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Bodhisattwa Fukyo und die

Würde einer Verbeugung

von Antonella Nardi

Übersetzung von Carolina Baratta

Bodhisattwa Fukyo wurde viele Jahre lang von zahllosen Mönchen, Nonnen und Laien beschimpft und gedemütigt, geschlagen und sogar gesteinigt. Und dies nur, weil er ihnen mit einem Ausspruch von vierundzwanzig Schriftzeichen seine Verehrung erwies. Der Spruch lautete: „Ihnen gilt mein tiefster Respekt. Ich würde es niemals wagen, Sie geringzuschätzen oder arrogant zu sein, denn Sie alle werden den Bodhisattwa-Weg einschlagen und gewiss die Buddhaschaft erlangen.“ (Dt. Gosho, Bd. 3, S.48)

Daisaku Ikeda erklärt im ersten Teil seiner Erläuterungen zum „Hoben-Kapitel“ des Lotos-Sutras (FORUM, März 96, S.5), wer Bodhisattwa Fukyo war. Zunächst zitiert er seinen Meister, Josei Toda, der sagte: „Jeder geht einfach davon aus, dass unter ,Lotos-Sutra’ der unter diesem Namen existierende Text, aufgeteilt in 28 Kapitel, zu verstehen ist. Tatsächlich aber gibt es drei Arten des Lotos-Sutras.“ Und er führt aus: „Das erste ist das Lotos-Sutra von Shakyamuni.(...) Das Lotos-Sutra des Mittleren Tages des Gesetzes ist T’ien-t’ais Maka Shikan (Große Konzentration und Einsicht). Das Lotos-Sutra für unsere Zeit, den Späten Tag des Gesetzes, ist Nam-Myoho-Renge-Kyo, das aus sieben Schriftzeichen bestehende Lotos-Sutra, welches in der Tiefe des Juryo-Kapitels verborgen ist. (...)

Außerdem gibt es ein weiteres Lotos-Sutra, welches geschichtlich nicht nachweisbar ist. Dieses Lotos-Sutra wurde gleichermaßen von Nichiren, Shakyamuni, T’ien-t’ai und Dengyo erkannt. Es ist das 24 Schriftzeichen umfassende Lotos-Sutra des Bodhisattwas Fukyo. (...) Der Bodhisattwa Fukyo lehrte das sogenannte 24 Schriftzeichen umfassende Lotos-Sutra für die Menschen, die in einer Zeit lebten, die man den Mittleren Tag des Buddhas Ionno nennt. (...) Was haben diese unterschiedlichen Ausdrucksformen des ,Vielfältigen Lotos-Sutras’ gemeinsam? Letztendlich die Lehre, dass ,alle Menschen ohne Ausnahme das Potential haben, Buddha zu werden’.“

Was für ein eigentümlicher Mensch, dieser Fukyo. Obwohl er beschimpft und mit Steinen und Stöcken geschlagen wurde, reagierte er nicht mit Gewalt. Im Gegenteil: er hatte tiefen Respekt für alle Menschen und verehrte sie. Auf den ersten Blick mag man glauben, dass diese Gestalt die Verkörperung absoluter Naivität und Passivität sei. Tatsächlich aber bietet er uns wertvolle Anregungen, wie wir uns in Hinblick auf zwischenmenschliche Beziehungen verhalten sollten, da sie schließlich eine Quelle großer Freude, aber oft auch großen Leids sind. Betrachten wir das doch einmal näher.

Es kann jeden Tag passieren, dass wir uns so fühlen, als ob man uns in jedem Bereich unseres Lebens, bei der Arbeit und in der Familie, in Freundschaften und in der Liebe, aber auch bei oberflächlichen Kontakten, mit „Steinen und Stöcken“ schlagen würde. Wie manifestieren sich diese Schläge konkret in unserem Leben? Es sind die Sachen, die uns am meisten weh tun: eine Bemerkung, die uns verletzt, ein Verhalten, das unsere Sensibilität beleidigt, eine Handlungsweise, die uns mehr oder weniger absichtlich leiden lässt.

Die Mönche und Laien, die Fukyo verfolgten, sind aber in einem anderen Verständnis die sogenannten „guten Freunde“, genauso wie Menschen und Umstände, die in uns negative Reaktionen wie Unsicherheit, Egoismus, Abhängigkeit oder Verschlossenheit hervorrufen. Allgemein stellen sie die unreinen Empfindungen dar, die von unserer falschen Wahrnehmung der Realität herrühren und die in uns negative Gefühle provozieren und uns in die niedrigsten Welten fallen lassen: Hölle (Leiden), Hunger (Eifersucht) und Animalität (die niedrigsten Triebe).

Aber wie kann uns Fukyos Vorbild praktisch helfen? Es kann uns helfen, wenn wir seine Geschichte als einen Weg verstehen, unser Karma verändern zu können.

Man muss natürlich betonen, dass Fukyo sich entfernte, bis er sich außerhalb der Reichweite der geworfenen Steine befand, und beiseite trat, um den Steinen, also der Gefahr, auszuweichen. Das soll man nicht buchstäblich als Flucht verstehen. Im übertragenen Sinne könnte man es als eine Handlung verstehen, die helfen soll, eine übertriebene Emotionalität zu kontrollieren, die unsere Wahrnehmung trübt und verzerrt und eine Trennung schafft zwischen unserer Wahrnehmung und der wahren Realität der Situation. Eine starke Emotionalität lässt uns die Umstände, das Verhalten und die Reaktionen der Menschen auf eine extrem subjektive Weise wahrnehmen - auf eine Weise, die eng mit unseren Ängsten, aber auch unseren Wünschen verbunden ist. Und diese Ängste und Wünsche unterscheiden sich zumeist sehr stark von denen der anderen.

Wer den Buddhismus Nichiren Daishonins praktiziert, weiß, dass dies genau das Gegenteil von Weisheit, das heißt der Fähigkeit, ist, die Situation richtig einzuschätzen und das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu tun. Das ist leichter gesagt als getan. Wenn wir dann tatsächlich auf ein Hindernis stoßen, fühlen wir uns oft überrascht und wie von den Ereignissen fortgerissen. Tatsächlich kann man Weisheit nicht in einem Augenblick erwerben, man muss Tag für Tag und beständig an ihr arbeiten, ohne jemals müde zu werden. Auch wenn wir gerade eine positive Phase erleben, sollten wir nicht vergessen, dass es immer Probleme geben wird; und es ist auch richtig so, weil Schwierigkeiten der Motor unserer Entwicklung sind. Nur in einer schwierigen Situation können wir den tatsächlichen Stand unserer Kräfte überprüfen. Ein hoher Lebenszustand ermöglicht es uns, wenn das Hindernis nicht sofort zu überwinden ist, so doch zumindest nicht von ihm überwältigt zu werden.

Nachdem er sich entfernt hatte, „neigte Fukyo das Haupt und verehrte jeden Menschen. Diese Geste enthält verschiedene Aspekte. Zuallererst Dankbarkeit. Obwohl es paradox erscheinen mag, sollten wir jedem Menschen dankbar sein, der uns Leiden verursacht, weil er uns dadurch eine negative Seite unseres Charakters zeigt, die uns davon abhält, glücklich zu sein und unser Leben voll zu genießen. Wer zum Beispiel keinen Respekt vor uns zeigt oder uns herabsetzt, trifft uns in unserer Angst, der Lage nicht gewachsen zu sein, den Vergleich mit anderen nicht aushalten zu können, abgelehnt zu werden oder, noch schlimmer, nicht geliebt zu werden. Dies sind alles Anzeichen einer tiefen inneren Unsicherheit, die unsere Beziehungen zu anderen Menschen stört und uns wiederum veranlasst, uns abhängig, arrogant, konkurrierend oder eifersüchtig zu verhalten.

Zweitens lehrt uns Fukyos Verneigung die Demut, unsere Grenzen anzuerkennen, ohne aber in Selbstmitleid zu verfallen oder uns vor den anderen zu demütigen; Fukyos Geste strahlt eine große Würde aus: er beklagt sich nicht, er fragt sich nicht „Warum ich? Was habe ich falsch gemacht?“, sondern er zeigt ein starkes Gefühl der eigenen Individualität. Fukyo nimmt sachlich und ohne sich selbst dafür zu bestrafen das an, was die Steinwürfe provoziert hat, weil er sie als eine Auswirkung der negativen Ursachen erkennt, die er in der Vergangenheit gesetzt hat.

Gleichzeitig bereitet Fukyo eine „Gegentendenz“ vor, das heißt er tut genau das Gegenteil dessen, was man menschlich und logisch erwarten würde, was aber nur dazu dienen würde, einen Mechanismus der Negativität in Gang zu setzen. Auch wenn es die erste Reaktion wäre, einen Stein in die Hand zu nehmen und mit gleicher Münze heimzuzahlen, verneigt sich Fukyo: er kontrolliert seine negative Reaktion und verwandelt sie in eine positive.

Ein Beispiel: ein Freund hat uns tief enttäuscht. Eine Beziehung, in die wir viel investiert haben und von der wir uns viel versprochen haben. Gut, wir können von unserem Training Gebrauch machen, wir halten kurz inne und versuchen, die Situation anders zu betrachten: wir wischen uns die Tränen aus den Augen, nehmen ein Blatt Papier und schreiben: „Was habe ich von dieser Erfahrung gelernt?“ Und dann: „Was kann ich verändern, um zukünftig Enttäuschungen dieser Art zu vermeiden und mich selbst zu bessern?“ Dann gehen wir vor den Gohonzon und versuchen, diese Veränderung vorzunehmen. Ein Beispiel von „Gegentendenz“ könnte dann sein, sich dazu zu entschließen, ab sofort anders zu reagieren, mit der Vergangenheit Schluss zu machen und eine Grundtendenz in uns zu verändern. Eine große Wohltat unserer buddhistischen Ausübung ist, dass wir lernen können, negative Erfahrungen zu unserem Vorteil (und daher zum Vorteil unserer Umgebung) zu benutzen.

Schließlich verehrte Bodhisattwa Fukyo diejenigen, die ihn mit Steinen bewarfen: es ist der letzte Akt dieser wunderschönen Verarbeitung einer anscheinend misslungenen, gescheiterten Interaktion, die mit Mitgefühl ausgeht. Fukyos Verbeugung hat nichts mit Unterwerfung oder Bedauern zu tun, sie enthält dagegen den Begriff des Jihi, der buddhistischen Barmherzigkeit, und damit keine negativen Gefühle, wie etwa Hass. Statt dessen drückt diese Geste den aufrichtigen Wunsch nach unserem Glück aus und nach dem Glück derjenigen, die uns verletzen wollen. Einen Menschen zu hassen oder in abgeschwäch­ter Form einem anderen etwas zu verübeln, bedeutet in Wirklichkeit, in uns selbst einen Parasiten zu nähren, der unsere Kraft, unseren Körper, unsere Lebenslust und unsere Hoffnung zerfrisst. Es bedeutet auch, eine Negativität zu übertragen, die die zyklische Wiederkehr des selben Leidens nährt.

Diese zerstörerische Kraft zu verwandeln, verlangt eine enorme Bemühung, so groß, dass wir manchmal glauben, sie nicht leisten zu können. Aber da irren wir uns, weil wir das Glück haben, über ein unfehlbares Mittel zu verfügen: das Daimoku.

Und dann, wenn wir chanten, werden wir plötzlich merken, dass das Nagen verschwunden ist, weil wir es so wollten und uns maximal angestrengt haben, um es zu vernichten, weil wir mit unserer ganzen Kraft gekämpft haben, jeden Tag vom neuem dazu entschlossen, bis es verschwunden ist. Dann wird spontan auch ein Gefühl des Verständnisses gegenüber denjenigen entstehen, die uns Leid angetan haben, weil wir fühlen werden, dass sie von ihrem Leiden, von ihren Problemen und Frustrationen um­nebelt waren. Endlich werden wir auch Bodhisattwa Fukyos tiefe Lehre klar sehen können: in jedem von uns existiert die Buddhanatur. Wenn wir es schaffen, hinter das Äußere zu sehen, hinter den Schleier, der das wahre Wesen der Menschen verbirgt, werden wir ihre bessere Natur wahrnehmen können.

Das ist die große Wohltat, die aus dem manchmal kurzen, manchmal langen und zermürbenden Weg hervorgeht, den Fukyo uns zeigt. Aber die Zeit ist im Buddhismus ein subjektiver Begriff. Daisaku Ike­da erläutert sie im zweiten Teil seiner Erläuterungen über das Lotos-Sutra (FORUM, März 96, S.10 ff.)

„Diese Zeit (niji) beginnt, wenn wir unser Leben in Bewegung setzen, wenn wir aus eigenem Willen und aus eigener Kraft anfangen. ,Diese Zeit’ beginnt, wenn wir starken Glauben hervorbringen und unsere Aufgabe auf der Bühne von Kosen-rufu übernehmen.“ (FORUM, März 96, S.12)

In diesem Moment werden wir nicht nur unser Leiden, sondern auch unsere Grenzen überwinden, und wir ,werden uns leichter fühlen, weil wir wissen, dass wir uns von den Ketten einer negativen Tendenz befreit haben, die bis dahin unser Leben beherrscht hat.

Quelle: FORUM Mai 1998

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