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Die Schweiz – die Alpen des Schwurs
„In der Schweiz“, sagt man, „fährt der Präsident mit der Bahn zu seiner Arbeitsstelle.“
„Auch die Abgeordneten des Parlaments“, sagt man, „wohnen in gewöhnlichen Apartments.“
Das Bewusstsein „alle Menschen sind gleich“, sagt man, ist selbstverständlich.
Wie ist ein solches Land entstanden?
Die Berge waren hehr.
Das ehrfurchtgebietende großartige Wunder lag vor meinen Augen. Das Meer, die gute Erde genannt, wellte sich gen Himmel, tobte und weitete seine weißen Dünen grenzenlos aus.
Die Alpen – die Schönheit des Objekts, aus Felsen und Eis gebildet – die Gestalt, die die Erde über 200 Millionen Jahre lang schnitzte.
Sie wirkten auf mich wie ein in den Himmel emporragendes unbeugsames Gedränge von Menschen. Ich war im Flugzeug, als ich mich vor zehn Jahren von Deutschland nach Italien begab. Auch unter diesen Wolken, dachte ich, leben meine Freunde – von Herzen grüßte ich die Freunde in der Schweiz, dem Alpenland.
Ich besuchte die Schweiz sechs Mal.
Auf den schneebedeckten Straßen in Genf machte ich einen Spaziergang. Am Ufer des Züricher Sees im Spätherbst führte ich mit meinen Freunden Gespräche. Einmal stellte ich ihnen die Frage: „Was ist die Eigenschaft der Schweizer?“ Daraufhin kamen viele Antworten wie zum Beispiel: „Sie schätzen das Individuum sehr“, „Es gibt keine Diskriminierung“, „Sie kritisieren andere nicht“, „Das Menschenrechtsbewusstsein ist hoch“ usw..
Obwohl Saisonarbeiter aus Spanien, Portugal, Ungarn und anderen Ländern kommen, macht man keinen Unterschied, so die Freunde.
Ihr Kredo: „Menschen sind Menschen.“ Unter den Freunden der SGI gibt es auch solche, die Waisenkinder aus Thailand oder Brasilien zu sich nehmen und wie ihre eigenen Kinder erziehen, und zwar aus dem tiefen Verständnis: „Was den Wert des menschlichen Lebens angeht, gibt es keine Landesgrenzen. Diese Kinder haben das Recht, glücklich zu werden.“
Ein Schweizer Freund schenkte mir eine „Holzstatue von Wilhelm Tell“. Er ist ein sagenumwobener Held, der auf Befehl eines bösen Landvogts dazu gezwungen wurde, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen, und der den Landvogt schließlich bezwang.
Weil Tell so ehrlich und aufrichtig war, als sei er einfältig, hegte sein überheblicher Machthaber Groll gegen ihn;
Tell, der, weil er die Leiden anderer nicht übersehen konnte, immer Probleme auf sich nahm; gerade er, ein einfacher Mensch, der nach der Erde roch, wird als Prototyp der Schweizer geschätzt.
Seit der ersten Aufführung des Theaterstücks „Wilhelm Tell“ von Friedrich v. Schiller (1804) sind jetzt genau 200 Jahre vergangen. Im Drama sagt Tells Sohn: Ich möchte lieber auf einem weiten reichen Feld wohnen als in diesem derart armen Land. Aber mein lieber Sohn, sagt Tell, da gibt es keine Freiheit, es steht unter der Herrschaft von böswilligen Königen und Pfaffen.
„Na dann, Vater, denke ich, ist selbst das weite Land für mich zu eng. Selbst unter Lawinen können wir besser leben.“
„Das stimmt. Falls wir etwas auf dem Rücken tragen sollten, dann viel lieber Gletscher als Bösewichte.“
Gerade in Tells Aussagen findet sich die Seele der Gründung der Schweiz. Gegen die Tyrannei durch die Habsburger kamen 1291 die Vertreter aus den drei Regionen auf dem Rütli, einer Bergwiese, zusammen und legten den Schwur ab, vereint die Freiheit bis zum Ende zu bewahren.
„In unserem Dorf haben wir unsere eigene Art und Weise.“
Selbst durch ein Tal getrennt, so sind die Lebensbedingungen verschieden.
„Staatliche Kontrolle? Nein danke!“
Aus diesem Schwur auf der Wiese voller Blüten entstand die Schweiz. Die Zustimmung der Menschen zum „Schwurbündnis“ verbreitete sich allmählich, und daraus ging ein Bundesstaat hervor, die Eidgenossenschaft, das ist die Schweiz!
Die Historie, dass sie diesen Schwur über 700 Jahre lang beibehalten haben, ist wirklich bewundernswert. Als sie während des Zweiten Weltkrieges der großen Krise wegen der bevorstehenden Invasion der Nazis gegenüberstanden, versammelten sich die Vertreter des Landes auf dieser „Bergwiese“ und erneuerten den Schwur, diese traditionelle Freiheit zu beschützen, selbst wenn es ihr Leben kosten würde.
„Wir wollen so wie unsere Vorfahren frei sein und ziehen den Tod dem Leben als Sklaven vor.“ (aus „Wilhelm Tell“)
Aus dem Grund ist der Missbrauch der Macht in ihrem Land nicht vorstellbar.
Schwur bildet den Charakter.
Schwur erhöht das Leben.
Wenn ein Mensch mit seinem ganzen Sein einen Schwur ablegt, „Ich mache es!“, so kann er in sich die Jugend gewinnen. Daher hat der Zeitpunkt, wann man beginnt, sich herauszufordern, mit dem Alter nichts zu tun.
Die Schriftstellerin Johanna Spyri (1827-1901), die den Roman „Heidi“ schrieb, wohnte in Zürich. Als sie ihr erstes Werk veröffentlichte, wurde sie bereits 44 Jahre alt. Im Alter von 53 Jahren schrieb sie „Heidi“. Trotz der Tragödie, ihren einzigen Sohn und kurz danach ihren Ehemann verloren zu haben, fuhr sie fort, zu schreiben und dadurch ihre sanften Ermutigungen an die Menschen zu schicken.
Henri Dunant (1828-1910), der auf dem Schlachtfeld des Unabhängigkeitskampfes Italiens das Elend vor seinen Augen sah, schwor: „Ich werde eine Rettungsorganisation gründen, die über die Landesgrenzen hinaus geht und zwischen eigenen Soldaten und Feinden keinen Unterschied macht.“
Obwohl sein Vorhaben als Träumerei verspottet wurde, ging aus diesem Schwur das heutige „Internationale Rote Kreuz“ hervor.
Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827), Vater der Erziehung, setzte seine Überzeugung in die Tat um: „Zwischen den Armen, die unter den Laubdächern leben, und den Adligen gibt es eigentlich keinen Unterschied. Es hängt alles von der Bildung ab.“
Ein Misserfolg nach dem anderen. Obwohl er als „Utopist“, „Kopfmensch“ und „Idealist“ beschimpft und verhöhnt wurde, wich er von seinem eigenen Schwur nicht ab, indem er sich als einfacher Lehrer im Alter von 54 Jahren, der sich über Karriere und Geld keine Gedanken machte, vor seinen jüngeren Vorgesetzten verneigte.
Für Waisenkinder wurde er Vater, Mutter und Diener, und er ging später als alle anderen zu Bett, stand aber früher auf als alle anderen. Er weinte und lachte mit allen zusammen und setzte sein Kredo durch: „Erziehung ist Liebe.“
Einmal nahm er eine Bitte, sich um die Kinder zu kümmern, die durch den Krieg zu Waisen wurden, vollen Mutes entgegen, obwohl er genau wusste, dass es nichts anderes als Probleme und Schwierigkeiten geben würde. Stolz sagte er: „Auch wenn es auf dem Gipfel der Alpen weder Wasser noch Feuer geben sollte, gehe ich hin! Mit großer Freude!“
Wenn ein Mensch seinen Schwur bis zum Ende beibehält, wird er glücklich. Ein Alpinist schrieb über seine Freude, als er die Eiger-Nordwand bezwang: „Der Kampf ist beendet. Wir schauen uns gegenseitig mit Begeisterung in unsere Gesichter. ... Warum können wir so glücklich sein, obwohl wir eine derart mühsame Bergbesteigung hinter uns haben?“
Der Alpinist liebt nicht die Gefahr, sondern Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten zu lieben heißt, das Leben zu lieben; er will leben, er will sein Leben glühend entfachen, er will sich bis zum Äußersten mit Leib und Seele herausfordern. Gerade auf dem hohen Gipfel der Alpen fand er einen Ort, an dem dieses Gefühl voller Leidenschaft befriedigt werden kann.
Lasst uns auf die noch weitere Höhe hinzielen. Höher und noch höher. Lasst uns Schritt für Schritt immer höher steigen. Denn die unübertroffene Freude des Lebens findet sich gerade im schwierigen Kampf, weiterzusteigen.
Die Alpen fragen uns:
„Du, mit welcher Entschlossenheit lebst du dein Leben?
Sie, welchen Schwur wollen Sie in diesem Jahr vollbringen?“
(aus „Seikyo Shimbun“ vom 12. Januar 2004)
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