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Im Hinblick auf den „Weg des sinnvollen Lebens“

Präsident Ikedas Rede über Lew Tolstoi

(5) „Die Welt ohne Krieg!“ und „gewaltfreies Jahrhundert!“

Lasst alle Gewissen der Welt konzentrieren!

Das zwanzigste Jahrhundert – „das Jahrhundert des Kriegs“ machte seinen Vorhang auf. Menschen, die erwacht waren, suchten die Revolution. Konflikte brachen aus, und monströse Gewalt umschloss die Welt.

„Warum töten sich die Menschen gegenseitig? Warum?“

Ohne jegliche Beherrschung entfuhr Tolstoi dieser Schrei. Er erkrankte und redete irre: „Sewastopol brennt!“

Die Tragödie, die er vor 50 Jahren während des Krimkriegs mit anschauen musste, konnte er aus seinem Herzen nicht vertreiben.

Alle Menschen sind Geschwister

Im Jahr 1904 begann der japanisch-russische Krieg. Tolstoi reagierte sofort, schrieb einen langen Artikel „Besinnt Euch (Kommt zur Besinnung)“ und appellierte an die Menschen in Japan und Russland. Er dachte: Wenn es so weiter geht, wird die Menschheit blindlings auf den Abgrund zu marschieren und in die Tiefe stürzen, wenn man sie davor nicht anhalten kann. Eigentlich lehren sowohl Jesus als auch Shakyamuni, dass man keinen Menschen töten darf. Die Menschen wollten keinen Krieg mehr. Das Bewusstsein der Menschen ändert sich.

Er schreibt: „Der gegenwärtige große Kampf ist weder ein Krieg, der zwischen Japanern und Russen stattfindet, noch ist er ein Krieg, der sich in der Zukunft zwischen Menschen mit weißer und gelber Hautfarbe eventuell ereignen könnte, und er ist auch kein Krieg mit Minen, Bomben und Geschossen. Sondern es ist in Wirklichkeit ein Kampf des soeben erwachten Bewusstseins der Menschheit, mit der Dunkelheit und dem Leiden, die die Menschheit umgeben und unterdrücken. (aus „Besinnt Euch (Kommt zur Besinnung)“, sinngemäße Rückübersetzung)

Das Bewusstsein, dass alle Menschen Geschwister sind, dafür setzte Tolstoi seine ganze Seele ein. In der Zeit, in der es weder Internet noch Fernseher gab, kämpfte er darum, das „Herz der Weltbürger“ zu erweitern und das Gewissen der Menschheit zusammenzuführen. Er war die „spirituelle Säule“ der Welt und die „Stütze des Gewissens“.

Im Jahr 1905 ereignete sich der „Blutige Sonntag“ und es folgte die erste russische Revolution. Tolstoi allein blieb standhaft wie ein Dewa-König (Schutzkönig) und fuhr fort, gegen den sich herandrängenden schmutzigen Strom der Gewalt Widerstand zu leisten.

Mit „Ihr sollt keinen einzigen Menschen töten (sinngemäße Rückübersetzung)“ im Jahr 1907 und „Ich kann nicht schweigen (Über die Hinrichtungen in Russland)“ 1908 forderte er die Obrigkeit auf, die blutigen Bestrafungen und Vergeltungsmaßnahmen gegenüber den Revolutionären einzustellen. Tolstoi lehnte auf absolutem Pazifismus basierend jegliche Art von Gewalt ab.

„Das Herzensband“ kann nicht abgeschnitten werden

1908 wurde Tolstoi 80 Jahre alt. Mitten in der Zeit, in der ihn die Regierung verstärkt zu unterdrücken und zu kontrollieren versuchte, erreichten ihn zu seinem Geburtstag (28. August) viele Glückwünsche von Menschen aller Gesellschaftsschichten aus dem In- und Ausland.

„Dem Kämpfer, der alle Herzen der Menschen der ganzen Welt zusammenführte und um der Wahrheit willen ohne Unterlass aktiv ist“, schrieben die Arbeiter einer Moskauer Spitzenfabrik. Die Arbeiter einer anderen Fabrik schrieben gemeinsam: „Wir werden das Herz des Glaubens an den Sieg des Lichts über die Dunkelheit sowie an den Sieg der Wahrheit über die Täuschung nicht verlieren.“ Ungeachtet dessen, wie sehr die Obrigkeit versuchte, die Menschen einzuschüchtern, konnte sie das Band zwischen den Herzen der Menschen nicht zerschneiden. (aus „Lev N. Tolstoi, Biographie“, P. Birjukov, sinngemäße Rückübersetzung)

Das Leben wird durch den Glauben entschieden

Es bleibt nichts anderes übrig, als das Herz der Menschheit zu ändern! – Tolstoi überzeugte sich. Er widmete sich der Herausgabe einer „Sammlung von Sprichwörtern und Zitaten“, in der alte und neue Weisheiten aus allen Teilen der Welt enthalten sind. Für jeden Tag der 365 Tage des Jahres war ein Spruch oder Zitat vorgesehen. Darin spiegelte sich sein Wunsch wider, die Menschen Tag für Tag durch einen fruchtbaren Gedanken zu ermutigen.

Auch Tolstois eigene Gedanken fanden sich darin:

„Im Leben entscheidet der Glaube.“

„Alles hängt vom Gedanken ab.“

„Gutes Gefühl wird sich bald mit guter Tat verbinden.“

„Schlechter Gedanke wird uns unweigerlich in einen bösen Pfad hineinzerren.“

„Religion – sie ist eine für alle Menschen verständliche Philosophie.“

„Das Bewusstsein, dass alle Menschen Brüder und ohne jeglichen Unterschied gleich sind, verbreitet sich in der Menschheit umso stärker.“

„Dass man so wie heute in einer Zeit, in der sich viele verschiedene Völker der ganzen Welt rege austauschen, die Liebe nur seinem eigenen Land gegenüber predigt und auf die Bereitschaft für eine Kriegsführung mit dem Ausland hinweist, ist genau damit zu vergleichen, dass man unter den Menschen, die gegenwärtig freundschaftlich miteinander leben, predigt, sie sollten nur ihre Dorfgemeinschaft lieben und im jeweiligen Dorf eine Armee aufstellen und eine Festung aufbauen. Selbst die Vaterlandsliebe, die früher die Menschen eines Landes zur Vereinigung führte und andere ausschloss, kann die Menschen, die im modernen Zeitalter bereits durch Verkehrsmittel, Handel, Industrie, Studium und Forschung, Kunst und insbesondere moralisches Bewusstsein verbunden sind, nicht mehr zusammenfügen, sondern sie lediglich zerspalten.“ (sinngemäße Rückübersetzung)

Über Leben und Tod hinaus

Das letzte Ereignis im Leben Tolstois war die Flucht vor seiner Familie. Er wurde jedoch von einem Hausarzt begleitet. Kurz darauf schlossen sich ihm seine dritte Tochter und deren Freund an, und wenig später kamen auch die anderen Familienmitglieder. Aber warum verließ er seine Familie? Dazu gibt es verschiedene Vermutungen.

Die Flucht vor seiner Familie war ein Symbol für ein nicht zum Stillstand kommendes Leben. Auf alles – Reichtum, Ruhe, Sicherheit und Ruhm in der Gesellschaft – verzichten, dafür aber auf dem wahren Weg gezielt voranschreiten, hierin, denke ich, lag Tolstois Herz.

Vier Tage, bevor er sein Haus verließ, erreichte ihn ein Brief, in dem man ihn darum bat, einen Artikel gegen die Todesstrafe zu schreiben. Tolstoi schrieb ihn, nachdem er sein Haus verlassen hatte. Neun Tage danach verstarb Tolstoi auf der Bahnstation (Astapowo) an einer Lungenentzündung. Sein Sarg wurde von Menschen getragen. Kein Priester war zugegen. Mehrere Tausend von Jugendlichen, Bauern und Intellektuellen geleiteten ihn zur letzten Ruhe.

Es war ein verschneiter Tag, der 7. November 1910. Tolstoi war 82 Jahre alt. Er führte ein langes Leben, das in der heutigen Zeit dank der modernsten medizinischen Technik einer Lebensdauer von 100 Jahren gleichkommen würde. Sein letzter Artikel gegen die Todesstrafe erschien am 13. November unter dem Titel „Wirksames Mittel (sinngemäße Rückübersetzung)“. In der Tat fand Tolstois Kampf gegen die Gewalt kein Ende und ging über sein Leben und Tod hinaus.

Der letzte Eintrag in seinem Tagebuch: „Das ist mein Plan. ,Tue, was zu tun ist, was auch immer geschehen mag . . .’. Alles für das Glück anderer und besonderes um meines eigenen Glücks willen.“ (sinngemäße Rückübersetzung)

Ich handle für mein eigenes Glück und zugleich für das Glück anderer – das wurde sein letztes Schriftstück.

Um der Gleichgesinnten willen!

Der Tod eines Menschen, der sein Leben ohne Reue vollendet, ist so schön wie die Sonne, die feierlich untergeht. Wir möchten das letzte Kapitel unseres Lebens wie jene untergehende purpurrote Sonne erstrahlen lassen. Indem wir unseren Freunden das Licht der Hoffnung geben, möchten wir unseres in aller Ruhe bis zum Ende führen.

„Auch heute für Kosen-rufu!“

„Auch heute um der gleichgesinnten Freunde willen!“

Wer sein Leben mit dieser Einstellung bis zum letzten Augenblick geführt hat, wird ewig andauernde Wohltat erhalten. Wer zum Schluss gewinnt, ist der wahre Sieger.

„Die Gerechtigkeit geht nicht zugrunde“ „Die Wahrheit erlöscht nicht“

„Der Weg der Gerechtigkeit“ geht nicht zugrunde, und „der Weg der Wahrheit“ erlöscht nicht, solange ein „Löwe“ existiert, der den Staffelstab der Seele fest in seiner Hand trägt.

Tolstoi entzündete sein ganzes Leben lang das „Feuer der Hoffnung“ im Herzen der Menschen. Dieses Feuer konnte trotz der zwei Weltkriege im

  1. Jahrhundert nicht gelöscht werden.

Mahatma Gandhi (1869-1948), der gegen das monströse Übel kämpfte, das die Menschenrechte mit den Füßen tritt, befand sich gerade in einem südafrikanischen Gefängnis, als er Tolstois Werke las. Er, der von den gewaltfreien Gedanken Tolstois beeindruckt wurde, tauschte mit Tolstoi öfters Briefe aus. Zwei Monate vor seinem Tod schrieb Tolstoi einen Brief an Gandhi:

„Ihre Aktivitäten, die Sie in Transvaal durchführen, einem Ort, der uns wie am Ende der Welt liegend vorkommt, werden unter allen heute in der ganzen Welt stattfindenden Bewegungen zum unentbehrlichen, wichtigen Element.“ (sinngemäße Rückübersetzung)

Gandhi nannte eine der Farmen, die er in Südafrika betrieb, „Tolstoi-Farm“. Aus seinem tiefen Wunsch heraus, diese zur wunderbaren Farm zu machen, über die sich Tolstoi, den er sehr respektierte und liebte, freuen möge. In Südafrika und auch später, als er nach Indien zurückgekehrt war, setzte Gandhi sein ganzes Leben für den gewaltfreien Kampf ein. Die Flamme des Geistes weitete sich aus.

Bald stand auch in den USA ein junger Mann auf: Dr. Martin Luther King Jr. (1929-1968), ein mutiger Mann, der die Bürgerrechtsbewegung anführte. Er sagte:

„Nach langjähriger Suche habe ich zum ersten Mal eine Methode für eine Reform der Gesellschaft in Liebe und Gewaltfreiheit gefunden, so wie es Gandhi betonte.“ (sinngemäße Rückübersetzung)

Auch heute einen weiteren Schritt!

Memphis, eine Stadt der USA, in der Dr. King durch ein Attentat fiel: In diesem Ort gibt es einen Menschen, der das Ideal der Gewaltfreiheit weiter trägt. Es ist Dr. Arun Gandhi (geb. 1934), Enkel Mahatma Gandhis. Er gründete das „M. K. Gandhi Institute for Nonviolence“ und leitet es nun als Direktor. Ich traf ihn zwei Mal und führte mit ihm Gespräche im Hinblick auf das 21. Jahrhundert.

Er sprach: „Wenn ich heute einen Menschen zu seiner Änderung führen kann, bin ich zufrieden. Morgen werde ich zwei Personen und dann drei . . . Unabhängig von der Zahl der Personen, wenn ich ihnen helfen kann, sich zu verändern, dann finde ich es in Ordnung. Denn auch sie werden alle weiteren zur Änderung führen.“ (sinngemäße Rückübersetzung)

In die gewaltfreie Welt – die Menschen selbst müssen sich zuerst ändern.

Die Ideale der Würde des Lebens sowie die spirituelle Revolution durch die Gewaltfreiheit, die Tolstoi bei Menschen wachrief und von Gandhi und King übernommen wurden: Der entscheidende Schlüssel, diese zu realisieren, liegt in der Erziehung. Darüber hinaus ist es von großer Wichtigkeit, dass man den Austausch der Kultur, den Austausch der Herzen der Menschen in allen Ebenen vielfältig verbreitet.

Und gerade das entwickeln wir, Mitglieder der Soka Gakkai Internationale, auf der ganzen Welt. Jetzt schaffen wir eine neue Historie. Die Hauptdarsteller der Geschichte sind Menschen. Deshalb ist es von Bedeutung, dass jeder einzelne Mensch stärker und weiser wird. Wichtig ist, dass ein Mensch nach dem anderen seine menschliche Revolution großartig vollbringt.

Tolstoi schreibt:

„Ist es weit bis zur Stadt?“ fragte ein Passant.

Darauf antwortet ein Weiser:

„Laufen Sie zuerst!“

Wichtig ist, den ersten Schritt zu machen. Ohne anzufangen zu laufen, kann man nicht wissen, wie weit der Weg ist. Nein, dabei kann man in aller Ewigkeit kein Ziel erreichen. Laufen oder nicht laufen, stehen zu bleiben oder mit einer Herausforderung zu beginnen, um den großen Traum zu realisieren – wer das alles entscheidet, ist kein anderer, sondern jeder Einzelne selbst.

Wir schreiten auf dem Weg der Soka, des Werteschaffens voran. An diesem Weg, den wir laufen, erblühen Blüten des Glücks. Alle Freunde, die wir ermutigt haben, werden für uns ewige Freunde des Schatzes. Der Weg, für den wir uns entschieden haben, ist der Weg, der zum langersehnten Frieden der Menschheit führt, und auch der Weg, den unsere Väter, Mütter und Freunde öffneten, nachdem sie Probleme und Hindernisse überwunden und besiegt hatten.

Wir wollen heute auch voranschreiten; den Kopf hoch und die Brust gerade, auf dem Weg unseres glorreichen Lebens! Auf diesem Weg der ewigen Hoffnung, indem wir mit unseren Freunden der Welt Schulter an Schulter vereint handeln!

(aus „Seikyo Shimbun“ vom 25. Dezember 2002)

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