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Essay Nr. 35

„Die wunderbare Begegnung“ von SGI-Präsident Ikeda

Herr Shin Anzai,

Der Ehrenprofessor der Sophia Universität in Japan

Religionen existieren um des Friedens willen!

„Ich kann die Leiden der Menschen nicht einfach mit ansehen und sie im Stich lassen.“

Dieses brennende Mitgefühl war das Herz Shakyamunis. Und ich bin fest davon überzeugt, dass dies ebenfalls das Herz von Jesus sowie das von Mohammed war. Sie waren es, die zu denjenigen eilten, die litten, und ihnen die Hand der Hoffnung reichten. Sie waren diejenigen, die ihre Leiden teilten, indem sie mit ihnen zusammen trauerten und weinten.

Lasst uns zu diesem „Ausgangspunkt der Menschenliebe“, den die religiösen Gründer verkörperten, zurückkehren! Und Lasst uns die Erde, die durch die hasserfüllte Hitzewelle verwüstet worden ist, mit großen Strömungen der Liebe und Barmherzigkeit benetzen und zum Gedeihen bringen!

Herr Anzai und ich haben uns bei vielen Gelegenheiten mehrmals über solche Themen unterhalten. Der verstorbene Herr Anzai war ein Religionswissenschaftler, der Japan vertrat. Er war auch als frommer Katholik bekannt.

Selbst wenn wir unterschiedliche Religionen praktizieren, ist es jedoch unser gemeinsames Ziel, Frieden schaffen zu wollen. Angenommen, vor unseren Augen liegt ein Kind, das verletzt ist. Lasst es uns auf eine Trage legen! Unabhängig davon, zu welcher Glaubensgemeinschaft derjenige gehört, der es gemeinsam mit anderen trägt; geht es einzig und allein darum, dass das Kind gerettet werden muss.

Wenn man dabei denken würde, „ich kann mit ihm zusammen die Trage nicht halten, weil er eine andere Religion praktiziert“, scheint mir eine solche Engstirnigkeit eigentlich vom Herzen der Religionsgründer wohl am weitesten entfernt zu sein.

um die Menschen zum Glück zu führen

Nichiren Daishonin schreibt in einem Brief:

„Diejenigen, die den Menschen die Leiden nehmen und die Klagen der Menschen aufhören lassen, sind, selbst wenn sie vom Buddhismus nichts wissen, gewiss „Boten des Buddhas“. Obwohl sie sich dessen nicht bewusst sind, haben sie in ihrem Herzen die Weisheit des Buddhismus innegehalten.“

Shakyamuni war auch gleicher Ansicht und handelte dementsprechend. Als er eines Tages einen Kranken liegen sah, bereitete er selbst für ihn ein Bett aus Stroh, reinigte den Körper des Kranken, wusch dessen verschmutzte Kleidung und hing sie zum Trocknen auf. Dann bat er die Menschen, die dies aus der Nähe beobachteten, indem er sprach:

„Bitte kümmert euch sorgfältig um diesen Kranken. Einem leidenden Menschen zu dienen, ist gleich, als diene man dem Buddha.“

Den Menschen zu dienen, ist Buddhismus. Im „Verhalten“ der Menschen, sich um andere zu sorgen, offenbart sich und lebt das Gesetz des Buddhas. Es kommt nicht auf die äußere Erscheinung an, sondern es kommt auf die Herzen der Menschen an und auf ihre Handlung. Es geht um die Wirkung sowie um das Resultat. Dass die Menschen glücklich werden; das ist die Ganzheit des buddhistischen Gesetzes.

Aus diesem Grund erlaubte ich mir, dem vatikanischen Botschafter Wüstenberg, der die römisch-katholische Kirche vertrat, auch in Anwesenheit Herrn Anzais zu sagen (Tokio, 14. Juni 1972):

„Mein Wunsch liegt nirgendwo anders als darin, den Frieden in der Welt zu errichten und das Glück der Menschheit zu erschaffen. Wenn ich für den Frieden und die Sicherung der Welt offenherzig sprechen darf, wünsche ich mir, dass das Christentum seine Kraft für den Frieden immer mehr hervorbringen möge. Wenn es sich dahingehend noch stärker bemühen könnte, würde es uns diesbezüglich auch helfen. Auf jeden Fall müssen wir alsbald der Menschheit den Frieden bringen.“

Der in der Welt verbreitete Materialismus gefährdet uns

Obwohl meine Aussage sich überheblich angehört haben könnte, wünschten sowohl der vatikanische Botschafter als auch Herr Anzai, mit mir einen nicht-förmlichen offenherzigen Dialog zu führen. Auf ihr Ersuchen hin habe ich mich ferner dazu geäußert:

„Das 21. Jahrhundert wird finster sein, wenn wir jetzt gegen die sich in der Welt verbreitende Unreligiosität und den Materialismus nichts unternehmen und die spirituelle Welt nicht erweitern. Es sieht so aus, dass der Materialismus immer mehr die Oberhand gewinnt. Solange wir auf der Ebene der Politik, Wirtschaft und Technologie sowie Militär und Gesetz beschränkt bleiben, wird sich die spirituelle Welt der Menschheit verengen. Daraus kann keine geistige Kraft, die ursprüngliche Kraft für den Frieden, entstehen. Wir müssen die geistige Welt erweitern. Dafür ist der Dialog zwischen Religionen und deren harmonische Zusammenarbeit für den Frieden von großer Wichtigkeit. Allerdings von Gewinnsucht im Namen der Religion oder von Machtkampf ganz zu schweigen.“

„Wenn man dies aus der Ebene des Globus und des Universums betrachtet, bleibt die Politik in der sichtbaren physischen Ebene. Die Religion hingegen befasst sich mit der sich in einer höheren Ebene befindlichen Problematik. Um die Erde und die Menschheit zu beschützen, müssen wir die Situation dahingehend verändern, dass die geistige Welt die Gesellschaft anführen kann.“

Herr Ando stimmte mir zu:

„Ich bin ganz Ihrer Meinung. Da es noch so viele Menschen gibt, die gar keinen festen Glauben besitzen, ist es viel wichtiger, unser Augenmerk auf sie zu richten, als dass wir, die einen Glauben praktizieren, uns konfrontieren.“

Der Botschafter erwiderte:

„Auf der Erde haben noch viele Menschen keinen festen Glauben. Keinen festen Glauben zu besitzen, bedeutet, dass die Lebenskraft abnimmt und dadurch der Frieden geschwächt wird. Weil es im Herzen der Menschen keinen Frieden gibt, gibt es auf der Welt keinen Frieden. Es ist eine wunderbare Sache, dass man die Welt mittels Religion auf eine höhere Ebene bringt. Das ist es, woran wir gemeinsam arbeiten wollen.“

Das war die Aussage des Botschafters bei unserer vierten Begegnung.

„Wir haben auch die Verantwortung für diese Kinder“

Eine Szene, die Herr Anzai schrieb, kommt mir in den Sinn.

Die Philippinen: Es war in Manila im Juli. Das Licht in der sengenden Hitze erfüllte die ganze Stadt.

„Das ist aber ...!“

Herr Ando stand wie versteinert da. Denn die nackten Kinder liefen auf ihn zu, jung und barfüssig. Haben sie nichts, was sie an den Füßen tragen könnten? Nach einer Gabe suchend, streckten sie ihre kleinen ahornblattähnlichen Hände aus. Der große Gelehrte, der immer fröhlich und gesprächig war, befand sich einen Augenblick lang nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Er sagte jedoch zu sich selbst:

„Wir haben auch die Verantwortung für diese Kinder.“

Denn Japans Wohlstand basiert auf der Armut Asiens. Vor allen Dingen sind wir Menschen alle gleich, wir leben gemeinsam im selben Zeitalter und auf derselben Erde. Das war um 1988.

„Ich muss unbedingt irgendetwas tun.“

„Es geht nicht darum, ob irgendjemand anderer etwas tut! Nein, das ist doch unser Problem.“

Jedoch schien ihm, als ob die meisten Japaner mit solchen Dingen wie Eigenheimen, Schwankungen der Aktienkurse, Prüfungsergebnissen ihrer Kinder in der Schule voll beschäftigt wären. Herr Anzai war über die Verschlossenheit der Japaner voller Ungeduld.

Auch ich bin ungeduldig.

Macht eure Augen auf!

Hört zu!

Seht ihr nicht,

dass diese Erde von Kummer und Leiden der Menschen erfüllt ist!

Mütter und Kinder, die vor dem Gefechtsfeuer geflohen sind und auf der Suche nach einem Ort des Friedens ihre Füße durch die finstere Nacht schleppen. Kinder, die mangels Nahrung in den mageren Armen ihrer Mütter sterben. Und Kinder, die kaum älter als zehn Jahre alt sind und mit Gewehren in der Hand auf Menschen schießen lernen. Es gibt in den sogenannten fortschrittlichen Ländern auch Kinder, die ausdrucklose Augen haben, obwohl sie vom Überfluss umgegeben sind.

Andererseits sind die Erwachsenen davon besessen, beliebig egozentrische Theorien aufzustellen, sich gegenseitig zu beschimpfen und zu hassen. Sie vergrößern somit ihre Leiden immer mehr. Was hat solch eine bloße Theorie mit den Kindern gemein, die ihre Eltern verloren!

Selbst ein einziges Kind, das weint, sei es im Kriegsgebiet, sei es in der Stadt, zeigt, dass der Himmel, der die streitende Menschheit anschaut, weint. Das 21. Jahrhundert stößt einen Notschrei aus: „Hört schon auf damit!“

Gemeinsam auf der Suche

nach dem „Urbeginn der unendlichen Vergangenheit (Kuon-Ganjo)“

Während eines Gesprächs bei unserer ersten Begegnung sagte mir Herr Anzai:

„Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“

„Bitte, bitte.“

„Was ist es, das Sie, Präsident Ikeda, am meisten schätzen und wonach Sie am grundlegendsten suchen?“

Das war eine Frage, die direkt den Kern der Sache trifft. Ich antwortete:

„Das ist das Gesetz des ‚Urbeginns der unendlichen Vergangenheit (Kuon-Ganjo)’. Das ist das ewige Gesetz, das dem Universum zugrunde liegt.“

Er war zuerst einmal überrascht, und sein Gesicht drückte Erstaunen aus. Scheinbar sollte er vielmehr eine konkrete Antwort wie: „den Gohonzon“ erwartet haben. Jedoch im nächsten Moment lächelte er und sagte:

„Haben Sie gesagt; das Gesetz des Urbeginns der unendlichen Vergangenheit (Kuon-Ganjo)? Das kann ich verstehen und akzeptieren. Das kann ich mit Ihnen teilen.“

Möglicherweise spürte er in meiner Antwort die Allgemeinheit, die auch mit der katholischen Lehre zusammenhängt, und signierte in seinem Buch, das er für mich mitbrachte:

„Gemeinsam auf der Suche nach dem Beginn der unendlichen Vergangenheit“

Danach traf ich mich mehrmals mit ihm und erhielt zahlreiche Briefe. Stets ermutigte er mich aus vollem Herzen.

Religionen, die durch die Politik ausgenutzt werden

Religionen sind für den Frieden da. Warum aber dauert die Geschichte an, die uns den Eindruck hinterlässt, als schüre die Religion Feuer im Krieg? Das ist sowohl in alten Zeiten als auch in der Gegenwart das grundlegende Thema der Menschheit.

Herr Anzai machte sich mit großer Sorge auch darüber Gedanken. Er erzählte von einer Begebenheit, die sich bei einer internationalen Friedenskonferenz, zu der die Vertreter führender Weltreligionen eingeladen wurden, ereignete. (Italien, 1994)

Damals gab es in internationaler Ebene massive Kritiken, dass die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien aus „religiösen Gegensätzen“ entstanden seien. Zu diesen Themen wurde während der Konferenz stark argumentiert. Eine Teilnehmerin aus Kroatien meldete sich zu Wort:

„Wir sind die ‚Opfer der Politik’. Die politischen Führer benutzen zwecks ihrer eigenen Machtgier die Religion sowie die Kultur als ‚Ausrede’.“

Herr Yasushi Akashi war als Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen für die Lösung der Probleme des ehemaligen Jugoslawiens zuständig. Auch er kritisierte scharf:

„Das sind Kämpfe, die im Namen der Religion durchgeführt werden. Die politischen Führer bekräftigen Unterschiede, schüren den Hass unter den Menschen und rechtfertigen ihre grausamen Taten.“

Nicht Religionen, sondern politische Gruppen führen Krieg. Und um ihren Krieg zu rechtfertigen oder den Hass unter den Menschen zu schüren, benutzen sie die Religionen. Das war die scharfsinnige Feststellung Herrn Akashis.

Probleme sind sehr komplex. Sicherlich muss man mit der vereinfachten Äußerung über die Lage vorsichtig sein. Dennoch kommt es häufig vor, dass das wahre Wesen der sogenannten religiösen Konflikte eine Art Ausdruck der politisch und wirtschaftlich unzufriedenen Menschen oder ein konstruierter Konflikt ist, bei dem die Machthaber versuchen, ihre Macht noch weiter auszubauen.

Allerdings sehe ich keine Notwendigkeit, Religionen zu beschützen, da wir auch die Tatsache nicht übersehen können, dass manche von ihnen als „Lösung für Konflikte“ nicht von Nutzen sind. Was gesagt werden muss, ist, dass Religionen sich von der Politik nicht benutzen lassen dürfen.

Es gibt eine Redewendung: „Auch der Saturn zitiert die Bibel.“ Wenn man beabsichtigt, die Religion auszunutzen, kann man die jeweiligen heiligen Schriften ganz beliebig zu seinen eigenen Gunsten auslegen. Obwohl die Lehre des Gründers eindeutig ist, kann man die Erläuterung der Lehre wiederum zu seinen Gunsten beliebig interpretieren.

Selbst wenn man alles nach eigenem Gutdünken verändern könnte, war es der Wunsch der Gründer der Weltreligionen, dass sich die Menschheit gegenseitig tötet? Nein, ganz bestimmt nicht!

Der Botschafter Wüstenberg und Herr Anzai empfahlen mir, den Papst zu treffen. Wenn ich an das 21. Jahrhundert und die weitere Zukunft über mehrere hundert Jahre hinaus dachte, wünschte ich mir, für den Frieden die „Morgensonne des Dialogs“ zwischen Katholizismus und Buddhismus in irgendeiner Art und Weise entstehen zu lassen. Denn ich dachte, dass es meine Verantwortung ist, für die Jugend, die mir folgen wird, den Weg des „interreligiösen Dialogs“ und des „Dialogs zwischen den Zivilisationen“ anzubahnen.

Kurz danach erhielt ich eine offizielle Einladung aus Rom, somit wurde das Treffen mit dem Papst entschieden. Das war anlässlich meiner Europareise im Mai 1975. Aber unser Treffen konnte kurzfristig wegen des Widerstands der Nichiren Shoshu Priesterschaft nicht realisiert werden.

Herr Anzai starb am 1. Januar 1998. Ein Jahr vor seinem Tod gab er ein Buch heraus, das den Titel trug: „Vermächtnis für das 21. Jahrhundert“

Darin steht eine Stelle, die lautet:

„Wir wollen unser Leben eher dem Frieden widmen als der Auseinandersetzung opfern.“

Er führte sein Leben, wie er es sich wünschte.

Lasst uns in der Welt, die sich in der Finsternis verirrt, ein Licht leuchten!

Lasst in der Finsternis des Herzens der Menschen ein Licht leuchten!

Nur eine einzige Welle ist nicht genug.

Zehn Wellen sind auch nicht genug.

Lasst ein Licht der Menschenliebe leuchten,

in tausend, zehtausend Wellen

Und in weiteren tausend, zehntausend Wellen!

Bis zum Ende der Welt!

(Auszugsweise: am 14. Oktober 2001)

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