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Essay Nr. 4 und Nr. 5

„Das Leben ist wunderschön“ von SGI-Präsident Ikeda

Dr. Sergej Tolstoi

Enkel von Leo Tolstoi

Nein, ich werde von den Lehren meines Vaters nicht abweichen!

Sie war jemand, der nicht weinte.

Sie hatte Abscheu vor Sentimentalität.

„Wozu nutzt das Weinen! Es geht um nichts anderes als die Berge zu überwinden!“

Alexandra Lvovna (18.6.1884-1979), die jüngste Tochter Leo (Lew) Tolstois (1828-1910), war eine Person von beharrlicher Natur. Jedoch setzten sich Ereignisse, angesichts derer sie in Wirklichkeit hätte weinen wollen, ununterbrochen fort, insbesondere seitdem ihr großer Vater verstorben war. Sie war 26 Jahre alt, als sie dem Tod ihres Vaters beiwohnte.

Auf einer unbekannten kleinen Bahnstation schied der große Schriftsteller, den alle Welt verehrte, aus dem Leben. Sieben Jahre danach ereignete sich die Oktoberrevolution, wodurch die Kommunistische Partei die Alleinherrschaft übernahm. Der Materialismus tobte durchs Land. „Gläubige“ oder „Befürworter der Gewaltfreiheit“ wurden fürchterlich zugerichtet. Und sie hatte gerade mit beiden zu tun!

Sie wurde fünf Mal inhaftiert. Ungeachtet der Unterdrückung sagte sie: „Ich werde so leben, wie mein Vater mich gelehrt hat!“ Sie beugte ihren Grundsatz nicht. „Ich bin“ – sie hob ihr Haupt stets gerade empor – „Ich bin Tolstois Tochter!“

Es war Tolstoi, der lehrte, dass das Leben ohne Glauben sinnlos ist. Wie könnte dann seine Tochter Religionen verneinen, dachte sie.

Tolstoi, der sich allen Gewaltakten widersetzte, wie könnte seine Tochter den Militarismus befürworten, sagte sie zu sich.

Sodann entschloss sie sich fürs Exil in Japan. Das war im Jahr 1929.

Im „Haus der Literatur“

„Alexandra ist meine Tante väterlicherseits“, sagte Herr Sergei Tolstoi (1911-1996). Er war der Sohn von Michail Tolstoi, dem älteren Bruder von Frau Alexandra. Herr Sergei war Arzt und lebte in Frankreich. Bei der Eröffnung des „Victor Hugo Museums“, das ich errichtet hatte, kam er extra bis in die Vorstadt von Paris, zusammen mit seiner Frau Colette.

Tolstoi ist ein Schriftsteller, den ich seit meiner Jugendzeit sehr verehre. Nun war sein Enkel da. Für seinen Besuch bedankte ich mich zutiefst. „Es ist für mich eine große Ehre. Es ist ein historischer Moment in meinem Leben!“ Wie Leo Tolstoi groß und kräftig gewesen zu sein scheint, war sein Enkel Sergei ebenso von stattlicher Gestalt. Er setzte sich auf die Couch, als habe er seinen großen Körper zusammenfalten müssen, und erzählte mir über die Beziehung zwischen der Familie Tolstoi und Japan:

„Wenn ich etwas von Japanern höre, empfinde ich ein Gefühl der Sympathie. Denn auch mein Großvater hatte am Orient, insbesondere an Japan ein großes Interesse. Zu meinem Großvater kamen ebenso japanische Schriftsteller. Zu ihnen zählte beispielsweise Tokutomi Roka (1868-1927).“

„Just ist mir eingefallen: Der russische Präsident Michail Gorbatschow (geb. 1931) hielt eine Rede im Parlament, als er Japan vor einigen Tagen zum ersten Mal besuchte, und sprach dabei über die Beziehung zwischen Ihrem verehrten Großvater und Tokutomi Roka.“

Seine Rede hielt er im April 1991, und die Zusammenkunft mit Herrn Sergei Tolstoi fand zwei Monate später statt.

„Ist das wahr? Bei seiner Rede im Parlament! Mir ist bekannt, dass der Präsident ein eifriger Leser der Bücher meines Großvaters ist. In Japan hielt sich meine Tante Alexandra etwa zwei Jahre lang auf . . .“

Trotzdem er nicht vieles erzählte, ließ es sich wohl vermuten, dass die Familie Tolstoi nach der bolschewistischen Revolution auf einem dornigen Weg hatte marschieren müssen. Viele seiner Kinder gingen in verschiedene Länder ins Exil und lebten getrennt voneinander.

Kampf im Gefängnis

„Schuldig! Eine Freiheitsstrafe von drei Jahren!“

Das Urteil wurde verkündet und Frau Alexandra ins Gefängnis geschickt. Das geschah 1920 während der Unterdrückung, die vielen Persönlichkeiten im kulturellen Bereich zugefügt wurde und die das „Ereignis des strategischen Zentrums“ genannt wurde. Im Chaos nach der Revolution litten die Menschen in höchstem Maße unter Hunger und Bürgerkrieg. Sie konnte nicht stillschweigend zusehen. Was sollte man tun? Was könnte man unternehmen? Einige Wenige tauschten ihre Meinungen aus. Nur aus dem Grund wurden sie als Antiregierungsaktivisten festgenommen.

Ein Staatsanwalt fragte sie: „Was haben Sie getan, während ein Treffen bei Ihnen zuhause stattgefunden hat?“ Sie antwortete darauf gelassen: „Ich habe den Samowar vorbereitet.“ Nur wegen dieser Aussage wurde sie für schuldig erklärt. Inklusive dieser Inhaftierung wurde sie insgesamt fünf Mal ins Gefängnis geworfen. Der kürzeste Gefängnisaufenthalt betrug zehn Tage, der längste über ein Jahr.

Das Stück Brot, das morgens im Gefängnis verteilt wurde, wog knapp 200 Gramm. Zudem war es ganz nass. Es war nur mit klein geschnittenem Heu belegt, das wie Tierfutter aussah, und es gab dazu nur eine Tasse wässrigen Tees. Zum Abendessen gab es einen getrockneten Süßwasserfisch. Weil er zu hart war, musste man ihn zuerst gründlich klopfen, um ihn weich zu machen, bevor man kaute. Die Suppe bestand aus tiefgefrorenen ungewaschenen Kartoffeln. Essen konnte man sie erst, nachdem der Schmutz auf den Boden des Behälters gesunken war. Zum Mittagsessen wurde ab und zu ein Brei aus Essenresten serviert. Die Matratze war mit Holzspänen gefüllt.

„Wie sehr sie in solch einem Gefängnis leiden muss!“ machten sich ihre Bekannten große Sorgen um sie. Jedoch blieb sie hochmotiviert: Für die Gefangenen organisierte sie eine „Kulturabteilung“ und veranstaltete munter literarische Vorlesungen so wie Konzerte.

Ich kann mir gut vorstellen, dass sie sich an die Worte ihres Vaters erinnerte: „Es würde wirklich nichts geben, was mir mehr Freude macht, als dass man mich ins Gefängnis, ins wirklich stinkende kalte, fürchterlich kalte Gefängnis wirft.“ Das ist ein Absatz aus den Memoiren „Die Erinnerungen an Tolstoi“, die sie in Japan verfasste.

Jedes Mal, wenn er erfuhr, dass die Menschen, die seinen Pazifismus in die Tat umsetzten, ausgewiesen oder nach Sibirien deportiert werden sollten, litt Tolstoi große Qualen darunter. „Warum wollt ihr nicht mich, den Urheber, ins Gefängnis werfen!“

Der Regierung des Zaren war aber bekannt, dass, wenn sie dies tun würde, sich im Inland ein Aufruhr ereignen und die öffentliche Meinung auf internationaler Ebene erregt würde. Tolstois Ansehen war mittlerweile riesig groß, sodass es selbst der Zar mit seiner Macht nicht mehr beschädigen konnte. Es hieß: „In Russland gibt es kein noch so großes Gefängnis, in das Tolstoi passt.“

Sie war die Tochter Tolstois, der sagte: „Wenn ich ins Gefängnis geworfen werde, ist das meine größte Freude.“ Die Inhaftierung war ihr Stolz. Der Wind der Verfolgung konnte ihr Feuer nur schüren.

„Vater hat es seit jeher vorausgesagt“, dachte sie. Über die Menschen, die sich über die Barbarei der Regierung beklagten und die Notwendigkeit der Revolution leidenschaftlich predigten, schüttelte er seinen Kopf: „Die neue Regierung wird auch dasselbe fortsetzen. Das Problem liegt sicher nicht im politischen System . . .“ (aus „Memoiren“)

Solange die Menschen sich selbst nicht revolutionieren, kann sich die Gesellschaft auch nicht verbessern, sagte er. „Kann der Wassertopf sauber bleiben, wenn nur der Behälter ausgetauscht wird, obwohl das Wasser trüb ist?“

„Vater“, dachte sie, „hatte Recht, denn die Lage ist noch schlimmer geworden als früher!“

Vor dem Ausbruch der Revolution verteilte sie das Grundstück der Familie Tolstoi unter den Bauern. Diese Tat erfolgte ebenso nach der Lehre ihres Vaters. Die Bauern vergaßen diese Güte nicht. Obwohl zur Zeit der Revolution in vielen Dörfern die Häuser der Grundstücksbesitzer durch Bauern überfallen wurden, blieb die Familie Tolstoi davon völlig verschont.

Nichtsdestotrotz wurde ein Grundstück, das extra zum „Eigentum der Bauern“ geworden war, durch die Revolution wiederum zum „Eigentum der Regierung“. Obwohl sie dagegen vehement protestierte, wurde ihr Einspruch nicht angenommen. Den Bauern wurden selbst geringe Ernten immer häufiger weggenommen. Verbargen sie etwas davon, dann wurden sie sofort erschossen. Übers ganze Land breitete sich eine Hungersnot aus.

„Gerade das kann ich nicht zulassen!“

Wer aufstand und ihre Freilassung verlangte, waren ebenso Bauern, die sich nach Frau Alexandra sehnten, als sie verhaftet wurde. Sie baten einflussreiche Persönlichkeiten darum und konnten ihre Freilassung erreichen. Frau Alexandra, die entlassen wurde, kehrte in ihre Heimat Jasnaja Poljana zurück, um das Haus ihres Vaters als Tolstoi Museum umzugestalten. Darüber hinaus fing sie an, eine „Tolstoi Gedenkschule (eine siebenjährige Grundschule zusammen mit einer Berufsschule)“ aufzubauen und ein Hospital mit über 200 Betten einzurichten.

Selbst wenn man vorhat, eine Schule oder ein Krankenhaus zu errichten, braucht man zuerst Ziegel. Um Ziegel zu brennen, benötigt man Öfen.

Sie musste erst damit beginnen, einen Ofen zu bauen und im Wald Holz zu fällen. Sie scheute keine Mühe. Außer der Zeit des Schlafs war sie immer mit etwas beschäftigt. Was sie in ihrem Kopf hatte, war einzig und allein, „den Gedanken ihres Vaters geradewegs in die Tat umzusetzen“. Sie war fest entschlossen, ihres Vaters Kampf an seiner Stelle bis zum Ende durchzuführen!

Unter den Schülern Tolstois gab es auch solche, die sich flink den Zeiten anpassten, indem sie in verlogener Weise behaupteten, „Die Zeit hat sich geändert“ und ihren Meister zur „Person der Vergangenheit“ machten. Und manche andere zitierten aus den Werken Tolstois nur solche Stellen, die ihnen passten, um sich zu rechtfertigen. Das alles beobachtete sie ganz genau.

Ah, gemein! Verächtlich! Niederträchtig!

Vergaßen sie denn jetzt schon das Herz ihres Meisters! Was war das, dass sie ihn so übertrieben „Herr Tolstoi“ oder „Meister Tolstoi“ nannten? Wollten sie nur das Ansehen meines Vaters ausnutzen, um ihr eigenes Aussehen zu zieren?

Es war ebenso Alexandra, die sich Mühe gab, die korrekten Gesammelten Werke Tolstois einschließlich der unveröffentlichten Manuskripte herauszugeben. Das war eine Arbeit, die nur sie allein schaffen konnte, da sie schon mit etwa 18 Jahren, quasi anstelle einer Sekretärin ihres Vaters, beim Reinschreiben der Manuskripte oder Abschreiben der Diktate half. In einem ungeheizten Zimmer unter klirrender Kälte setzte sie ihre Arbeit dafür fort, auch während sie gegen die Regierung kämpfte, die ihre mühsame Arbeit stetig zu verhindern versuchte. Dennoch sagte sie zu sich: „Verhafte mich, wenn du willst!“

Ich übernahm und ererbte die Überzeugung meines Vaters! Die Philosophie meines Vaters! Das Ziel meines Vaters!

Die spirituelle Bindung ist edler als die einer Blutsverwandtschaft. Denn wenn es nur um die Blutsverwandtschaft geht, das gibt es auch in der Tierwelt. Leo Tolstoi und Alexandra stellten eine „durch die Seele verbundene Vater-Tochter-Beziehung“ dar.

Die Verwaltung des Museums, der Schule und des Hospitals konnte mit der Unterstützung des Kultusministers Anatoly Lunacharsky ohne große Probleme geleistet werden. Aber nachdem man ihm die politische Macht entzogen hatte, fing die Regierung an, sich ungehindert einzumischen. Wladimir Lenin (geb. 1870), der sich gelegentlich Mühe gab, zu ihren Gunsten zu arbeiten, verstarb im Jahr 1924. Allmählich machten sich Auswirkungen der „Ära Stalins“ immer mehr bemerkbar.

Und schließlich kam es, wie es kommen musste. Es hieß, dass man in ihrer wertvollen „Schule Tolstois“ Atheismus unterrichten und militärische Übungen durchführen sollte. Das war für sie unzumutbar. Sie wurde aufgefordert, eine Entscheidung zu treffen. Und sie fasste einen Entschluss.

Sie reichte bei der Regierung einen Antrag für eine Dienstreise nach Japan ein, mit der Begründung, „sich über die pädagogische Situation in Japan zu informieren und Vorträge zu halten“, und bekam somit eine Ausreisegenehmigung. Allerdings war sie sich innerlich darüber im klaren, dass sie nie mehr zurückkehren wollte. Die Heimat, in der die Seele ihres Vaters zurückblieb, zu verlassen, musste ihr unvorstellbar tiefe Schmerzen bereitet haben. Sie dachte aber, dass es von entscheidender Wichtigkeit sei, die Philosophie ihres Vaters nicht zu verdrehen.

Sie war keinesfalls ein Menschentyp, der engstirnig und unflexibel war. Im Gegenteil, sie war eine großherzige Person, die mit allen Menschen freundlich umgehen konnte. Während des Ersten Weltkriegs beispielsweise bot sie all ihre Kräfte für die Pflege der verwundeten Soldaten auf und wurde durch die Empfehlung derer, die ihren selbstlosen Charakter hochschätzten, zur Leiterin des medizinischen Betreuungsdienstes vorgeschlagen. Sie war sehr kooperativ und in der praktischen Durchführung besonders befähigt.

„Dennoch! Es gibt einen gewissen Punkt, an dem man auf alle Fälle nicht nachgeben kann. Zu einem Kompromiss wäre ich auch bereit. Ich würde ebenso in Kauf nehmen, auf die Zeit zu warten. Aber das alles ist nur dann sinnvoll, wenn man in sich ein Ideal verfolgt. Mühe und Ausdauer sollen die Ideale letztendlich realisieren. Wenn ich aber die Ideale meines Vaters selbst beschmutzen würde, wozu sind meine ganzen Anstrengungen dann noch gut? Und würden meine sämtlichen Bestrebungen dann zunichte gemacht?“

So betrat sie den Boden Japans. Am 18. Oktober 1929 fuhr sie in den Hafen Tsuruga in der Präfektur Fukui ein.

Obwohl ihr die fremden Gewohnheiten Japans und eine ständige polizeiliche Aufsicht schwer zu schaffen machten, konnte sie während der 22 Monate nach langer Zeit wieder ruhige Tage verbringen. Um Vorträge zu halten, besuchte sie Osaka, Tokio, Nagoya, Fukuoka, Arita, Gifu, Gunma, Kyoto, Kobe und Nagano. In Tokio mietete sie im damaligen Stadtbezirk Shiba eine Wohnung, später wohnte sie in Suginami.

Ashiya in der Präfektur Hyogo war damals ein ruhiges Fischerdorf. Hier mietete sie ein Haus und schrieb ihre Memoiren. Obwohl Shigeo Iwanami, der Besitzer des renommierten Verlags Iwanami, der sah, dass sie sich in finanzieller Not befand, seine Unterstützung anbot, nahm sie diese entschieden nicht an. Stattdessen verfasste sie ein Buch und bekam dafür ein Honorar.

Während ihres Aufenthaltes in Japan wurde sie von der sowjetischen Regierung dringlich aufgefordert, alsbald heimzukehren. Sie konnte von der japanischen Regierung keine Hilfe erwarten. Schweren Herzens besorgte sie sich eine Einreisegenehmigung für die USA und fuhr im Juli 1931 vom Hafen Yokohama ab.

„Vater! Ich werde nicht vergessen!“

Ich möchte hier nicht darauf eingehen, welche Probleme oder Schwierigkeiten sie nach der Ankunft in den USA zu überwinden hatte. Finanziell stand es sehr schlecht um sie, weil sie dem Testament ihres Vaters entsprechend auf alle Kopierechte verzichtete. Als sie auf einem Grundstück, das gespendet wurde, endlich das Zentrum der „Tolstoi Stiftung“ in New York errichten konnte, waren nach ihrer Ankunft in den USA bereits zehn Jahre vergangen.

Hier setzte Frau Alexandra ihre Hilfsaktionen fort, Emigranten aus Russland, Flüchtlinge aus allen Ländern und Waisenkinder zu betreuen. Die Zahl derjenigen, denen von der Stiftung geholfen wurde, beträgt bis heute 500.000 Menschen, sagt man. Das war für sie eine unbeschreiblich schwere Arbeit.

Leidende Menschen kamen endlos. „Aah!“, seufzte Frau Alexandra zuweilen. Schon wieder ein Krieg! Und wieder so viele Menschen, die auf der Flucht sind! Was für eine Welt ist das? Sie dachte: „Die Welt ist vom Materialismus vollkommen gefärbt. Bleibt jetzt nur noch ‚Finsternis’ übrig?“

Jedoch im Herzen Frau Alexandras leuchteten die unvergesslichen, nie zu vergessenden letzten Worte ihres Vaters. In jenem Spätherbst verließ Tolstoi seine Familie. Das bedeutete für ihn in Wirklichkeit eine Abreise auf der Suche nach einem Weg, eine Abreise, die nämlich als Entsagung des Gesellschaftslebens bezeichnet werden kann. Und auf diesem Weg war er an Lungenentzündung erkrankt und lag in der Behausung des Vorstehers der Bahnstation Astapovo. Alexandra und ihre ältere Schwester Tatjana, die auf die Nachricht hin nachkam, blieben ständig bei ihrem Vater und pflegten ihn.

Es war am Vortag seines Todes (6. Nov.). Alexandra schrieb:

„Sein Bett befand sich inmitten des Zimmers. Meine Schwester und ich saßen fast direkt daneben. Plötzlich richtete sich der Vater auf einen Schlag auf, sodass er beinahe aufrecht saß. Ich näherte mich ihm und fragte:

‚Soll ich das Kissen richten?’

‚Nein!’

‚Nein, das ist nicht nötig. Ich möchte euch nur eins sagen, das Ihr für immer in eurem Herzen bewahren sollt.’

Ihr Vater sprach jedes einzelne Wort klar und deutlich aus:

‚Auf dieser Welt gibt es außer Leo Tolstoi eine große Schar Menschen. Trotzdem richtet Ihr eure Aufmerksamkeit nur auf mich allein.’

Nachdem er dies gesagt hatte, legte er sich wieder hin. Das waren die letzten Worte, die unser Vater zu uns sagte.“

Rettet Menschen, meine Töchter! Diese Worte entschieden ihr Leben. Jawohl, Menschen sind geboren, weil sie eine Aufgabe zu erfüllen haben. Diese heißt, vielen leidenden Menschen zu helfen und ihnen zu dienen. Und sie sind geboren, um sich selbst dadurch zu verbessern. Sollte das der Fall sein, dann müssen wir weiter leben. Ich lebe weiter, welch leidvolle Schwierigkeiten mir auch immer zustoßen mögen.

Ich lebe. Ich werde leben. Ich werde weiter leben. Ich lasse mich nicht besiegen.

Denn ich bin „Tolstois Tochter“!

Damit fuhr sie in ihrer Handlung fort, die Welt der Dunkelheit zu beleuchten. Sie setzte ihr ganzes Leben lang ihre Arbeit hart und streng fort. Sie blieb unverheiratet und verstarb am 26. September 1979 im Alter von 95 Jahren (in New York). Die Tochter kehrte zu ihrem Vater zurück, nachdem sie munter, heiter und konsequent gekämpft hatte. Seit sie sich von ihrem Vater in jener Bahnstation verabschiedet hatte, waren 69 Jahre vergangen.

„Krieg ruft den nächsten Krieg hervor!“

Es ist leicht, in Friedenszeiten über den Frieden zu reden.

Leo (Lew) Tolstoi rief gerade inmitten des Kriegs nach dem Frieden: „Denkt nach!“

Außerdem ging es um einen Krieg, an dem sein eigenes Land beteiligt war. Es handelte sich um den russisch-japanischen Krieg. Ihm wurde nicht gestattet, selbst ein einziges Schriftstück darüber in Russland zu veröffentlichen.

Trotzdem konnte Tolstoi nicht stillschweigen. Denn er wusste, dass sein Schweigen zum Thema Krieg ein Befürworten bedeutete.

„Schon wieder ein Krieg, schon wieder ein unnötiges unbegründetes Leid, schon wieder ein Betrug und schon wieder Verdummung sowie Brutalisierung der Menschen. (...) Was soll das überhaupt heißen? Ist das ein Traum? Oder ist das die Realität?“ (aus „Besinnt Euch“)

In den Augen Tolstois schienen alle auf ein Mal ihre Besinnung verloren zu haben. Was machen sie denn? Die neunzehnjährige Alexandra Lvovna Tolstoi schreibt:

„Vater sagte: Es ist erstaunlich. (...) Das Christentum verbietet einem, Menschen zu töten. Der Buddhismus lehrt genau das gleiche. Dennoch sind Menschen beider Nationen, die an eine Religion glauben, die Mord verbietet, voller Hass entbrannt, streiten und töten sich gegenseitig.“ (aus „Memoiren an Tolstoi“)

In Wirklichkeit respektierten die Menschen beider Nationen eine neue Religion, den Nationalismus. Sie schreibt weiter: „Obwohl Vater versuchte, eine Zeitung durchzublättern, konnte er sich nicht darauf konzentrieren, weil die Artikel sein Herz extrem beunruhigten. ‚Ich kann sie nicht lesen’, sagte Vater. ‚Ich kann solche Artikel nicht lesen, die im Zuge des Strebens, bei der Bevölkerung Patriotismus hervorzurufen, brutale Ereignisse so darstellen, als ob sie etwa erhabene Angelegenheiten seien.’“ (aus „Memoiren an Tolstoi“)

Warum lassen sich alle Menschen von derart durchschaubarer „Sophisterei“, „Lüge“ und „Aufdrängung“ so leicht täuschen?

Verstehen sie denn nicht, wie oft sie, einschließlich der Menschen, die eine höhere Schulausbildung erhielten, von einer Institution wie die Regierung wiederholt angelogen werden, nur um den Kriegsbeginn zu rechtfertigen?

Warum können sie ein Gemetzel unter Familienangehörigen, nämlich der Menschheit, unterstützen? Auch einschließlich derjenigen Menschen, die bis gestern die Grausamkeit, Unnützlichkeit und Dummheit des Kriegs predigten!

Sein Ton war heftig und von Dringlichkeit erfüllt. Angesichts der Tatsache, dass man vor den Augen der Menschheit unzählige unschuldige Menschen in die Lage drängt, hemmungslos zu massakrieren. Wie hätte er zu solch einer Zeit mit einem unbekümmert kritischen Ton reden können! Er war 75 Jahre alt und von entschlossenem Geist erfüllt.

„Es hieß, dass ausgerechnet Nikolaus II (1868-1918), der russische Zar, der alle Länder der Welt zum Frieden aufrief, trotz seiner herzlichen Bemühung (in Wirklichkeit war es eine Bemühung, ein okkupiertes Land der anderen Nation mit militärischer Gewalt zu verteidigen) vor der Weltöffentlichkeit einen Befehl erteilte, gegen die japanische Armee, die Russland angriffen hatte, das gleiche zu tun, nämlich zu töten. (...) Genau dasselbe erklärte der japanische Kaiser gegen die Russen.“ (aus „Besinnt Euch“)

Die beiden Seiten behaupteten: „Es geht um die Verteidigung.“ Die Bevölkerung beider Nationen wurde ebenso belehrt. Insbesondere wurde in Japan konsequent Propaganda gemacht, sodass der japanisch-russische Krieg (1904-1905) für die „Subjektivität“ der meisten Japaner unmissverständlich einen „Verteidigungskrieg“ bedeutete.

Jedoch war er für die Menschen in China, das zum Hauptschauplatz des Kriegs wurde, sicher etwas ganz anderes, als was auf den beiden Seiten gesprochen wurde.

„Der japanisch-russische Krieg war ein Krieg zwischen den beiden Imperialismen, bei dem Japan und Russland über die Herrschaft von Korea und den drei nordöstlichen Provinzen Chinas stritten. Der Krieg fand hauptsächlich auf chinesischem Boden statt und dauerte etwa anderthalb Jahre. Beide Länder zwangen Chinesen zum Militärdienst und zerstörten alle Städte, Brücken und Häuser, die ihren militärischen Handlungen im Wege standen.

Es geschah nicht nur, dass man die im damaligen China noch geringfügig erhaltenen Hegemonien schonungslos mit Füßen trat, sondern auch, dass es in diesen drei Provinzen unzählige Menschenleben kostete und erheblicher Schaden angerichtet wurde. Überdies starben unter dem Kriegsfeuer zwischen Japan und Russland zigtausend Chinesen, ohne zu wissen, warum sie sterben mussten, oder ihnen wurde ein sonstiger physischer Schaden zugefügt.

Zahllose Häuser wurden in Brand gesetzt, der Bevölkerung wurden Nahrungsmittel weggenommen und das Getreide, das kurz vor der Ernte stand, wurde entweder verwüstet oder als Futter benutzt. Die ersehnte Ernte war quasi Null. Und die Städte wie zum Beispiel Lüshun, in der Japan und Russland am heftigsten kämpften, verwandelten sich in eine öde Landschaft, die danach genannt wurde: ‚Über tausend Meilen in Länge und Tiefe ist kein einziger Grashalm mehr übrig geblieben.’

Außerdem massakrierten Soldaten der japanischen Armee während des Kriegs unter dem Vorwand, russische Spione festzunehmen, willkürlich zahlreiche Chinesen oder plünderten sie aus. Die russische Armee verübte, in dieser Beziehung auch nicht weniger als die japanische Armee, überall die übelsten Untaten, das Getreide in Brand zu setzen, Frauen zu vergewaltigen und Haustiere zu rauben.“ (aus „Die moderne Geschichte Japans von China aus gesehen“)

Das war die Realität des „Kriegs der Gerechtigkeit“.

Täusche nicht die Realität!

Leo N. Tolstoi setzte konsequent fort, zu sagen: „Wende deine Augen nicht vor der Realität ab!“ Zuerst lehnte er es ab, „die reale Grausamkeit mit vornehmen Worten zu täuschen“. Er nannte „Krieg“ „gegenseitiges Töten“, „Waffen“ „Werkzeuge zum Mord“ und „Militäranlagen“ „Anlagen, die Menschen zu töten helfen“. Nach Tolstoi wurden „glorreicher Kriegsschauplatz“ zu „Schlachtfeld“, „ruhmreiches Kriegsschiff“ zu „brutaler, törichter Tötungsmaschine“ und „Generäle mit hohen kriegerischen Verdiensten“ zu „Meistern der Tötung“.

Selbst wenn man lapidar sagt, „Wir führen einen Krieg“, bedeutet das einen Massenmord. Tolstoi forderte einen damit stark auf, darauf aufmerksam zu werden. Und wenn eine Gruppe von Menschen, außer dem Staat, einen einfachen Menschen durch eine Bombe tötet, ist das doch ein großes Verbrechen. Aber wenn ein Staat einen einfachen Menschen durch Bombardierung tötet, wird das oft als „Durchführung der Gerechtigkeit“ bezeichnet. Wenn wir von einer Lüge des Wortes „Staat“ getäuscht werden, besteht die Möglicht, die „Realität“, ein Gemetzel, als etwas anderes als ein Gemetzel zu sehen. Tolstoi wollte diesen „Betrug der Worte“, der uns dazu führt, die Realität, so wie sie ist, nicht mehr realistisch wahrzunehmen, unbedingt enthüllen.

Er warf seine zweifelnden Blicke ebenso auf „Rechtswissenschaftler“. Obwohl sie versuchten, zu beweisen, dass „dieser Krieg vom Verfahren her nicht gesetzwidrig sei“, sagte Tolstoi vehement: „Was ist das für ein Verfahren! Mord bleibt trotz aller Verfahren Mord.“

Ebenso energisch widersetzte er sich der Todesstrafe. So zu sagen, war Tolstoi wie ein Junge, der rief: „Der König ist nackt!“

Obwohl alle es innerlich „merkwürdig“ fanden, dachten sie: „Wie dem auch sei, ich kann nicht begreifen, was wirklich Sache ist. Aber weil so viele gesellschaftlich höher gestellten Leute es befürworten, muss es schon juristisch trächtige Gründe geben. Schaut mal zu! Viele berühmte Wissenschaftler, Juristen und Politiker debattieren über sehr diffizile Themen. Weil sie sich dermaßen kompliziert ausdrücken, müssen sie bestimmt sehr intelligent sein. Und weil solch intelligente Leute sagen, ‚Nun ein Krieg, es gibt keine Alternative! Der Friede ist nur eine optimistische Idee’, müssen sie doch Recht haben . . . Trotz alledem frage ich mich, warum man Kinder und Frauen, die damit überhaupt nichts zu tun haben, umbringen muss. Ich kann das ganz und gar nicht verstehen . . .“

In solch einer Lage erschien jemand, der behauptet: „Der König ist nackt.“ „der Krieg ist das absolute Böse.“

Tolstoi sagt: „Verstärkung des militärischen Potenzials ist eine Art Epidemie! (...) Krieg selbst ruft den nächsten Krieg hervor, und diese Maschinerie setzt sich unendlich fort. Ein Land, das einen Krieg gewann, wird vom Sieg trunken sein und nach weiterem Sieg trachten, während ein anderes Land, das den Krieg verlor, nach einer Niederlage umso eifriger versucht, seinen Ruhm und Verlust wieder zurückzugewinnen.“ (aus „Besinnt Euch“)

Gewalt gegen Gewalt – das bringt einen bösen Kreislauf hervor. Tolstoi appellierte: „Anstatt zu streiten, soll man sich mehr Mühe geben, sein Land dahingehend zu entwickeln, dass es von allen anderen Ländern geliebt und respektiert wird und selbst ein gutes Vorbild wird!“

Manche Menschen machten Leo Tolstoi lächerlich. Obwohl ihnen eigentlich nicht unbekannt sein sollte, wie eine Person, die einen Roman wie „Krieg und Frieden“ verfasste, sich in der Härte und Strenge der internationalen Politik nicht auskannte.

Im Gegensatz dazu, in einer Zeit, in der die Mehrheit der Menschen auf einen Krieg zu marschiert, ist nichts opportunistischer und sorgloser als Krieg zu befürworten, vor allem, wenn man nicht selbst an die gefährliche Front zu gehen braucht.

Laut Tolstoi bedeutete die zivilisatorische Öffnung Japans (1867) eine moralische Verdorbenheit, dass „Japaner, die das Hässliche Europas gänzlich nachahmten und völlig verwirrt waren, sich vorstellten, durch eine Aneignung der Tötungskunst noch mehr zu Zivilisationsmenschen geworden zu sein“.

Seine Ansicht lag im Gegensatz zu den Beobachtungen der meisten Europäer. Hierüber schreibt Okakura Tenshin (1862-1913): „Europäer betrachteten Japan als ein barbarisches Land, während es in der friedlichen Kunst und Literatur versunken war. Aber sie nennen nun Japan ein zivilisiertes Land, seitdem es in der Mandschurei (China) ein großes Massaker verübte.“ (aus „Buch vom Tee“)

Dr. Sergei Tolstoi, Enkel des großen Schriftstellers, äußerte sich in ernstem Ton: „Was ist Zivilisation? Mein Großvater war der Ansicht, dass allein ‚Gewaltfreiheit’ Zivilisation offenbart. Zusammenstoß von Macht entspricht der Gesetzmäßigkeit der Tierwelt. Ich möchte mit Ihnen und Ihren Mitgliedern der SGI zusammen eine gewaltfreie Welt aufbauen.“

Herr Sergei scheint mir, auch aus seinen eigenen Erfahrungen heraus tief bewusst gewesen zu sein, wie unvernünftig sowie ungerecht Gewalt ist.

Er wurde einige Monate, nachdem der große Tolstoi verstorben war (1911), geboren. Als er sechs Jahre alt war, brach die Oktoberrevolution aus. Sein Vater Michail Tolstoi schickte ihn in den Kaukasus, um seine Familie vor dem Aufruhr zu beschützen. Jedoch verfolgte ihn das Chaos der Revolution auch bis in den Kaukasus. Nahrungsmittelknappheit: weißes Brot verschwand. Erst nach mehrstündigem Warten in der Schlange konnte man höchstens einen kleinen Brocken Brot ergattern. In diesem Überlebenskampf waren die Augen der Menschen mit Blut unterlaufen.

Eines Tages kam eine Gruppe Soldaten der Roten Armee in schmutzigen Uniformen zur Hausdurchsuchung. Sie waren betrunken und besaßen Gewehre. Sie kehrten Matratzen im Schlafzimmer um und machten Schränke auf. Sie versuchten seinen Vater zu verhaften, der verdächtigt war, an der Seite des Zaren zu stehen. Um Informationen zu erpressen, nahmen sie einfache Menschen als Geisel und folterten sie wiederholt. Er hatte auch einen Bekannten, dessen Familie nach der Festnahme erschossen wurde.

Als der junge Sergei eines Tages allein auf der Straße ging, packte ein Soldat ihn am Hals, indem er ihn mit wilder Stimme fragte:

„Hei, du! Wo ging dein Vater hin?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte der Junge stockend.

Dann stieß ihn der Soldat weg. Nach einigen Tagen kamen 5, 6 Soldaten wieder zu ihm nach Hause, holten seine Mutter aus dem Haus, pressten sie an die Hauswand und fragten sie drohend:

„Wo ist er? Wenn du nicht antwortest, erschieße ich dich!“

Die Mutter schaute ihnen direkt in die Augen und sagte:

„Ich weiß gar nichts!“

„Wir kommen wieder! Drecksweib!“ fluchten sie, schlugen der Mutter und dem Kind ins Gesicht und gingen weg.

Im Jahr 1919 verstarb seine Großmutter Sophia, Ehefrau des großen Tolstoi. Sein Vater, der nicht zu ihrer Beerdigung gehen konnte, wurde trübsinnig. Auch die Zarenfamilie wurde ermordet (1918). Die Familie des jungen Sergei entschied, ins Exil zu gehen. Dichtgedrängt in einem Wagon fuhren seine Eltern, Großeltern mütterlicherseits und Cousinen. Der Zug fuhr schleppend langsam und hielt oft an. Nachdem sie in ein Schiff umgestiegen waren, mussten sie unter dem Sturm leiden und dazu noch eine demütigende Behandlung erdulden. Nachdem sie ihren Aufenthaltsort mehrmals geändert hatten, kamen sie erst Ende 1921 in Frankreich an, wo ihre Verwandten wohnten. Der kleine Sergei wurde inzwischen 10 Jahre alt.

„Ich stehe an der Seite der Menschen“

„Mit Gewalt kann man nichts lösen, gar nichts! Es ist wichtig, dass sich Menschen selbst durch Kultur und Erziehung entwickeln. Auch in diesem Sinne freue ich mich sehr darüber, dass dieses ‚Viktor Hugo Museum’ eröffnet worden ist.“

Vom Fenster aus, an dem ich mich mit Herrn Sergei unterhielt, konnte ich das junge Grün im Juni sehen. Hier (in der Stadt Bièvres) ist ein Ort, den Hugo liebte und öfters besuchte, um an seinen Dichtungen zu feilen.

Hugo stand auch wie Leo N. Tolstoi an der Seite „derjenigen, die durch Krieg getötet wurden“. Sein Meisterwerk „Das Jahr 1793“ stellt eine Szene dar. Inmitten des grausamen Bürgerkriegs wurde eine Frau von einem Unteroffizier gefragt:

„Mit den Blauen? Mit den Weißen? Zu wem stehst du?

Ich stehe zu meinen Kindern, antwortete sie.“

Als Tolstoi vom Journalisten einer amerikanischen Zeitung interviewt wurde: „Welches Land unterstützen Sie? Japan oder Russland?“

„Ich unterstütze kein Land. Ich unterstütze nur die Arbeiter der beiden Länder, die von ihrer Regierung betrogen, gegen ihr Gewissen, gegen ihre eigene Religion und dazu noch gegen ihr eigenes Glück zum Kämpfen gezwungen sind“, so Hugo.

Gegenüber einer französischen Zeitung erzählte er: „Was soll für mich das Volk bedeuten? Ich stehe zu den Menschen.“

Etwa um die gleich Zeit hielt sich der junge chinesische Schriftsteller Lu Xun (1881-1936) wegen seines Studiums in Sendai, einer Stadt nördlich von Tokio, auf und sympathisierte mit der Einstellung Tolstois, sich weder mit Japan noch mit Russland zu vereinen.

Tolstoi, Hugo und Lu Xun standen alle zur „Realität der Seite derer, die getötet werden“, im Gegensatz zu der „Seite derer, die töten“. Aus dem Grund wurde Tolstoi ununterbrochen von Kritik verfolgt.

Sie sind im großen und ganzen unverantwortlich, wenn Sie jetzt, während die beiden Staaten gerade heftig kämpfen, zu keiner Seite stehen wollen!

Sagen Sie, dass man jenen Schurken Japan nicht angreifen soll!

Das ist doch kindisch und unrealistisch. Herr Tolstoi, es ist ganz anders als die Märchenwelt, über die Sie schreiben!

Das nennt man doch Sentimentalität!

„Jetzt können wir uns keine Sentimentalität erlauben. Wir müssen kämpfen. Wir müssen den heimtückischen Japanern einen großen schmerzhaften Schlag versetzen und ihnen Furcht einflößen. Jetzt endlich müssen unsere Kreuzer zum Angriff auslaufen, um die Städte Japans in Schutt und Asche zu legen und ihre schönen Küstengebiete zu verwüsten. Wir sind schon lang genug sentimental gewesen!“ (aus einem „Zeitungsartikel“ im Buch „Besinnt Euch“)

Für sie bedeutete das Klagen darüber, dass Kinder und einfache Menschen in Japan sterben, nichts anderes als eine „sentimentale Gesinnung“. Es ist nichts zu machen, denn sie sind nun mal Leute vom „bösen Land“!

„Nationalismus ist eine Häresie“

Jedoch für Tolstoi war jeder Krieg, unabhängig davon, in welchem Land er stattfand, das „realistischste Problem, an dem er hier und jetzt schmerzhaft leiden muss, dass ‚meine Familienangehörigen’ einer nach dem anderen umgebracht werden“. Zwischen ihren „wahren Empfindungen“ bestand eine unüberbrückbare Distanz, und diese war weiter und größer als jede „theoretische Differenz“.

Nun aber, wie kommen die Menschen zu der Ansicht, dass das Leben der Ausländer geringer als das der eigenen Landsleute zu schätzen ist? Dazu sagt Tolstoi: „Das ist das Gift der Häresie, des Nationalismus.“ Er zitierte oft die Worte des französischen Philosophen Blaise Pascal (1623-1662): „Angenommen, ein Mensch wohnt am anderen Ufer eines Flusses. Wie kann es denn überhaupt möglich sein, dass er das Recht hat, mich umzubringen, obwohl ich nicht im geringsten daran denke, mit ihm zu streiten, nur deswegen, weil sich der König seines Landes mit dem König meines Landes in Zwietracht befindet? Gibt es eine Geschichte, die noch lächerlicher ist als diese?“

Man sperrt die Menschheit, die eigentlich Geschwister sind, in einen Käfig, den „Staat“, ein und separiert sie von den Menschen, die auch in anderen Käfigen gefangen sind, um ihr Bewusstsein zu tilgen, dass sie alle zur gleichen Menschheit gehören.

„Infolge derart fürchterlicher Häresie fangen Menschen an, sich gegenseitig zu quälen, umzubringen und zu berauben. Wir können uns von dieser Häresie erst dann befreien, wenn wir den allen Menschen innewohnenden Ursprung des geistigen Lebens in unserem Inneren erkennen.“ (aus „Der Weg des Lebens“)

Aus dem Grund fordert er uns dazu auf, zum „wahren Ursprung des ewigen Lebens“ zu erwachen, dem absoluten „Gesetz des Lebens“ zu folgen und uns darauf besinnen, wozu wir geboren sind. Dann werden wir keinen Krieg mehr führen können. Welche Organisationen wir auch immer aufbauen mögen, ohne eine Reformation dieses Bewusstseins der Menschheit, kann nichts funktionieren.

Hier habe ich nicht die Absicht, über Recht und Unrecht des Tolstoismus ausführlich zu schreiben. Dafür stände mir auch nicht ausreichend Platz zur Verfügung.

Dennoch gab es unter den Menschen, die seiner Ansicht, die militärische Macht zu verneinen, nicht zugestimmt hatten, auch solche, die mit der Zeit einsahen und behaupteten: „Ich halte zwar die Militärgewalt für notwendig, dennoch bleibt die Tatsache, dass die Militärgewalt böse ist, unverändert.“ Aber dieses Verständnis verlagerte allmählich seinen Schwerpunkt: „Obwohl die Militärgewalt böse und schlecht ist, ist sie doch notwendig.“ Und schließlich veränderte es sich sprunghaft: „Da die Militärgewalt notwendig ist, ist ihre Anwendung sicher nicht böse und schlecht.“

Takuboku Ishikawa (1886-1912), der japanische Dichter, der einen Artikel Tolstois las, der dem japanisch-russischen Krieg widersprach, schrieb: „Das ist ausgezeichnet, jedoch nicht durchführbar.“

An dieser Stelle aber meldete sich ein Mensch mit seiner ganzen Überzeugung: „Es ist doch durchführbar. Nein, es gibt keine andere Methode, als diese.“ Dieser war Mahatma Gandhi, (1869-1948). Und nach ihm stand in den USA Dr. Martin Luther King Jr. (1929-1968) auf, um die Rassendiskriminierung abzuschaffen.

Sowohl Gandhi als auch Dr. King waren äußerst realistische Anführer. Gerade deshalb konnten sie dadurch, dass sie die Kraft des Geistes, die „existierende stärkste Kraft“, hervorbrachten, die Gesellschaft auf ein Mal total verändern. Wer an diese Kraft nicht glaubte, lachte darüber und meinte, Gewaltfreiheit sei ein Idealismus. Solche Behauptungen von Menschen, denke ich, sind in die selbe Kategorie der Arroganz derjenigen, die gar nicht bereit waren, Tolstois Stimme offen zuzuhören, einzuordnen. Aus dieser „Arroganz“ entstand der Tod von zig Millionen Menschen, nein, hunderttausend Millionen Menschen.

Vier Jahre nach dem Tod Tolstois brach der Erste Weltkrieg aus, und dann der Zweite Weltkrieg. Eine ständige Eskalation der Gewalt mit Nuklearwaffen und eine unaufhaltsame Ausbreitung von lokalen Kriegen. Die Warnung Tolstois, „Wenn alles unverändert weiter geht, wird ein zerstörender furchtbarer Krieg kommen. (...) Der Abgrund ist nahe zu sehen“, bewahrheitete sich. Durch den „Realismus“, sich auf die Militärgewalt zu verlassen, vermehrte sich die Zahl von Kriegen, anstatt abzunehmen. Das ist doch ein strenges Ergebnis der Beweisführung durch Experimente in der Geschichte.

Was ist „der zu bekämpfende Krieg“?

Herr Sergei Tolstoi reiste im Jahr 1945, in dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, wegen seiner Forschung in die USA und besuchte seine „Tante Alexandra“. Er war tief bewegt. Vor ihm befand sich das Antlitz seines zwei Jahre zuvor verstorben Vaters Michail. Und ihre Geste, die Hände zusammenzufalten, kam der seines Großvaters, den er nur auf dem Photo sah, vollkommen gleich! „Meine Tante war bescheiden gekleidet. Sie überschritt bereits das 60. Lebensjahr und hatte weiße Haare. Jedoch erschien sie jung und voller Zuversicht. Ich spürte in ihr einen stattlichen Charakter.“

Aus ihrem Wesen wehte die charakteristische Erhabenheit seines Großvaters, dem er nicht direkt begegnet war. Dort lebte und klang der Hauch des Idealismus Tolstois. Er fand, er (Leo Tolstoi) war in der heißen Strömung, die seiner Tante entsprang, die beschwor und diesem Schwur entsprechend lebte:

„Vater, ich vergesse nicht, deine Lehre und deinen Traum.“

Durch sie rief er noch weiter. Jener Ruf, der aus vollem Halse kam:

„Der gegenwärtige große Kampf weist weder auf den Kampf, der jetzt zwischen Japanern und Russen stattfindet, noch auf einen Kampf hin, der sich zwischen weißen und gelben Rassen eventuell künftig ereignen kann, und auch nicht auf einen Kampf, der durch Landminen, Bomben oder Gewehre durchgeführt werden kann, sondern es ist zu Recht ein Kampf, der zwischen dem gerade jetzt wachsenden Bewusstsein, dass alle Menschen Geschwister sind, einerseits und der Dunkelheit und dem Leiden, die Menschheit einzusperren und zu unterdrücken, andererseits.“

Das ist im wahrsten Sinne des Wortes der Kampf zwischen „Zivilisation“ und „Barbarei“.

Ich denke so.

(aus „Seikyo Shimbun“ vom 9. und 16. Februar 2003)

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