülltes Leben verbringen?
Nach meiner Erfahrung beschäftigen sich gerade in der Jugend viele mit der Suche nach der eigenen Identität: Wer bin ich eigentlich? Man sucht nach den eigenen Fähigkeiten und nach Entfaltungsmöglichkeiten, versucht zu ergründen, was die eigene Lebensaufgabe ist. Dabei wird Lebensaufgabe oft verstanden als etwas „Angeborenes“, irgendwo verborgen in den Tiefen des eigenen Lebens, wie ein Schatz, den man heben muss. An der Berufswahl entzündet sich deswegen leicht eine Krise, weil sie als weichenstellende Lebensentscheidung betrachtet wird, bei der man keine Fehler machen darf. Hat man endlich einen Beruf gefunden, jagt man dem nächsten Ziel hinterher, in dem man die Erfüllung vermutet. Doch merkwürdigerweise löst sich das Gefühl der Erfüllung, das Gefühl, den Sinn des eigenen Lebens zu verstehen, immer gerade dann in Luft auf, wenn man meint, es entdeckt zu haben. Trotzdem denkt man, es gäbe einen höheren Sinn, der dem eigenen Leben verliehen wurde, den man suchen muss und - wenn man keine Fehler macht und viel Glück hat - auch finden kann. Dies sieht der Buddhismus ganz anders.
„Aufgabe“ heißt, sein Leben zu benutzen
„Aufgabe“ (jap. Shimei) bedeutet wörtlich aus dem Japanischen übersetzt, sein Leben zu benutzen! Es geht also nicht darum, ob ich irgendwann einen Sinn im eigenen Verhalten finde, sondern ob ich mich entscheide, mein Leben für etwas einzusetzen. Daisaku Ikeda formulierte dies vor einiger Zeit wie folgt: „Du musst Dich entscheiden: So will ich leben!, und dann mit ganzer Kraft diesen Weg gehen. So lebt ein Mensch, der eine Philosophie besitzt.“ Die Frage ist, ob ich mich zu einer Überzeugung bekennen kann und entsprechend handele. Der Sinn des Lebens, die eigene Lebensaufgabe ist also nichts Abstraktes, sondern eine Sache der Entscheidung und der konkreten Tat!
Natürlich erscheint fast nichts so schwierig, wie selbständig zu entscheiden, wofür man leben will. Sich zu einem Glauben, einer Aufgabe zu bekennen, fällt schwer, weil man sich auf ein Experiment mit dem eigenen Leben einlässt. Für den Fall, dass man mit der gewählten Überzeugung doch nicht richtig liegt, möchte man sich am liebsten einige Hintertüren offen halten. Aber gerade dieses Sicherheitsdenken verhindert, dass man in die Tiefe der Buddhaschaft vordringt und die grenzenlosen Potentiale im eigenen Leben öffnet. So heißt es in der Gosho „Über die Prophezeiung des Buddhas“: „Shakyamuni lehrte, dass das Oberflächliche anzunehmen leicht sei, das Tiefe dagegen schwer. Das Oberflächliche abzulegen und das Tiefe zu suchen, erfordert Mut.“ (Dt. Gosho Bd. 1, S. 163/164) Und der Philosoph Nikolai Berdjajew erläuterte das gleiche Prinzip in anderen Worten so: „Nur wenn man etwas riskiert, sich auf etwas Absurdes einlässt, gegen jede Vernunft alles auf eine Karte setzt und sich in den Abgrund stürzt, eröffnet sich dem Menschen die höhere Vernunft des Glaubens.“
Sich einlassen auf den großen Lebenswunsch
Was ist es aber, worauf man sich im Buddhismus einlassen soll? Es ist nichts, was außerhalb von uns liegt, sondern der ursprüngliche Wunsch unseres eigenen Lebens, Der Buddhismus geht davon aus, dass jeder Mensch in sich einen großen Lebenswunsch trägt und dass ein erfülltes Leben darin besteht, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Was ist dieser große Wunsch? „Es ist der Wunsch des Buddhas, allen Menschen zu ermöglichen, die Erleuchtung zu erlangen.“ (Welt der Schriften, Bd. 1, S. 17) oder, wie schon Shakyamuni im Juryo-Kapitel des Lotos-Sutras ausdrückte: „In jedem Augenblick denke ich darüber nach: wie kann ich allen Lebewesen dazu verhelfen, Zugang zum unübertroffenen Weg zu finden und schnell den Körper des Buddhas zu erlangen?“ (Welt der Schriften, Bd. 1, S. 13)
Nichiren Daishonin selbst ist ein Beispiel eines Menschen, der diesen Wunsch in seinem Leben erkannt und ein Versprechen abgegeben hat, um ihn zu erfüllen. Den Inhalt seines Versprechens bringt die Gosho-Stelle zum Ausdruck, die Gegenstand des Studiums in diesem Monat ist. Nichiren schwor darin, dass sein Mitgefühl groß genug Sein würde, um allen Menschen die Möglichkeit zu geben, das Mystische Gesetz von Nam-Myoho-Renge-Kyo kennen zu lernen. Seine Überzeugung war, dass die Kraft des Mystischen Gesetzes für die Menschen den Weg zur Hölle der Leiden blockiert und dass die Ausübung von Nam-Myoho-Renge-Kyo den Weg zur Erleuchtung öffnet.
Entscheiden und Handeln
Nichiren entschloss sich bereits im Alter von zwölf Jahren, der weiseste Mensch Japans zu werden, um den Menschen helfen zu können, ihre Leiden zu überwinden. Seine Motivation hierfür entstand durch die Umstände der damaligen Zeit, in der sich Japan immer mehr zu einem Militärstaat entwickelte. Weil Nichiren selbst das Leiden der Menschen erlebte, die von den Konflikten der damaligen Politiker betroffen waren, entschloss er sich, einen Weg zu finden, der dieses Leiden der Menschen beenden würde. Bei Nichiren war es also nicht so, dass er sein Potential entdeckte und dadurch seine Lebensaufgabe fand. Umgekehrt begann die Entwicklung seiner Fähigkeiten und seiner Weisheit mit einem Entschluss, seine Kapazität zu entwickeln, um etwas für die Menschen tun zu können.
Auf unser Leben übertragen bedeutet dies, dass es wenig nützlich ist, darauf zu warten, dass man im eigenen Leben die Buddhaschaft oder die eigene Aufgabe entdeckt. Vielmehr können wir unsere Buddhaschaft hervorbringen, indem wir uns den Wunsch des Buddhas zueigen machen und uns bemühen, ihn in die Tat umzusetzen. So studierte auch Nichiren Daishonin 20 Jahre lang intensiv, tat also alles, um seinen Kindheitstraum zu verwirklichen. Mit 32 Jahren schließlich, als er die Weisheit erlangt hatte, um Nam-Myoho-Renge-Kyo verkünden zu können, erneuerte und vertiefte er seinen damaligen Schwur.
„Der Schwur des Daishonin war, der weiseste Mensch Japans zu werden, so dass er diejenigen, in deren Schuld er sich fühlte, befähigen könnte, wahres Glück zu erfahren. Als er studierte, vertiefte sich sein Schwur zu dem Wunsch, alle Menschen im Späten Tag des Gesetzes zum Glück zu führen. Dies wurde sein großer Wunsch nach Kosen-rufu, der ihn dazu führte, die Begründung seiner Lehre zu verkünden, In gewisser Weise wäre es einfach für denjenigen, der die Erleuchtung erlangt hat, den Frieden und die Sicherheit dieses Lebenszustandes in Abgeschiedenheit zu genießen. Der Daishonin jedoch suchte unermüdlich die Weisheit, die Menschen zum Glück zu führen und wirklich das Zeitalter zu verändern. Seine Reise endete nicht mit dem Erlangen der Erleuchtung.“ (Welt der Schriften, Bd. 1, S. 31)
Daisaku Ikeda erläutert hier, dass die Erleuchtung für Nichiren Daishonin nicht das Ende, sondern ein neuer Anfangspunkt war. Er verharrte nicht in dem bequemen Zustand der Erleuchtung, sondern bemühte sich unter Einsatz seines Lebens für andere Menschen und für die Zukunft der Menschheit. Nichiren Daishonin ging dabei davon aus, dass der Zweck des Lebens darin liege, menschliches Verhalten vorzuleben. Er sagt in einem Brief: „Der Schlüssel zu allen Lehren Shakyamunis ist das Lotos-Sutra und der Schlüssel zur Ausübung des Lotos-Sutras wird im Fukyo-Kapitel gelehrt. Was bedeutet Bodhisattwa Fukyos tiefe Achtung vor den Menschen? Die wahre Bedeutung des Erscheinens von Shakyamuni Buddha in dieser Welt lag in seinem Verhalten als Mensch.“ (Dt. Gosho, Bd. 2, S. 258)
Daisaku Ikeda kommentiert diese Aussage folgendermaßen: „Der Daishonin erläutert, dass die Essenz des Buddhismus der Respekt ist, den man anderen erweist. Dies ist von größter Wichtigkeit. Obwohl Bodhisattwa Niemals Verachtend (= Bodhisattwa Fukyo) selbst verleumdet und verfolgt wurde, fuhr er in seiner Ausübung fort, andere zu verehren. Der Daishonin hielt es ebenso. Er hatte erkannt, dass der einzige Weg zur Erlangung der Erleuchtung für die Menschen im Späten Tag des Gesetzes darin liegt, die eigene Buddhaschaft hervorzubringen und dies auch anderen zu ermöglichen. Und er gab den Menschen Nam-Myoho-Renge-Kyo als Mittel, mit dem man dies erreicht. (...) Der Späte Tag des Gesetzes ist ein Zeitalter des Konflikts, eine Zeit in der Zwietracht unter den Menschen herrscht. Die Kraft diesem Ansturm zu widerstehen, entspringt der starken Überzeugung, dass man selber und die anderen die Buddhaschaft besitzen. Andere wirklich konkret zu verehren, heißt nichts anderes, als aus dieser Überzeugung heraus zu handeln.“ (Welt der Schriften, Bd. 1 , S. 8/9)
Je größer der Wunsch,\ desto größer die eigene Entwicklung
An Nichiren Daishonins Leben zeigt sich folgendes Prinzip: je größer der Wunsch ist, desto größer ist auch die Entwicklung, die man selber machen kann. Wenn man große Ziele hat, bekommt man die Kraft und Ausdauer, auch Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin zu überwinden, In der Bemühung, das Ziel zu erreichen, wird man alle Fähigkeiten entwickeln, die dafür erforderlich sind. Voraussetzung ist aber nicht nur, dass man von der Erfüllung des Wunsches träumt. Wichtig ist, ein Versprechen abzugeben, diesen Wunsch auf alle Fälle zu verwirklichen und dann alles dafür zu tun, um dies zu ermöglichen. Wie schon gesagt, ist im Buddhismus und im Zusammenhang mit der eigenen Aufgabe Handeln das wichtigste. Das bedeutet, einen persönlichen Entschluss zu fassen und hartnäckig daran zu arbeiten, ihn umzusetzen, ganz egal, was für Schwierigkeiten auftauchen mögen.
Daisaku Ikeda sagt hierzu: „Ein großes Versprechen kreiert ein starkes Selbst. Zudem ermöglicht uns die Bemühung, an einem würdigen Ziel mitzuarbeiten, unsere Schwächen zu überwinden und wird eine solide Unterstützung darin, alle Schwierigkeiten herauszufordern. (...) Egal auf welchem Gebiet: ein Versprechen ist die Grundlage etwas Großartiges zu erreichen. Aus welchem Grund auch immer jemand auf halbem Weg aufgibt oder zurückweicht, seine Entschlossenheit kann nicht auf einem Versprechen basiert haben. Halbherziges Sehnen kann man nicht als Schwur betrachten. Der Daishonin sagt: ‚Alle anderen Schwierigkeiten sind für mich nicht mehr als Staub im Wind.’ Wahrer Friede und Sicherheit existieren in einem starken Selbst. Wenn wir ein solches Selbst erschaffen, indem wir einen großen Schwur leisten, öffnet sich vor uns der Weg zu wahrem Frieden und Sicherheit in diesem Leben.“ (Welt der Schriften, Bd. 1, S. 19/20)
Quelle: FORUM Mai/Juni 2003
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