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"Tips für eine erfolgreiche Praxis" soll eine Serie innerhalb des buddhistischen Studiums darstellen und ist als eine Reflexion über die Frage gedacht, warum einige mit der buddhistischen Ausübung auf der Strecke bleiben. Es ist oft aufschlußreich gar unentbehrlich, eigene Denkfehler zu erkennen und eine "buddhistische Wende" ebenso in Gedanken, wie in der Stimmung (Lebensgefühl und -zustand) zu vollziehen.
Von Verlust- zur Gewinnrechnung
Hang zum Perfektionismus:
Viele unserer aufrichtigen (d.h. zu deutsch: "pflichtbewußten") Mitglieder haben einen tiefen Hang zum Perfektionismus, der zwangsläufig zu einer "Entweder-Oder"-Einstellung führt. Sie zerbrechen sich selbst während des Chantens darüber den Kopf, ob ihre Einstellung stimmt. Damit meinen sie stillschweigend, daß sie entweder die richtige Geisteshaltung im Sinne von "absolutem Glauben" haben oder aber gar keinen. Wenn man z.B. an einem Tag sein selbst gestecktes Ziel von zwei Stunden Daimoku nicht geschafft oder kein Morgengongyo gemacht hat, wird man sich mit der unnötigen Frage beschäftigen, ob dies eine schlechte Ursache sei. Auf diese Weise entwickelt sich die buddhistische Ausübung, die ja eigentlich zur drastischen Verbesserung der Lebenslage dienen soll, zu einer Pflichtübung, die nichts anderes bedeuten kann, als eine zusätzliche Last im Leben.
Ein grausames Spiel:
Stellen wir uns ein Spiel mit Bogenschießen vor. Jeder darf zehn Pfeile abschießen und bekommt für jeden Volltreffer zehn Punkte. Die einzige Regel unseres Spiels ist, daß wir nur mit dem hundertsten Punkt den Sieg erringen. Das heißt, selbst bei 99 Punkten fallen wir durch. Daher: noch fataler bei diesem grausamen Spiel ist, daß wir bereits beim ersten Schuß ausscheiden können. Auf diese Weise setzen wir uns systematisch unter ständigen psychischen Druck, und das Spiel ist kein Spaß, sondern nur noch ein Psychoterror.
Hier arbeitet man mit einem Siebverfahren, daß das Durchfallen zum Zweck erhebt, oder man arbeitet mit einer "Verlustrechnung", die nur auf den Minuspunkt abzielt. Dieser Verfahrensweise bedient man sich aus der Voreingenommenheit heraus, das Spiel sei nun mal so konzipiert, man könne die Realität ja nicht ändern. Es ist eine Illusion zu glauben. daß man an einem derart grausamen Spiel beteiligt sei. In Wirklichkeit existiert es gar nicht und die Regeln sind selbstgemacht.
Systematische Verleugnung eigener Bemühungen:
Der Fehler liegt also bereits im Ansatz: Man geht von einer perfektionistischen Vorstellung aus, nach der die absolute Erreichung eines Ziels nicht etwa einen Soll-, sondern einen absoluten Muß-Wert darstellt. Stellt man dann fest, dieser idealen, perfektionistischen Vorstellung nicht gerecht werden zu können, wird jede bis dahin gemachte Bemühung wertlos. So wird das Gefühl des Scheiterns und Versagens zum allervertrautesten.
Die Denkweise, die ich hier als "Verlustrechnung" bezeichne, laßt unsere natürliche Schwäche nicht zu und verleugnet den tatsächlichen Wert unserer Bemühungen für die Verwirklichung der Buddhaschaft. Dies ist genau die Situation, vor der Nichiren Daishonin warnt: "Wenn Sie die Erleuchtung außerhalb Ihrer selbst suchen, dann bleibt jede Anstrengung oder jede gute Tat sinnlos. ... und wenn man das Wesen seines Lebens nicht erkennt, dann wird seine Ausübung zur endlosen, qualvollen Selbstkasteiung." (Dt. Gosho, "Über die Verwirklichung der Buddhaschaft in diesem Leben", 5. 43f.)
\ Ausgangspunkt der Gewinnrechnung:
Der Ausgangspunkt der buddhistischen Ausübung besteht in der Anerkennung der Tatsache, daß wir verdammt faul und von allerlei negativen Begierden erfüllt sind. Es ist auch ohne die buddhistische Ausübung normal, daß wir einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten ausgesetzt sind. Daher: "Betrachten Sie gute Umstände als außergewöhnlich und die schlechten als selbst-verständlich."("Über Verfolgungen, die dem Buddha widerfahren"; Anm. d. Verf.: Im vorliegenden Artikel handelt es sich um sinngemäße Übersetzungen.)
Wir sind eben in der Zeit von "Mappo" (dem Späten Tag des Gesetzes).
"Wenn jemand in seinem ganzen Leben selbst aus einem geringfügigen Anlaß heraus auch nur eine gute Tat, egal von welcher Art, tut, ist diese Tat lobenswert." ("Über die Offenbarung der Verleumdung") Alle buddhistischen Aktivitäten sind konkrete Handlungen für das Lebensgesetz und somit der Ausdruck der eigenen Buddhaschaft selbst. Sie sollten als das Größte, die höchste Ursache für die Verwirklichung der Buddhaschaft (dem höchsten Ziel des Lebens) verstanden werden. Daher, jede buddhistische Bemühung, selbst fünf Minuten Daimoku zu chanten, muß als ein Pluspunkt, als eine in sich wertvolle Tat angesehen werden. Wir arbeiten im Buddhismus - im Gegensatz zur Verlustrechnung - mit der "Gewinnrechnung", nach der jede Bemühung als sinn- und wertvolle Tat addiert (oder aber auch bei einem qualitativen Sprung multipliziert) wird.
Wende von Verlust- zur Gewinnrechnung:
Eine logisch falsche Schlußfolgerung in der Verlustrechnung liegt darin,. daß das "Ziel" und der "Ausgangspunkt" vertauscht werden. Ziele, die man setzt (und d.h. nach außen projiziert), sind auf keinen Fall ein absolutes Muß (im Sinne von "entweder alles oder gar nichts"), von dem aus alles andere beurteilt wird. Sie sollen lediglich eine Perspektive darstellen, wohin man sich bewegen will. Wichtig ist, daß wir die eigene Realität annehmen und davon ausgehen. Es hat aber ebensowenig Sinn, dort zu verharren, wo wir stehen. Denn gerade dort haben wir ja die Probleme. Was nun? Holen wir Rat bei Nichiren Daishonin:
"Wenn Sie ... das Mystische Gesetz chanten und das Lotos-Sutra rezitieren, dann müssen Sie die tiefe Überzeugung aufbringen, daß Myoho-Renge-Kyo Ihr Leben selbst ist." (Dt. Gosho, S.43) Diese Überzeugung ist der Ausgangspunkt i (hon-in-myo: das Mystische Prinzip der Wahren Ursache) für unsere tägliche Bemühung, reale und konkrete Situationen zu verändern. Und diese Überzeugung zu vertiefen, bedeutet, die fundamentale. Wende in unserem Leben zu vollziehen, so daß wir den absoluten Wert unseres Lebens voll annehmen, und jeder unserer Bemühungen im Hier und Jetzt absoluten Wert verleihen.
Vom Minderwert zum Mehrwert
Im letzten Beitrag dieser Serie habe ich über den "Hang zur perfektionistischen Tendenz" gesprochen, die zwangsläufig mit einer "Verlustrechnung" arbeitet und das Gefühl des Versagens und Scheiterns befestigt In diesem Zusammenhang steht ein weiteres Thema, das ich heute beleuchten möchte: der Minderwertigkeitskomplex. Es handelt sich jedoch nicht um eine psychologische Erläuterung der "Minderwertigkeit", sondern um eine Aufklärung ihres paradoxen Charakters und um die buddhistische Lösung. uns aus dem Dilemma zu befreien.
Dilemma im Zwang zum Mehrwert
Unser scheinbares Minderwertig-Sein verlangt einen Mehrwert durch Anerkennung, und zwar von anderen, weil wir uns selbst diesen Wert nicht zuerkennen. Und diese Anerkennung von anderen scheint erst durch eine Leistung möglich zu sein, die von uns erbracht werden soll. Wir sollen z.B. nett, tüchtig und gescheit sein. Diese Erwartung an uns, die wir von unserem negativen Selbstbild ausgehend nach außen tragen, verlangt von uns schließlich, nicht "Nein", sondern allzu oft "Ja" zu sagen, trotz unseres eigentlichen Unwillens. So kommen wir ständig in die Klemme, weil wir etwas versprochen haben, was wir doch nicht einhalten können. Oft fehlt uns die Zeit, aber auch die Fähigkeit dazu. Das Dilemma besteht also darin, daß wir mehr zeigen müssen als das, was unsere Realität ist, durch etwas, was wir nicht können. Und durch unsere Unfähigkeit, die wiederum im wesentlichen auf dem Minderwertigkeitskomplex beruht, sind wir von vornherein zum Scheitern verurteilt. Unser Minderwertigkeitskomplex wird ständig bestätigt. So befinden wir uns in einem Teufelskreis.
Im Fall der Verlustrechnung geht man von einem absoluten Muß-Wert aus, von dem aus alles negativ bewertet werden muß, was ihn nicht erreicht. Im Fall des Minderwertigkeitskomplexes versucht man seinen Wert durch zusätzlichen Mehrwert zu erhöhen. Gemeinsam ist den beiden Fällen, daß der Ist-Wert einen Mangel, einen Minderwert bedeutet.
Korsett zum besseren Aussehen?
Der psychologische Mechanismus, sich durch Leistung beweisen zu wollen, gleicht dem, ein Korsett anziehen zu müssen. "Korsett" steht hier für eine Doppeldeutigkeit: einmal der Zwang. den man sich selbst auferlegt, um sich anders darzustellen als man ist; zum anderen der äußerliche Charakter, der zum größten Teil darin begründet ist, sich selbst durch die Augen des anderen zu sehen und zu erleben.
Eigentlich ist uns allen klar, daß wir ein fremdes Korsett nicht nötig haben, um zu uns selbst zu stehen.
"Suchen Sie diesen Gohonzon niemals außerhalb Ihrer selbst. Der Gohonzon existiert allein in diesem Leib der gewöhnlichen Sterblichen, wie wir es sind, die das Lotos-Sutra beibehalten und Nam-Myoho-Renge-Kyo chanten" ("Antwort an Frau Nichinyo")
Aber trotzdem, wieso sehen wir uns gezwungen, eine Rolle zu spielen, die nicht unbedingt unserer Wesenheit entspricht?
Denkstruktur, die dem Minder-, Voll- und Mehrwert zugrundeliegt
Eine kleine Reflexion über die zugrundeliegende Denkstruktur, die uns zu dieser Entfremdung führt, soll uns helfen, das Problem an der Wurzel anzupacken. In religiösen Diskussionen geht es um die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Phänomen und seinem Wesen. Unter diesem Aspekt lassen sich religiöse Lehren nach Nichiren Daishonin grob in drei Typen einteilen:
a) Wenn wir eine Wesenheit im Jenseits aller Phänomene annehmen, wie z.B. im Christentum und im Amida-Buddhismus, so wird der Wert des Jenseits voll anerkannt, während das Diesseits zum Minderwert herabgesetzt wird. Je höher die Wesenheit im Jenseits, desto minderwertiger wird das phänomenale Leben im Diesseits. Diese Logik ist überall zu beobachten, wo wir die zwei scheinbar entgegengesetzten Aspekte wie Körper (Fleisch) und Geist (Seele), Mensch und Natur oder aber auch Mann und Frau dualistisch auseinandernehmen. Das eine wird im Gegensatz zum anderen höher bewertet. Die Diskriminierung des einen vom anderen wirkt sich schließlich auf uns in Form unserer eigenen Entfremdung aus. So werden wir in uns selbst auseinander gerissen und wir verlieren die ursprüngliche Einheit und Harmonie (Buddhaschaft).
Das Versagen oder der Verzicht auf die Möglichkeit, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen, ist sogar die logische Konsequenz aus diesem dualistischen Denken der "vorläufigen Lehre". Praktisch bliebe uns nur noch, uns über das Leben und die Welt als ein Jammertal zu betrachten und alles wie unveränderbares Schicksal zu ertragen. Diese innere Zerrissenheit und Selbstentfremdung muß als "Verleumdung des Lebensgesetzes" verstanden werden, gegen die Nichiren Daishonin aufstand.
b) Im Gegensatz zu dieser dualistischen Logik wird im Lotos-Sutra die Wesenheit dem Phänomen als immanent (innewohnend) zuerkannt. Die Wesenheit erscheint im "theoretischen Teil des Lotos-Sutras (2. Hoben-Kapitel) als die Zehn Lebensfaktoren oder schlicht die Buddhaschaft, die alles in sich einschließt (und so die Gleichheit aller Unterschiede darstellt. So soll die Meditation (wie bei T'ien-T'ai und beim Zen-Buddhismus) dazu dienen, die Buddhaschaft oder die Erleuchtung in eigenen Leben zu suchen. In diesem Fall würden wir zumindest unser eigenes Leben als vollwertiges akzeptieren. Die Vollwertigkeit kann jedoch theoretisch bleiben, solange wir die Erleuchtung nicht geschafft haben.
Diese Lehre der Immanenz bietet zwar eine Einheitsschau an, führt uns aber praktisch zu einer Beschaulichkeit mit Abkehr von der beschwerlichen Weltlichkeit. Ebenso macht uns die ständige Suche nach der Wahrheit (im allgemeinen auf der theoretischen Ebene) handlungsunfähig.
Nam-Myoho-Renge-Kyo ist nun weder einfach eine immanente, latente Wesenheit, noch ein abstraktes Lebensgesetz. Es ist die Weisheit selbst, die aus der Wesenheit unseres Lebens durch das Chanten entsteht und uns ermöglicht, Begierden in Erleuchtung (bonno-soku-bodai) und das Leiden von Leben und Tod in Nirwana-(shoji-soku-nehan) zu verwandeln. Das dialektische Prinzip von "Soku" (Gleich), ist das Prinzip der Transformation, das den Lebensgesetz (dem Prinzip der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung) eigen ist. (Aufgepaßt! Die Übersetzung "Begierden sind Erleuchtung" ist nicht korrekt und führt zu dem Mißverständnis, man bejahe die Begierden als solche bedingungslos. Wir suchen die Erleuchtung weder außerhalb, noch in uns selbst, sondern wir machen von ihr Gebrauch.
Mut zum Mehrwert aufgrund des Überzeugtseins vom Vollwert
Wir bestätigen also den vollen Wert unseres Lebens dadurch, daß wir in unserer konkreten Lebenssituation immer mehr Werte schaffen. Die tatsächliche Erfahrung, einen Mehrwert zu schaffen, bestätigt unsere "Vollwertigkeit". Das ist die "praktische Lehre" Nichiren Daishonins. die wir in der Soka Gakkai praktizieren. Daher ist es in unserer Ausübung von entscheidender Wichtigkeit, uns jeden Tag mit frischer Entschlossenheit herauszufordern, den Mehrwert in unserem Leben zu schaffen.
"Nichts kann die tatsächlichen Beweise übertreffen." ("Über die Lehre, die Ausübung und den Beweis")
Die Überzeugung, daß wir selbst Nam-Myoho-Renge-Kyo sind, das im Gohonzon erscheint, kann nur durch konkrete Erfahrungen immer mehr gewonnen und vertieft werden. Also, gelassen, aber mit mehr Mut zur Herausforderung der Glaubensausübung und zur Auseinandersetzung mit der jeweiligen konkreten Situation.
Nicht das Wesen (wie man eigentlich ist) geht der Existenz (das über sich hinausgehende) vor, sondern: die Existenz ist das Wesen.
Tips für eine erfolgreiche Praxis (3)
Vom 2m-Sprung zum 50cm-Sprung
Im letzten Beitrag dieser Serie habe ich auf die Wichtigkeit von der "Anerkennung des eigenen Vollwerts durch Schaffung des Mehrwerts" hingewiesen. Die konsequente Haltung, die dieser Erkenntnis entspringt, besteht dann in der täglichen Herausforderung seiner selbst, zur Überwindung der jeweiligen konkreten Situation durch Hineinwachsen in die jeweilige Aufgabe, was ebenso die Überwindung der eigenen Grenze oder Unzulänglichkeit beinhaltet.
Nichiren Daishonins Buddhismus fußt auf der Bedeutung von "Tatsachen" ("Ji", Realität), nicht aber auf der Theorie" ("Ri", Idealität). "Tatsache" meint aber weder einfach einen Tatbestand noch ein Status quo hinzunehmen, sondern eine dynamische, kreative und eigenständige Einstellung, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, das Ideal tatsächlich zu realisieren und Werte konkret zu schaffen. Aus einer perfektionistischen Illusion heraus kann man einen Sprung von 2m wagen, aber wenn man von einem negativen Bild von sich selbst ausgeht, wird man handlungsunfähig bleiben, wodurch wir selbst Mögliches ständig unmöglich machen. Der "Mittlere Weg" ist also, zunächst einen 50cm-Sprung meistern zu lernen: "Wer nicht einmal über eine 50 cm breite Grube springen kann, soll nicht wagen, 1m oder gar 2m weit zu springen." (Sinngemäße Übersetzung aus dem "Gesuch für Shijo Kingo")
Tiefes Gebet und beste Strategie
Man hört oft den Ausdruck: "Unmögliches möglich machen!" Das soll aber nicht unbedingt heißen, daß wir tatsächlich Unmögliches möglich machen sollen. Es ist oft eine Frage der Zeit, die reif werden muß, und das kann wiederum bedeuten, daß wir an einem Projekt konkret weiterarbeiten oder z.B. selbst dafür reif werden müssen. Der Gohonzon ist keine Wunderkiste. Die Frage ist nicht, ob wir einen 2m-Sprung wagen oder nicht, sondern: wie komme ich schließlich dazu, den Sprung zu schaffen?; was muß ich jetzt tun, damit ich dazu fähig werde? oder, was ist meine Schwachstelle, die mich behindert und die bearbeitet werden muß?
In diesem Zusammenhang ist jene Art von Erfahrung von entscheidender Bedeutung, die SGI-Präsident Ikeda im Kapitel der "Entschlossenheit" (Ichinen) seines Romans "Menschliche Revolution" beschrieben hat: Tiefes Gebet und beste Strategie. Er meint weder blinden Glauben noch Aberglauben, sondern bewußten Einblick in die jeweilige Situation zu haben, Formulierung eines klaren Ziels, auf das wir tagtäglich hin arbeiten sollen, und die Klarheit, mit der wir an die Sache herangehen. Das Chanten ist daher eine konkrete Arbeit und beinhaltet stets Selbstreflexion. Daraus müssen auch konkrete, mutige Handlungen folgen. Der Rhythmus von "Chanten, Reflektieren und Handeln" soll in unserem Leben eine Dynamik bringen und ist somit der Schlüssel für den Erfolg. Und dies geschieht durch das Beibehalten bzw. die Vertiefung des "Ichinen" im Sinne der Überzeugung, daß man Nam-Myoho-Renge-Kyo praktiziert und so die Ursache für die eigene Menschliche Revolution und für die Veränderung der jeweiligen Lage setzt. Diese Einstellung wird uns ermöglichen, eine gesunde und solide persönliche Entwicklung voranzutreiben.
Nicht Aufgeben
Ebensowenig bedeutet daher der Ausdruck "Buddhismus ist Sieg oder Niederlage", daß man in jeder Auseinandersetzung mit sich und mit der Situation den Sieg erringen muß. Es gibt immer wieder Situationen, in denen man auch einen Rückzieher machen muß. Wichtig ist nur, daß man immer wieder versucht, die Nuß zu knacken, und am Ende schließlich sein Ziel erreicht. Von entscheidender Wichtigkeit ist dann die eigene Bereitschaft, aus den Fehlern zu lernen, immer wieder aufzustehen und die Bemühungen fortzusetzen. Nichiren Daishonin sagt selbst am Verbannungsort Sado: "Ich bin immer noch nicht fertig und gebe nicht auf". Schließlich erfüllte Nichiren Daishonin sein Lebensziel, aber durch Überwindung einer ganzen Reihe von unvorstellbaren Schwierigkeiten. Seine Führung an uns lautet: "Bleiben Sie bis zum Ende bei Ihrem Glauben an das Lotos-Sutra! Sie können kein Feuer aus einem Feuerstein schlagen, wenn Sie dabei auf halbem Weg aufhören!" ("Antwort an Shijo Kingo", Dt. Gosho, Bd.2, S.214)
Heitere Gelassenheit
Nach der Lehre des "50cm-Sprungs" ist es also kein Widerspruch, sich ein Ziel von einem 2m-Sprung zu setzen. Wir dürfen sogar diese Möglichkeit nicht von vorn herein einschränken. Aber, anfangen muß man mit dem Versuch, den ersten 50cm-Sprung zu schaffen. Der nächste wäre der 60cm-Sprung, usw. Und man soll immer dort sein Bestes tun, wo man jetzt stehlt Dabei entsteht genau die Schwierigkeit, die man überwinden muß, wie z.B. Angst, Unsicherheit, Unzulänglichkeit usw. Durch konkrete Arbeit an diesen Schwierigkeiten kann man seine menschliche Kapazität und seine Fähigkeiten erweitern, die z.B. zur Ausübung eines bestimmten Berufs oder zum Umgang mit anderen schwierigen Menschen nötig sind. Sie sind dann die Basis für den nächsten Sprung.
Sich selbst zu akzeptieren bedeutet, zu unserer jeweiligen Entwicklungsphase zu stehen und zu sagen, daß wir jeden Tag dabei sind, an unserer Menschlichen Revolution zu arbeiten. Dieses Selbstbewußtsein ist - nicht vom theoretischen Anspruch her, sondern in bezug auf die Realität betrachtet - vielleicht das einzige, wodurch sich Buddhisten von anderen unterscheiden Wir sind dabei, heiter, gelassen und zielbewußt an unserer persönlichen Entwicklung zu arbeiten. Das ist sicherlich ein Ausdruck unseres "Glaubens".
Tips für eine erfolgreiche Praxis (4)
Im letzten Beitrag dieser Serie wurde auf eine buddhistische Einstellung des Prozeß-Denkens hingewiesen, die jeweilige eigene Situation als eine Phase in einem beistimmten, personenspezifischen Entwicklungsprozeß zu verstehen und notwendige Fähigkeiten zu erwerben, um sich in den nächsten Schritt sinnvoll begeben zu können. In diesem Sinne sind die Probleme oder die Aufgaben konkret von der Situation her gegeben, mit der wir fertig werden müssen. Für jemanden, der sich daher ständig den Kopf zerbricht, wie man chanten soll, besteht das eigentliche Problem nicht in der Frage selbst, sondern darin, daß er nicht versteht, wo er steht und wohin er sich entwickeln muß.
Vom abstrakten zum konkreten Denken
Das buddhistische Prozeß-Denken bedeutet, konkret zu denken, so daß dem Erkennen die Tat folgt. Die dem Buddhismus wesentlichen Aspekte wie das Karma, sowie die Untrennbarkeit zwischen dem Subjekt und seiner Umgebung laufen darauf hinaus zu sagen, daß wir in unserer alltäglichen Situation stets mit uns selbst konfrontiert sind und mit uns selbst fertig werden müssen. Das ist - buddhistisch gesehen - konkretes Denken, weil es uns die Einsicht vermittelt, daß wir als handelndes Subjekt an der Angelegenheit beteiligt sind, sowie die praktische Konsequenz daraus, daß wir deswegen handeln und die Lage verändern müssen.
Abstrakt wäre es dagegen, weil wir ja weder einen juristischen Rechtsstreit noch eine wissenschaftliche Arbeit betreiben, wenn man die Schuld auf andere schiebt oder sich auf die Suche nach der allgemeinen Wahrheit begibt. Zum Beispiel bedeutet eine Situation, in der man - theoretisch Recht hat, noch lange nicht, daß man Recht bekommt. Das ist der Unterschied Zwischen dem abstrakten ,Recht haben' im Sinne des "Wissens" und dem konkreten ,im Recht sein' im Sinne der "Weisheit". Ein Witz lautet: "Ich habe Recht gehabt!" Dies steht als Inschrift auf einem Grabstein von jemanden, der durch einem Verkehrsunfall starb.
Für unsere Zusammenarbeit heißt das konkret Selbst wenn man mit seiner Behauptung oder Kritik Recht hat, wenn man aber als Person nicht glaubwürdig ist, oder wenn die anderen nicht bereit oder noch nicht so weit sind, die Fakten anzuerkennen, dann kann man nicht auf seinem einzigen Recht beharren. In vielen Fällen ist es Sinnvoller, sich gemeinsam über eine mögliche Zusammenarbeit Gedanken zu machen und einen kleinen Schritt nach vorn zu gehen. Man soll sagen, was man zu sagen hat. Aber Vertrauen gehört zur Glaubensausübung, das Vertrauen darauf, daß man die Lage verändern und sein Ideal verwirklichen kann, indem man mit tiefem Gebet und bester Strategie jetzt konkret die Ursache für seine Menschliche Revolution und für die Veränderung der allgemeinen Lage setzt. Denn der "Haß und Neid" (Onshitsu), der die "Eintracht" (Itai Doshin) zerstört, beginnt dort, wo man den anderen verletzt oder auch nicht bereit ist, mit den anderen zusammenzuarbeiten.
Vom Allgemeinen zum Besonderen
Die persönliche Entwicklung findet tatsächlich in allen Lebensbereichen parallel statt. Die Frage ist, ob man die jeweilige Aufgabe ernst nimmt und bereit ist, in sie hineinzuwachsen. Diese Notwendigkeit ist auch vom Prinzip des ichinen sanzen her verständlich; zwischen der jeweiligen Aufgabe (Sanzen), die in Form einer spezifischen Situation oder Anforderung, aber auch als Schwierigkeit gegeben wird, und seiner persönlichen Entwicklung im Glauben (Ichinen) besteht nämlich ein tiefer Zusammenhang. Jede Auseinandersetzung mit der Aufgabe ist im Buddhismus Nichiren Daishonins stets die Auseinandersetzung mit seinem Glauben. Viele verstehen allerdings, daß man stets und überall mit sich selbst konfrontiert ist und mit sich fertig werden muß. Trotzdem haben sie grundlegende Schwierigkeit, eine Brücke zwischen der Angelegenheit draußen und der Vertiefung seines Glaubens drinnen zu schlagen.
Die Aktivität in unserer Organisation bietet eine Chance, diese Konfrontation direkt mit dem Glauben zu erfahren. Schafft man einen Durchbruch in der Aktivität, so schlägt sich dieser auch in allen anderen Lebensbereichen nieder. Daher lohnt es sich immer, in der Aktivität konkret anzusetzen, um alle anderen Probleme zu lösen.
Nehmen wir Beispiele wie "Senseis Besuch in Deutschland" und "Musikfest Berlin 92". Daß Sensei über Deutschland die Türkei und Ägypten und weiter Italien besuchen will, ist ja seine Entscheidung. Jeder akzeptiert das. Aber, warum kommt er nach Deutschland? Brauche ich ständig eine offizielle, im allgemein definierte Begründung für seine Aktivität? Oder für mich noch wichtiger wäre die Frage: Was bedeutet für mich sein Besuch in Deutschland? Was kann ich tun, um seine Aktivität zu unterstützen? Was mache ich daraus?
Scheinbar noch umstrittener ist das "Musikfest Berlin 92". Sensei hat in seinem letzten Besuch in Deutschland nur vorgeschlagen, daß ein Musikfest im Jahr 1992 in Berlin stattfinden soll. Nachdem ich meinerseits als Verantwortlicher einen groben Rahmen der Veranstaltung festzulegen angefangen habe, haben viele die Frage gestellt, was der Sinn und Zweck des Musikfestes sei.
Ich möchte in diesem Zusammenhang kurz meine Erfahrung schildern, als ich im Jahr 1983 zum JMA-Leiter ernannt wurde. Ganz ähnlich wie das Musikfest, wurde damals ebenso nichts festgelegt, außer daß die Jugendabteilung mit der JMA und der JFA in Deutschland entstehen soll. Auch damals wollten viele, sogar die große Mehrheit der Mitglieder den "Sinn und Zweck" der Jugendabteilung nicht wahrhaben. So mußten wir das erste Jahr damit verbringen, in der Abteilungsversammlung über ihren Sinn und Zweck zu diskutieren. Es war eine absurde Situation, sich zusammenzusetzen, um zu diskutieren, wozu diese Zusammenkunft gut sein soll. Nicht nur weil ich meinerseits der Verantwortliche für die JMA war, sondern weil ich immer eine große Freude empfand, etwas aufzubauen, was noch keine Form hat, mußte ich mich damit auseinandersetzen, eine konkrete Vision zu entwickeln und die entsprechenden Aktivitäten zu gestalten. (Interessant war, daß ich ebenso beruflich die Aufgabe hatte, in der Firma in Düsseldorf eine Abteilung für den Computervertrieb aufzubauen.)
Ich meine, daß es zwar organisatorisch wichtig ist, gemeinsame Richtlinien und mit den Beteiligten einen Konsens im Sinne der Orientierung zu schaffen, aber wenn man sich mit dem Thema nicht in der Weise auseinandersetzt, daß es für ihn persönlich etwas bedeuten kann, so würde man lediglich eine bestimmte Funktion ausführen oder als ein unbeteiligter Dritter an einer Veranstaltung teilnehmen, und zwar mit der Einstellung, "mal gucken, was da angeboten wird". Sinngebung ist für einen schließlich immer seine persönliche Angelegenheit.
Zum Schluß in Anlehnung an dem berühmten Spruch von JF Kennedy: "Frag' nicht, was die SGI-D für Dich tun kann, sondern frag', was Du für Kosen-rufu in Deutschland tun willst!" Es wäre wünschenswert, wenn jeder von uns nachher sagen könnte: "Das Musikfest war meine Aktivität und dadurch konnte ich einen wichtigen Durchbruch in meinem Leben schaffen."
Tips für eine erfolgreiche Praxis (5)
Opfer-Perspektive
Im Buddhismus geht es um das Gesetz des Karma, weiches ein Kausalprinzip darstellt: "Wenn Sie die Ursache in der Vergangenheit erkennen wollen, betrachten Sie die Wirkung in der Gegenwart. Ebenso, wenn Sie die Wirkung in der Zukunft erkennen wollen, betrachten Sie die Ursache, die Sie in der Gegenwart setzen." Hier sind zwei Richtungen oder Teilaspekte angesprochen; wir schauen uns den ersten Kausalzusammenhang an, der zwischen Vergangenheit und Gegenwart bestehen soll.
Wenn wir vom Karma sprechen, ist der Grundtenor doch oft der, daß es sich um unvermeidbares und unabänderliches Schicksal handelt. Schicksal überfällt uns und wir werden von der Angst gepackt. Wir empfinden es meistens als Wirkung und verstehen uns als Opfer.
Nicht nur die Psychologie, sondern auch viele Religionen versuchen unsere gegenwärtige Lage in Zusammenhang mit der Vergangenheit zu erklären. Kindheitserlebnisse, die als das Unbewußte, d.h. als das Verdrängte und Unverarbeitete in der Tiefe der Seele schlummern, bedingen den Charakter und die Lebenssituation einer Person. Der "Sündenfall" z.B. wird als der Ursprung der schuldhaften menschlichen Existenz gedacht, die erlöst werden muß.
Es ist nicht falsch, die Gegenwart im Licht der Vergangenheit zu beleuchten, aber: "Jedes Lehrbuch der Psychologie öffnet uns die Augen für die Determinierung der Persönlichkeit durch Ereignisse in der Vergangenheit, vor allem in der frühen Kindheit. Und jedes Kind' weiß, daß das, was einmal geschehen, nie mehr ungeschehen gemacht werden kann. Daher, nebenbei bemerkt, der tierische Ernst (und die Länge) fachgerechter psychologischer Behandlungen." (P. Watzlawick, "Anleitung zum Unglücklichsein", Piper, München 1988, S.26.) Schließlich kann dieser Ernst darin enden, "die von der Vergangenheit geschlagenen Wunden durch allzu eifriges Lecken am Heilen zu hindern."
Wir müssen also einerseits mit der modernen Tendenz zur Psychologisierung unserer alltäglichen Schwierigkeiten vorsichtig umgehen, andererseits sieht es aber tatsächlich so aus, als wären wir mit unserer Vergangenheit voll belastet und kämen von dieser nicht los.
Dilemma
Auch in bezug auf die Gegenwart entdecken wir eine Reihe von Paradoxien: Auf Befehl Zustände wie "Be happy!" spontan zu erzwingen, ist ebenso unmöglich, wie z.B. etwas vorsätzlich zu vergessen oder absichtlich schlafen zu wollen.
Ähnlich verhält es sich mit der Erfahrung, daß ethische Vorsätze oder moralische Grundsätze, die oft wie "aufgesetzt" wirken und als idealisierte Zwangsvorstellung eher unsere spontane Entscheidung und Handlung hemmen, als daß sie sie uns erleichtern.
Ferner rührt die Vermeidung einer gefürchteten Situation oder eines Problems trotz mühevollen Manövrierens zum Fortbestehen des Problems. Umgekehrt verewigt die romantische Suche nach der Blauen Blume, oder auch die ewige Suche nach der absoluten Wahrheit, diese Suche.
Täter-Perspektive
Wir ziehen nun den anderen Teilaspekt des Karma-Gesetzes in Betracht, der besagt, daß wir hier und jetzt Ursachen setzen, die in der Zukunft Früchte tragen werden. Um diese Wende zu vollziehen, brauchen wir unseren Blick nur nach vorne zu richten, so wie im Gohonzon rechts oben steht: "Für die zwei Phasen des Lebens, die Gegenwart und die Zukunft." Mit dem klaren Bewußtsein, daß wir in jedem Augenblick Ursachen setzen, die in der Zukunft Konsequenzen nach sich ziehen, können wir z.B. die scheinbare Angst, die uns überfällt, nicht nur als Wirkung wahrnehmen, sondern auch als unsere eigene Tat begreifen, die sich hier und jetzt vollzieht. Nicht die "Angst" überfällt mich , sondern "ich" ängstige mich. Nicht "jemand anderes", also etwas von außen, verärgert mich, sondern "ich" ärgere mich darüber. Es handelt sich hier natürlich nicht um Sprachenunterricht, welche Ausdrucksform man wählen soll, sondern um die geistige Haltung bzw. unsere wesentliche Beziehung zu uns selbst, ob wir uns aktiv oder passiv, selbst- oder fremdbestimmt erleben.
Damit meinen wir aber keineswegs jene naive Vorstellung, daß man allein durch Änderung der Einstellung die gesamte Lage grundlegend ändern könnte. Ein Beispiel hierzu liefert uns das Buch mit dem Titel "Weisheit aus dem Unbewußten: ,Channeling' als Schlüssel zur geistigen Welt - Eine Einführung in Trance-Techniken für den Alltag". Es klingt ganz vernünftig, wenn es dort heißt: "Solange Sie automatisch denken, merken Sie nicht, daß Sie sich Suggestionen hingeben. Sie sind Ihren eigenen Gedanken hilflos ausgeliefert, wenn Sie sie nicht bewußt registrieren. Beobachten Sie also zunächst, was Sie wann in welcher Situation denken, und registrieren Sie, wie es Ihren Körper beeinflußt. Machen Sie Experimente mit Ihren Gedanken" (Boerner, M., "Weisheit aus dem Unbewußten, Goldmann, München 1988, S.91.) Aber ist es wirklich sinnvoll, unsere psychischen Probleme lediglich als konditioniert aufzufassen? Sollen wir deswegen versuchen, uns z.B. durch Selbstsuggestion, mit der der Autor des o.g. Buches arbeitet, erneut anders zu konditionieren, d.h. uns umzuprogrammieren? Um das Fließen von Gefühlsenergie zu erlernen, empfiehlt er schließlich wahllos die Teilnahme an allen möglichen Kursen wie Bioenergetik, Rebirthing, Tanztherapie, Gestalttherapie und dergleichen.
Bewußte Auseinandersetzung mit der jeweiligen Situation und daher mit sich selbst, Ja! Was ich aber bezweifle, ist die Tendenz unserer modernen Gesellschaft, alles technisch zu betrachten und teechnische Methoden zur Lösung von Problemen zu suchen.
Doppeldeutigkeit der Verantwortung
Wir sind tatsächlich in jedem Augenblick dazu aufgefordert, zu dem, was wir selbst wahrnehmen und erleben, sowie zu unseren eigenen Gedanken klar Stellung beziehen. Sich treiben zu lassen, z.B. sich der Angst auszuliefern, ist ebenso eine Entscheidung, somit auch eine Ursache, die man setzt. (Übrigens liegt darin bei manchen der Grund für die Diskrepanz zwischen ihrer buddhistischen Ausübung und ihrem Alltagsleben, also zwischen Theorie und Praxis.) Wir erleben in der Tat oft, daß die Angst in diesem Fall immer größer wird. Dementsprechend werden alle anderen negativen Aspekte wie Schuldgefühle, Minderwertigkeitskomplexe, das Gefühl des Versagens, usw. steigen. Ein psychologisch konditionierter Mechanismus wird also in Gang gesetzt. Man ist zur Passivität verurteilt. Die Folge davon ist, daß wir sogar die Aktivität, die ja eigentlich eine freudige Angelegenheit sein und zu unserer menschlichen Entfaltung beitragen soll, nur noch als Last empfunden. Für diese Lage ist jede/r schließlich allein verantwortlich und nur er/sie kann den Mechanismus anhalten. Jeder kann aktiv werden. Sich somit als Täter zu erleben, erfordert also eine bewußte und klare Entscheidung des Ichinens.
Wenn man also hört: "Du bist für diese Lage oder gar für jene Aufgabe verantwortlich", so kann es zweierlei heißen. Zum einen entwickelt aus der Opfer-Perspektive heraus eine Schuldfrage, nämlich: Wer trägt dafür die Verantwortung, d.h. die Schuld? Zum anderen heißt es ja, daß ich selbst für das Meistern der Lage verantwortlich bin.
Hierzu ein kleiner Exkurs in die buddhistische Logik der "Leere" (Ku): Alles ist leer, d.h. nichts ist in sich fix und fertig, sondern alles existiert und entsteht stets in einer Wechselwirkung mit anderem. Das, was ich jetzt erlebe, ist nichts Endgültiges, sondern enthält alle anderen Möglichkeiten. Die Leere ist die Fülle der Möglichkeiten. Somit gilt: Die ganze Zukunft liegt in meiner Hand. Die letzte, einzig relevante Frage lautet: Was willst Du? Willst Du Dich treiben lassen, oder setzt Du eine neue Ursache, um die Kausalkette zu brechen?
Von mir gewünschtes Karma?
Es gibt im Buddhismus ein Prinzip genannt "ganken-ogo": "Dies ist das Karma, das ich mir gewünscht habe". Es klingt natürlich zunächst absurd zu sagen: All die Schwierigkeiten wie z.B. diese bestimmte Krankheit und diese unglückliche Ehe soll ich mir gewünscht haben? Natürlich wünscht sich niemand solche Schwierigkeiten. Aber was tun wir angesichts dieser? Vor einer Ehe kann man abhauen, vor der Krankheit aber nicht. Außerdem, selbst die Ehe ist irgendwie karmisch bedingt. Und wenn man die gleiche Tragödie mit einem anderen Partner nicht wiederholen will, muß man irgendwie eine Lösung finden. Schließlich, buddhistisch gesehen, muß man mit seinem Karma sowieso fertig werden. Erst auf einer anderen, neuen Basis kann man etwas Neues aufbauen. Es lohnt sich also immer, dort wo man steht, sein Bestes zu tun und ein Stückchen weiterzukommen.
Betrachte ich die bestimmte Schwierigkeit als mein Karma, d.h. als bestimmte Wirkung aus einer Reihe von Ursachen in der Vergangenheit, so kann ich kaum etwas dagegen unternehmen, denn ich vermag das Vergangene nicht zu ändern. Betrachte ich aber die gleiche Schwierigkeit als mein Karma, und zwar als jenes, das ich mir gewünscht habe, so muß es einen Sinn haben. Also, warum habe ich es mir so gewünscht? Ich bin ein Boddhisattwa aus der Erde und habe die Aufgabe, meinen Mitmenschen, die gleiche oder ähnliche Schwierigkeiten haben, die Kraft von Nam-Myoho-Renge-Kyo durch meine tatsächlichen Beweise zu zeigen. Diese Schwierigkeit brauche ich für Kosen-rufu, genauso wie Nichiren Daishonin für die Beweisführung seine Identität als Boddhisattwa Jogyo, für die Erfüllung der Prophezeiung im Lotos-Sutra. (Nichiren Daishonin sagt, ohne ihn wäre Shakyamuni-Buddha ein Lügner gewesen.) Das heißt in unserem Zusammenhang: Die Bedeutung der Vergangenheit wird durch die Tat in der Gegenwart gegeben! Diese Logik ist eine ganz andere als jene, nach der man die Bedeutung der Vergangenheit von der Gegenwart aus rückblickend versucht zu ergründen.
Wenn wir uns mit der tiefen Aufgabe und Verantwortung als Boddhisattwa aus der Erde identifizieren, d.h. von dieser Zukunftsorientierung her unsere gegenwärtige Schwierigkeit verstehen, gewinnt ein und dieselbe Schwierigkeit einen ganz anderen, übergeordneten Sinn. (Achtung! Zukunft heißt hier die Möglichkeit der Manifestation der Ewigen Vergangenheit (kuon ganjo) in der Gegenwart.) Es ist daher in unserer Ausübung von entscheidender Wichtigkeit, ob ich mich bemühe, meine Situation von Nam-Myoho-Renge-Kyo aus zu begreifen und entsprechend zu handeln, um schließlich daraus das Beste zu machen. Die Konsequenz daraus ist: Ich mache aus meinem Partner den Besten; Ich verwandle meine Angst in Freude, usw., usw.
Jede/r ist das aktive Subjekt, der Schöpfer des Karmas, der seinem Leben und seiner jeweiligen Situation den Sinn verleiht und so neue Werte in jedem Augenblick schafft. Nam-Myoho-Renge-Kyo ist zukunfts- und tatorientiert.
Quelle: Express 10-17, Autor: Yukio Matsudo
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