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Dr. Evgenij I. Kychanov,
Ex-Direktor der St. Petersburger Abteilung des Instituts of Oriental Studies der Russischen Akademie der Wissenschaften
„Ein Leben zu führen,
andere Menschen zu rühmen“, ist brillant!
„Wenn er schweigt, sieht er ein wenig furcherregend aus, jedoch sobald er lacht, beginnt die Gutmütigkeit seiner Person plötzlich hervorzutreten.“
Das sagen viele, die Herrn Kychanov gut kennen. Obwohl er eine überaus große Persönlichkeit ist, da er lange Jahre als Direktor des renommierten Instituts of Oriental Studies der Russischen Akademie der Wissenschaften (IOS-RAS) tätig war, ist er wirklich warmherzig und hat einen feinfühligen Charakter. Wiewohl körperlich stattlich, hat er doch ein ebenso großes und grenzenloses Herz, was die innere Größe der Menschen ausmacht.
„In meiner Kindheit … während und unmittelbar nach Beendigung des letzten Weltkriegs war ich den ganzen Sommer lang immer mit Ziegen auf der Weide. Da ich stets nur von Ziegen umgeben war, fühlte ich mich ab und zu verdrossen, aber gerade deshalb wurde ich vom ‚schlechten Einfluss der Stadt’ beschützt, den manche Jugendliche in dem Alter leicht annahmen.“
Als ich von solch einer Geschichte erfuhr, kam es mir vor, als sei aus dem großen russischen Land ein erfrischender, grüner Duft herbeigeweht worden.
Die Nacht der Begegnung zwischen dem russischen und den japanischen Forschern
Das war ein Kreis von Menschen, aus dem eine mystische „menschliche Beziehung“ entstand. Im Januar 1916 wurde in Tokio eine bescheidene Versammlung veranstaltet. Forscher aus verschiedenen Fachgebieten kamen, in der Kälte den weißen Atem hauchend, nach und nach zusammen. Es war in der Nacht des 12. Januar. Der Ort der Zusammenkunft war im Hause von Dr. Inazou Nitobe (1862-1933) in Bunkyo-ku, einem Stadtbezirk Tokios. Dort fand eine monatliche Versammlung des „Vereins der Heimatkunde (Kyodo-kai)“ statt.
Auf dieser Versammlung berichtete ein Geograph über die Lage eines Fischerdorfes in Hokkaido, der nördlichen Insel Japans. Dieser Mann, zugleich Direktor einer Grundschule, wurde später der Gründungspräsident der „Gesellschaft der wertschaffenden Pädagogik (Soka Kyoiku Gakkai)“, Tsunesaburo Makiguchi (1871-1944). Er war damals 44 Jahre alt.
„Der Verein der Heimatkunde (Kyodo-kai)“ wurde sechs Jahre zuvor durch die Initiative von Dr. Nitobe und Kunio Yanagida (1875-1962) gegründet. Das war eine Zusammenkunft von Gelehrten, die Gesellschaftssysteme, Volksbräuche und Überlieferungen in den Provinzen Japans erforschten. Ohne die Lebensweise der namenlosen „in Vergessenheit geratenen Menschen“ direkt vor Ort kennen gelernt zu haben, werden alle Diskussionen, selbst wenn man sie über alle möglichen Themen der Gesellschaft führt, einfach zur blanken Theorie – das war das Kredo dieses Vereins. Herr Makiguchi soll bei dieser Gelegenheit über die Veränderung des Dorfes Setana gesprochen haben, das er im August des vorangegangenen Jahres erforscht hatte.
Bei diesem Treffen war ein recht ungewöhnlicher Gast anwesend. Er war ein 23 Jahre alter russischer Student namens Nikolai Nefsky (1893-1937), der erst vor einem halben Jahr nach Japan gekommen war. Er erstattete dabei Bericht über seine Forschungsergebnisse, in denen es um ein Paar Steine, Meoto-ishi genannt, ging, die sich unweit von Yanaka, einer Ortschaft in Taito-ku, einem Stadtbezirk Tokios, befanden. Als sie davon hörten, wurden alle Teilnehmer in Erstaunen versetzt und sagten zu sich: „Wie hervorragend er Japanisch spricht. Überdies versucht dieser junge Mann, die japanischen Religionen aus einem neuen Aspekt unter die Lupe zu nehmen. Da ist doch für uns ein furchtbarer Konkurrent erschienen!“
Das bedeutete für alle jedoch eine erfreuliche Überraschung.
Wer konnte sich überhaupt vorstellen, dass Makiguchi und Nefsky – die beiden Gelehrten, die an diesem Abend zusammentrafen – später das gleiche Schicksal erdulden müssten, von der Obrigkeit des jeweiligen Landes mit Füßen getreten zu werden und durch sie ihr Leben zu verlieren?
Mein Meister Josei Toda (1900-1958) wollte dem Militarismus Japans, der seinen Meister Makiguchi geschmäht und verfolgt hatte, niemals verzeihen. Jedes Mal, wenn er auf das Thema zu sprechen kam, dass sein Meister Makiguchi im Gefängnis gestorben war, bebte sein ganzer Körper vor Wut.
„Schaut her! Ich werde die Großartigkeit meines Meisters, den der Staat tötete, der ganzen Welt beweisen!“
Ich glaube fest, dass ich mir diesen Geist meines Meisters, der sich voller Tränen über seinen Meister Gedanken machte, in tiefer Ehrfurcht zu Herzen genommen habe.
Und derjenige, der im Gedenken an Nefsky, seinen wissenschaftlichen Vorgänger, dessen erste Biographie zusammenstellte und dadurch seine herausragenden Verdienste hervorhob, war niemand anderer als der am 22.
Machthaber!
Bösewichte!
Schaut her!
Jene Persönlichkeit, die ihr auslöschtet, war tausendfach großartiger als ihr selbst!
Eigentlich bin ich Nefsky schon einmal begegnet, und zwar durch ein Buch. Es handelt sich um „Geschichte über die Orientalistik“ von Juntaro Ishihama (herausgegeben im Jahr 1943). In diesem Buch wurde Nefsky, der sich voller Eifer mit der Erforschung der tangutischen Sprache beschäftigte, lebhaft vorgestellt. Er war von Natur aus ein Gelehrter, und selbst wenn er spazieren ging, hatte er nur seine Forschung im Kopf, als sei er vom Teufel des Wissens besessen.
Kurz bevor sein zweijähriger Studienaufenthalt in Japan zu Ende gehen sollte, brach in seiner Heimat jene russische Revolution aus, die für sein Leben ein unvorstellbar heftiges Erdbeben bedeutete. Die Zustellung seines Stipendiums wurde dadurch unterbrochen, und der Aufruhr in seinem Heimatland schien in absehbarer Zeit nicht enden zu wollen. Unter solchen Umständen entschied sich der junge Nikolai, seinen Aufenthalt in Japan zu verlängern, und er blieb schließlich 14 Jahre lang.
Inzwischen heiratete er eine Japanerin namens Iso Mantani (Yorozuya), die er kennen gelernt hatte, als er in der Stadt Otaru auf der Insel Hokkaido als Lehrer für die russische Sprache tätig gewesen war. In der Stadt Osaka, in der das Ehepaar zum späteren Zeitpunkt wohnte, kam ihre geliebte Tochter Elena, in Japan Neri genannt, auf die Welt. Während dieser Zeit stand er jedoch ständig unter strenger Beobachtung der Kriminalpolizei, denn er war ein Mensch, der aus dem „roten Land“ gekommen war.
Während des Aufenthaltes in Japan war er dennoch öfters unterwegs, um die antike Schicht der japanischen Gesellschaft zu erforschen, beispielsweise im Norden Japans, um die Ainos (Urbewohner Japans) zu erforschen, sowie auf der südlichen Insel Miyako, um den Dialekt und die Gebräuche der Bewohner vor Ort zu erfahren. Mehr als manche japanische Wissenschaftler war er darum bemüht, mit den Menschen in Japan direkten Kontakt herzustellen.
Es geschah einmal, als er von der Insel Miyako zur nächsten Insel Tarama reiste. Sobald er an der Sandküste der Insel ankam, begrüßte er die Menschen auf der Insel Tamara in ihrem Dialekt: „Ganjuhshi Wahrun’nah? (Wie geht es Ihnen?).“ Die Inselbewohner waren völlig überrascht. (aus „Okinawa Times“, einer lokalen Tageszeitung, datiert am 3. Oktober 2001) Er war die Neugierde in Person und stellte ihnen rasch eine Frage nach der anderen, die sich auf alle Gebiete erstreckten.
Parallel zu diesem Zeitpunkt begann er mit der damals noch unangetasteten Forschung nach der tangutischen Sprache. Im Herbst 1929 kehrte er nach Russland zurück. Obwohl ihm zum Teil vor dem kommunistischen Regime bangte, sah er in Russland einen großen Berg von tangutischen Manuskripten, die aus dem 11. – 13. Jahrhundert in Zentralchina stammten. Seine Leidenschaft, diesen Berg erklimmen zu wollen, überwand seine Sorge. Er dachte: „Das Studium ist wichtiger als meine persönliche Bange!“
Obwohl die Universität Petersburg, seine Almar mater, mittlerweile in Universität Leningrad umbenannt worden war, vertiefte er sich dort in seine Forschung und erlangte innerhalb einer kurzen Zeit auf diesem Gebiet herausragende Resultate. Diese offenbaren sich auch klar in der Äußerung von Dr. Kychanov, der dazu einmal ohne sein Erstaunen zu verbergen sagte: „Es ist wirklich zu bewundern, dass ein Mensch innerhalb einer sehr begrenzten Zeit derart riesige Mengen an Arbeit leisten konnte.“
Diese Worte sind in „Die himmlische Schlange – das Leben Nikolai Nefskys“, einem Werk von Kyuzo Kato, der ebenfalls ein Freund von Dr. Kychanov ist, zitiert. Herr Kato ist ebenso ein großer Gelehrter, der lange Jahre ein Lehramt an der Soka Universität ausübte.
„Du, japanischer Spion!“
Erst vier Jahre später, nachdem er in seine Heimat zurückgekehrt war, konnte er seine Familie, die er keinen einzigen Augenblick vergessen hatte, endlich aus Japan herkommen lassen. Seine Frau Iso kam zu ihrem Geliebten trotz aller Widrigkeiten und Hindernisse. Das glückliche Leben der fortan vollständigen Familie war nur von kurzer Dauer und wurde eines Tages je unterbrochen.
Das war am 4. Oktober 1937, dem Jahr, in dem der Sturm der Säuberung durch Joseph Stalin (1879-1953) im ganzen Land tobte. Eines Nachts war Nefsky wie immer in seiner Bibliothek mit der Forschung beschäftigt. Da hörte er jemanden an die Haustür klopfen, was in ihm ein unwohles Gefühl hervorrief. Unbekannte Männer standen vor der Tür. Die Luft fror.
Diesen Moment der Verhaftung hat die damals neunjährige Elena deutlich in ihrem Gedächtnis bewahrt: „Mein Vater sagte zu meiner Mutter: ‚Es scheint Missverständnisse zu geben. Ich gehe jetzt kurz hin und werde sie klären. Ich denke, in knapp zwei Stunden bin ich wieder zurück.’ So bat er meine Mutter, nichts auf seinem Schreibtisch aufzuräumen, weil er seine Arbeit fortsetzen wollte, sobald er zurück wäre.“ (aus „Aihanum 2001“ von Kyuzo Kato)
Jedoch kehrte ihr Vater nie mehr zurück. Darüber hinaus wurde ihre Mutter vier Tage später ebenfalls verhaftet. Die beiden wurden im darauffolgenden Monat nach ihrer Verhaftung erschossen. Obwohl es hierzu widersprüchliche Zeitangaben gibt, konnte das Ehepaar nie mehr nach Hause zurückkehren.
Als Dr. Kychanov eine Biographie Nefskys „Nur Schriften erzählen“ (1964) schrieb, besuchte er eine Person, die meinte, sie wäre mit Nefsky in der selben Gefängniszelle eingesperrt gewesen, und machte mit dieser ein Interview.
Folgendes ist ein Teil des Briefes, den diese Person an Dr. Kychanov schrieb: „Nachdem ich verschiedene Erniedrigungen erlitten hatte, wurde ich in eine Duschkammer mit kaltem Wasser hineingedrängt. Es war eine besondere Dusche, und wenn man einmal geduscht hatte, konnte man danach nicht mehr ein normaler Mensch sein. Nach dieser Dusche wurden die Gefangenen auf verschiedene Zellen verteilt, und mir wurde die Zelle Nr. 54 zugeteilt, in der sich auch Nefsky befand. Diese Zelle war relativ groß, und als ich sie betrat, drängten die Menschen, wie Urmenschen oder Verrückte, wer weiß, im Nu auf mich zu und überfielen mich mit vielen Fragen. Entweder wegen der kalten Dusche oder aus Angst stand ich nur zitternd da und konnte ihnen keine Antwort geben. Dann hörte ich in einiger Entfernung jemanden sanft sprechen: ‚Hören Sie alle zu! Wie wäre es denn, wenn Sie ihn ein wenig in Ruhe lassen könnten? Er ist so aufgeregt, deswegen kann er kein Wort sprechen.’
Als ich meinen Blick dahin wendete, woher die Stimme kam, befand sich dort ein Mann mit einer breiten vorragenden Stirn, straff gespannten dünnen Lippen und tief eingesunkenen, aufmerksam schauenden Augen.“
Dieser Mann war Nefsky, der „selbst im Gefängnis keine Mühe scheute, anderen zu helfen, aber bescheiden blieb und sich anderen gegenüber immer freundlich verhielt.“
Eine Vernehmung im Gefängnis kam einer Folterung gleich. Man wurde gezwungen, völlig schuldlos Taten zu gestehen und dabei fortgesetzt stehen zu bleiben, ohne zu essen und zu schlafen, und zwar viele Tage lang! Eines Tages, als er in die Zelle zurückkam, war Nefsky bereits von einer Vernehmung zurück. Er spürte sofort, dass eine seltsame Atmosphäre herrschte.
„Nefskys graue Haare waren verwildert, seine unteren Augenränder schlaff und seine extrem geschwollenen Beine regungslos ausgestreckt, so saß er mit benommenen Augen. Ich ging schnell auf ihn zu und fragte: ‚Was ist denn mit Ihnen los?’ Dann antwortete er mir einfach kalt, ich weiß nicht warum: ‚Während du zum polnischen Spion geworden bist, hat man mich zum japanischen Spion gemacht.’“
Selbstverständlich war das eine total falsche Anschuldigung. Während er noch in Japan lebte, sagte er immer in fester Überzeugung: „Ich bin Wissenschaftler. Studium kennt keine Landesgrenzen. Ich bin von der Politik überhaupt nicht tangiert.“ (aus „Die himmlische Schlange“)
Nichtsdestotrotz rückte die Politik von sich aus an ihn heran, und zwar auf die übelste Art und Weise. Dies passierte nicht nur mit ihm. Nach dem Willen der Machthaber wurde das Leben von Millionen Menschen zerstört. Das war auch kein typisches Phänomen allein in der Sowjetunion. In diesem Jahr begann das Nazi-Regime im Westen mit seiner Judenverfolgung, die zum Holocaust führte, während im Osten das Massaker an der chinesischen Bevölkerung in Nanking durch die japanische Reichsarmee verübt wurde. Die Erde wurde durch die „teuflische Natur der Macht“ schwarz umschlossen.
Sowohl Tsunesaburo Makiguchi als auch Nikolai Nefsky waren Menschen von Kultur. Das heißt, sie waren diejenigen, die ein Leben führten, in dem sie ihre persönlichen Interessen und Berechnungen vollkommen außer acht ließen. Nichtsdestotrotz!
Macht tötet, während Kultur ein neues Leben gibt!
Macht schaut von oben herab; indem sie herunterschaut, abstrahiert sie Menschen sowohl als Masse wie auch als Zahlen: „Der ist ein Feind des Volkes!“ oder „Die sind Bürger der gegnerischen Nation!“ Die Hemmung, Menschen zu töten, die sich in dieser Art und Weise in Chiffreschriften sowie Zahlen verwandelten, geht mit der Zeit verloren. Fjodor M. Dostojewski (1821-1881) schrieb: „Zwei mal zwei ist vier, das ist der Anfang des Todes.“ (aus „Notizen im Keller“)
Kultur schaut nicht herab; sie steht fest auf dem Boden und schreitet voran.
Sie trennt sich von der Realität jedes einzelnen Menschen nicht ab.
Sie steht nicht an der Seite der abstrahierten Individuen, sondern sie bleibt fortwährend dicht an der Seite des Lebens von Menschen, wie „Flora“ und „Michael“, die sowohl auf bestimmtem Boden fest stehend als auch bestimmte Umgebung, Geschichte und Kultur auf ihren Schultern tragend tatsächlich am Leben sind.
Der Geist des „Vereins der Heimatkunde (Kyodo-kai)“, der die beiden, Makiguchi und Nefsky, verband, lag ebenso darin.
„Schauen Sie bitte die Schriften an, unbedingt diese Schriften!“
Es war bei der Ausstellung „Das Lotos-Sutra und die Seidenstraßen“ (am
Das war eine Veranstaltung, zu der er ermöglichte, zahlreiche Manuskripte, darunter die des Lotos-Sutras, die im Institut of Oriental Studies der Russischen Akademie der Wissenschaften (IOS-RAS) aufbewahrt sind, als Weltpremiere auszustellen. Das Lotos-Sutra in tangutischer Sprache fand sich ebenfalls.
Ich konnte es auch sehen.
Die Schriften der Sutras waren lebendig; sie lebten und strahlten.
Sie sangen und riefen uns an.
Sie lächelten in Ruhe, indem sie in sich den Rhythmus des großen Lebens widerspiegeln ließen, das in der Wurzel des Universums strudelte und Wellen schlug.
Schriften waren nicht mehr Schriften, sondern die Seele und das Leben selbst.
Wie viele Jahrhunderte lang mussten viele Buddhisten sich angestrengt haben, um diese Schriften zu beschützen und sie zu überliefern? Als ich daran dachte, schienen mir die Schriften, die mehrere Hunderte von Jahren überlebt hatten und vielen Menschen begegnen konnten, darüber hoch erfreut zu sein.
Auch starben viele Forscher vom Institut of Oriental Studies der Russischen Akademie der Wissenschaften, weil sie wertvolle Schriften sowie Manuskripte während jenes Krieges beschützten. Leningrad ist dadurch bekannt, dass es die „neunhundert Tage Belagerung“ der Nazis durchstand. Bombardement, Zerstörung und Dunkelheit. Weder Nahrung noch Feuer, durch das man sich erwärmen konnte, waren vorhanden.
Freunde fielen, und Familienmitglieder starben. Dennoch setzten die Forscher ihre Arbeit aus Leibeskräften fort, während sie Hunger und Kälte aushielten. Und indem sie die gefrorene Tinte durch ihren Atem anwärmten – selbst dieser Atem ging bald aus, als sie sich auf Manuskripte legend starben.
Ausschließlich um der Wissenschaft willen und nur um den Schatz der Menschheit zu beschützen. Ihr Tod war sicher nicht um des Ruhmes willen noch wegen der Karriere.
Warum zum Teufel wollen die Menschen, die ihr eigenes Leben auch nicht scheuen, nach solchen Winzigkeiten begehren!
Hier fand sich die wahre „Seele der Kultur“. Ich kann nicht vergessen, dass jemand vom Institut einmal sprach: „Alle Namen derjenigen Gelehrten, die im Dienst starben, sind in den Platten des Instituts eingraviert. Davor stehend, werden wir von der Strenge des Studiums tief bewegt ... unsere innere Einstellung berichtigt.“
Nefsky selbst machte sich in jener äußerst widrigen Situation darum Sorgen, wie seine abgebrochene Arbeit „Tangutisch-russisches Wörterbuch“ weiter gehen würde. Er sagte: „Endlich habe ich eine Möglichkeit herausgefunden, die tangutischen Schriften zu entschlüsseln ... Ich habe zwar bislang einige Abhandlungen über die tangutische Kultur geschrieben, jedoch muss ich mich jetzt fragen, ob jemand anderer außer mir diese Arbeit künftig fortführen und vervollständigen könnte. Bis heute habe ich mein Leben ernst und aufrichtig geführt, dennoch finde ich es sehr schade, dass ich selbst meine Arbeit nicht zu Ende bringen konnte.“
„Ob jemand anderer außer mir diese Arbeit künftig fortführen und vervollständigen könnte?“ – Ja! Mit Dr. Kychanov angefangen, folgten viele Menschen diesem von ihm gebahnten Weg. Prof. Dr. Evgenij Iwanowitsch Kychanov widmet sich der tangutischen Forschung bereits ein halbes Jahrhundert lang, seitdem er den Namen Nefsky während seiner Studentenzeit zum ersten Mal hörte.
Nach über zehn Jahren Arbeit vollbrachte er unter vielen anderen „Das große buddhistische Lexikon des tangutischen Reiches“ und „Verzeichnis der buddhistischen Manuskripte in Tangut“. Und gegenwärtig ist er unter Mitwirkung von japanischen Experten mit dem Projekt auseinandergesetzt, ein „Tangutisch-Russisch-Englisch-Chinesisches Wörterbuch“ herauszugeben.
Sein Motto lautet: „Für die Werte der gesamten Menschheit mit Herz und Seele zu arbeiten.“
Als ich davon hörte, dachte ich sofort und sagte ihm: „Herr Dr. Kychanov, das ist wahrhaft das Herz des Lotos-Sutras!“
Die Werte der gesamten Menschheit bedeuten „menschliche Werte“. Man geht, um über die Mauern von Staaten und Gesellschaftssystemen hinweg „Menschen“ zu treffen und sich als „Menschen“ miteinander zu verbinden. Das ist das Herz des Lotos-Sutras sowie die Quintessenz jeglicher Kultur. Diesen Geist tief im Herzen tragend, forderte ich mich heraus, auf die Seidenstraßen der Freundschaft mit der Sowjetunion zu gehen.
Seiner Erläuterung nach wurde das Lotos-Sutra auch sehr früh ins Tangutische übersetzt, wenn er meint: „Das Lotos-Sutra wurde in viele ostasiatische Sprachen übersetzt. Dadurch kann man klar erkennen, wie weit es verbreitet werden konnte. ... Das Lotos-Sutra, in dem gelehrt wird, Mitgefühl (Jihi) allen Menschen gegenüber unparteiisch auszuüben, ist die Schrift der pazifistischen Philosophie. Ich wünsche mir innig, dass das Herz des Mitgefühls im Lotos-Sutra in der ganzen Welt verbreitet werden kann.“
Das „Herz des Friedens“, das im Lotos-Sutra gelehrt wird, gleicht dem Herzen, andere zu rühmen und zu würdigen, und das ist wiederum das Herz des Bodhisattwas „Niemals verachtend (Fukyo)“.
Wichtiger ist, herauszufinden, wer sich wirklich und tatsächlich bemüht, und wer alle anderen hinter der Bühne unterstützt, und nicht nur im Rampenlicht stehen möchte – nach solchen Personen überall und mit ganzer Kraft zu suchen. Und wenn man sie gefunden hat, dann sich bei ihnen herzlich zu bedanken, sie zu respektieren und unbedingt auszuzeichnen!
Falls dieser Geist nicht mehr im Herzen der Führungspersönlichkeiten brennt, kann man wohl sagen, dass ihr Herz bereits begonnen hat, von der „teuflischen Natur der Macht“ zerfressen zu werden.
Nikolai Nefskys Ehre wurde im Jahr 1957 wieder hergestellt, und ihm wurde 1962 der „Lenin Preis“, der höchste Preis der Sowjetunion, verliehen. Die Feierlichkeit, die zum Gedenken an Nefsky veranstaltet wurde, war für Dr. Kychanov ein Augenblick, in dem die Größe seines wissenschaftlichen Vorgängers landesweit öffentlich erklärt wurde.
„Die Zeremonie fand im grünen Raum des Instituts of Oriental Studies statt. Der Raum war voll besetzt. Der Himmel war strahlend blau, und die Luft des Frühlings durchzog den Raum transparent“, erzählte mir Dr. Kychanov.
Der damals gerade 30 Jahre junge Forscher hielt eine Ansprache: „Die eigene Kultur des einst zugrunde gegangenen und lange in der Dunkelheit der Geschichte vergrabenen Volkes ist jetzt vom hellen Licht beleuchtet und wiederbelebt. Das ist im großen und ganzen Herrn Nefsky zu verdanken. Das ist auf seine unermüdlichen, ungeheueren Anstrengungen zurückzuführen!“
Ein Leben zu führen, andere Menschen zu rühmen, ist brillant.
Und das Herz, andere preisen zu können, ist herrlich und von Glück beseelt.
Genau wie jener weite, klar strahlende Himmel im Mai!
(aus „Seikyo Shimbun“ vom 11. Mai 2003)
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