1600041780 a:2:{s:7:"content";s:14505:"

Im Hinblick auf den „Weg des sinnvollen Lebens“

Präsident Ikedas Rede über Lew Tolstoi

(4) Gerade das Volk ist der Zar!

Verfolgung liefert Beweise für den großen Geist

Tolstoi war ein Meister der Gespräche; er sprach, ohne einen Unterschied zu machen, mit Bauern, mit Schriftstellern und mit Kindern. Die Zahl der Freunde und Gleichgesinnten, die aus allen gesellschaftlichen Bereichen stammten, wuchs mehr und mehr. Von weit her kamen sie zu ihm.

Von bekannten Schriftstellern und Künstlern wie z. B. Maxim Gorki (1868-1936) und Anton P. Tschechow (1860-1904) ganz zu schweigen, machten sich viele führende Persönlichkeiten aus aller Welt auf den Weg zu ihm, darunter auch Tomas Garrigue Masaryk (1850-1937), der spätere Staatspräsident der ehemaligen Tschechoslowakei. Thomas Alva Edison (1847-1931), der Erfinderkönig der USA, schenkte ihm ein Grammophon.

Zweimal am Tag, morgens und abends, ritt aus. Den Winter verbrachte er meistens in Moskau und hielt sich ansonsten in der üppiggrünen Jasnaja Poljana auf.

Ein russischer Maler schreibt über seine Begegnung mit dem dreiundsechzigjährigen Tolstoi:

Eines Wintertages fragte mich Tolstoi: „Wollen Sie mich begleiten?“

Er rief mir zu, etwas zur Versorgung und Rettung der Flüchtlinge zu unternehmen. Wir fuhren mit dem Pferdeschlitten auf dem tief verschneiten Weg. Obwohl das Licht der Sonne blendend war, lag die Temperatur 25 Grad unter dem Gefrierpunkt. Tolstoi besuchte die Bauern einen nach dem anderen zu Hause, erkundigte sich, ob sie gut versorgt seien, ob es ihnen an etwas mangele und ob es dem Nachbarn gut gehe.

Tolstoi war vor allem „ein Mann der Tat“.

Auf dem Heimweg rutschte der Pferdeschlitten in einen Graben. Vom Pferd ragte nur noch der Hals aus dem Schnee. Und auch wir waren bis zur Brust in den Schnee eingesunken. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Ohne zu zögern, zog sich Tolstoi seinen Pelzmantel aus, legte ihn auf den Schnee und festigte ihn auf diese Art und Weise, bis er das Tier erreichte. Als sich Tolstoi seinem Pferd näherte, wirkte er beruhigend auf es ein und konnte deshalb den Schlitten aus dem Schnee herausziehen. Wie geschickt er das alles machte! Der Maler riss seine Augen weit auf.

„So, jetzt sind wir wieder bereit!“ sagte Tolstoi voller Freude lachend.

Von da ab lenkte er den Schlitten trefflich über den Don, und wir fuhren wie geschlittert nach Hause, indem wir lebhaft miteinander über die Kunst sprachen. (aus „Wolga-Treidler“, Ilja Repin, 1844-1930)

Die Strömung der Zeit war reißend. Das Bewusstsein der Bevölkerung veränderte sich und ihre Suche nach Freiheit und Gleichheit wurde immer intensiver. Die Obrigkeit versuchte dies mit Gewalt zu unterdrücken. Inmitten dieser Auseinandersetzungen schrieb Tolstoi als „Löwe“ der Presse unermüdlich immer weiter.

Die Werke, die er in seinen fünfziger und sechziger Jahren verfasste, sind nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ hervorzuheben. Einige davon, die zu den bedeutenden Traktaten gehören, können wie folgt aufgezählt werden: „Was ich glaube“, „Was sollen wir denn tun?“, „Der Tod des Iwan Iljitsch“, „Über das Leben“, „Die Kreuzersonate“, „Das Reich Gottes ist inwendig in Euch“, „Was ist Kunst?“ usw.

Das alles sind Werke, in denen er scharf das Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft beleuchtet.

Davon wurde der Traktat „Was ich glaube“ handschriftlich verbreitet. Die Abhandlung „Über das Leben“ wurde von den russischen Orthodoxen verboten. Die Schrift „Das Reich Gottes ist inwendig in Euch“ konnte nicht in Russland veröffentlicht werden, und erschien deshalb zuerst im Ausland (Deutschland).

Darin erklärt Tolstoi: Der Nationalismus, für den Krieg und Todesstrafe kennzeichnend sind, legt das Gewissen der Menschen lahm, verdirbt und lässt sie verkommen. Die Menschen aller Länder sollen sich vereinigen. Aber wegen wahnsinniger Machthaber kämpfen die Völker gegeneinander und vernichten schonungslos das Leben anderer. Solch ein Alptraum darf nicht Wirklichkeit werden.

Für die Nation?

Lassen Sie sich von solch einem Schwindel nicht täuschen!

Leben Sie für die Welt!

Leben Sie Ihrem eigenen menschlichen Gefühl treu!

Und leben Sie nach Ihrer religiösen Überzeugung!

Es gab einen jungen Mann, der von diesen Werken Tolstois begeistert war; es war Mahatma Gandhi (1869-1948), der gegen das Unrecht der Diskriminierung kämpfte. Durch die Werke, deren Veröffentlichung in Russland verboten wurde, erhöhte sich seine weltweite Anerkennung umso mehr. Gerade Verfolgungen liefern Beweise für den großen Geist.

Auch seine Schüler kämpften trotz massiver Verfolgung

Schließlich verhängte man ein Verbot über seine Bücher. Dennoch verbreiteten sie sich blitzschnell, weil sie abgeschrieben oder heimlich gedruckt wurden. Wer Bücher von Tolstoi besaß und entdeckt wurde, wurde verhaftet.

Tolstoi protestierte in einen öffentlichen Brief an die Innen- und Justizminister: „Wenn Sie jemanden verhaften wollen, dann bitte mich! Mir macht das nichts aus, selbst wenn mich die Regierung verbannen, ins Gefängnis werfen oder noch strengere Maßnahmen ergreifen sollte!“ (sinngemäße Rückübersetzung)

Aber sein Ruhm und Ansehen hatte weltweit so ein großes Ausmaß angenommen, dass der Obrigkeit nichts anderes übrig blieb, als zähneknirschend zuzusehen; sie konnte nichts gegen ihn tun. Aber anstatt Tolstoi wurden nun seine Schüler verfolgt: Vladimir Certkov verbannte man aus Russland und Pavel Birjukov verbrachte acht Jahre in Verbannung weit abgelegen auf dem Land. Letzterer verfasste später eine detaillierte Biographie über „Lev N. Tolstoi“ in drei Bänden, die nachkommenden Generationen als Vorbild dienen sollte.

Die Verfolgungen wurden immer heftiger; zusammen versuchten Staat und Kirche sowohl die Volksbewegung als auch die religiöse Bewegung zu unterdrücken und zu zerschlagen. Tolstoi wandte sich in einem Brief direkt an den Zar, um die Gläubigen der Duchoborzen zu unterstützen, die sich für Gewaltfreiheit und zivilen Ungehorsam einsetzten.

Tatjana, Tolstois Tochter, kämpfte mutig im Sinne ihres Vaters und wies damit den Unterdrückten auch den Weg.

Menschen! Seid menschlich!

„Auferstehung“ ist das Werk, in das Tolstoi die Quintessenz der Kunst und Idee einfließen ließ. Er wollte die verfolgten Glaubensgemeinschaft der Duchoborzen mit der Veröffentlichung dieser Abhandlung unterstützen. Mit 61 Jahren begann er daran zu schreiben und vollendete es erst in seinem 71. Lebensjahr; er schrieb zehn Jahre mit Unterbrechungen daran.

„Dürfen Menschen ihre Mitmenschen wirklich verurteilen?“ – das ist das Thema, das uns Tolstoi als Frage stellte. In „Auferstehung“ sind folgende Szenen beschrieben:

Ein Mann sah mit eigenen Augen, dass man Gefangene wie Sachen behandelte, während sie in Wagons nach Sibirien transportiert wurden. In der Höllenhitze musste ein Gefangener sterben, weil er selbst nicht mehr imstande war, allein Wasser zu trinken. Und obwohl ein Transportoffizier erfuhr, dass sich eine der Frauen, im vergitterten Wagon eingesperrt, ohne Hilfe in den Wehen quälte, machte er keine Anstalten, ihr zu helfen.

Wie schrecklich ist das!

Aber warum kann so etwas überhaupt geschehen?

Er folgerte: „Sie müssten überzeugt sein, dass es eine Beschäftigung geben muss, bei der man mit den Mitmenschen wie mit Sachen, ohne ein menschliches, brüderliches Verhalten gegen sie, umgehen darf. (...)

Die ganze Sache ist die, dass die Menschen glauben, es gebe Situationen, in denen man mit den Menschen ohne Liebe umgeben dürfe; solche Situationen gibt es aber nicht! (...)

Behandle die Menschen nur ohne Liebe, wie du gestern deinen Schwager behandelt hast, und es gibt keine Grenzen mehr für Bestialität und Grausamkeit den anderen Menschen gegenüber, wie ich es heute gesehen habe, und es gibt keine Grenzen für das eigene Leiden, wie ich es in meinem ganzen Leben erfahren habe. Ja, ja, es ist so!“ (aus „Auferstehung“)

In diesen Worten, denke ich, kristallisieren sich die Überlegungen Tolstois. Den Führer der russisch-orthodoxen Kirche führte er in diesem Buch unter einem anderen Namen als ein Beispiel für solche Menschen vor, die dumm sind und denen es an moralischen Empfindungen mangelt. Der Ärger von Seiten der Machthaber stellte sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ein und war so etwas wie eine natürliche Schlussfolgerung.

Auf alle Fälle wollte Tolstoi der Literatur diese Person als einen „Alten, der böse, kaltblütig und gewissenlos war“, ewig und unauslöschbar einprägen.

Als Krönung der Geschichte in „Auferstehung“ sagt ein alter Bauer:

„Ich habe allem entsagt: ich habe keinen Namen, keine Heimat, kein Vaterland, ich habe nichts. Ich bin für mich. – ‚Wie heißt du?’ – ‚Mensch’. (...)

Er ist Zar über sich, und ich bin Zar über mich. (...)

Jeder soll er selber sein, und alle werden einmütig sein.“

Dies ist zurecht der Ruf des Königs der Menschen. Keine Firma, keine Schule, kein Staat – es gibt nichts, was über den Menschen steht. Allen wohnt das „würdevollste Leben“ inne. Ich wünsche mir das 21. Jahrhundert, in dem es zunehmend strahlt, zu schaffen.

Lehrer sollen ihren Studenten dienen, Ärzte ihren Patienten und Politiker dem Volk – das ist ihre vorrangigste Aufgabe. Dennoch gibt es Menschen, die nur für sich denken. Das ist ein großer Irrtum. Wir müssen diese Verdrehtheit berichtigen, denn es ist der erste Schritt zum „Jahrhundert der Menschenrechte“.

Mit demjenigen, der gegen Schwierigkeiten kämpft,

gemeinsam aufstehen

Es ist ein Akt der Menschenliebe, sie wird die Welt von Frieden und Glück erweitern. Nichiren Daishonin ermutigt Shijo Kingo (1230-1300), seinen Schüler, der gegen schwierige Bedingungen hart gekämpft hatte, wie folgt:

„Gesetztenfalls, Sie wären wegen Ihres schweren Vergehens in die Hölle gefallen, würde ich es ablehnen, ein Buddha zu werden, ganz gleich, wie sehr Shakyamuni Buddha versuchen würde, mich dazu zu bewegen. Ich würde lieber mit Ihnen in die Hölle gehen; wenn Sie und ich gemeinsam in die Hölle fielen, würden wir dort Shakyamuni Buddha und das Lotos-Sutra finden. Es wäre wie der Mond, der in die Finsternis eintritt und sie vertreibt, wie kaltes Wasser, das in heißes gegossen wird, wie Feuer, das das Eis schmelzen lässt oder wie die Sonne, die die Dunkelheit vertreibt.“ (Gosho Band II, Seite 256; japanische Gosho, Seite 1173)

Wie stark und kraftvoll seine Worte sind! Er ist felsenfest entschlossen, keinen einzigen Menschen, der sich quält, in Stich zu lassen, und mit ihm zusammen zu leiden und gemeinsam aufzustehen. In diesen Worten ist es von Überzeugung des Ursprünglichen Buddhas übergeströmt. Wie stark sich Shijo Kingo ermutigt fühlte!

Über Leben und Tod hinaus auf dem Weg der Gerechtigkeit zusammen voranzuschreiten, gerade hierin liegen der Kern der wahren Beziehung von Meister und Schüler, die Bindung der wahren Freundschaft und schließlich die Seele des Buddhismus. Den einen Menschen zu retten, ist nur durch großen Mut, Mitgefühl und Ermutigung möglich.

Der Stolz Russlands

In „Auferstehung“ wurden viele Stellen, die der Regierung ungünstig erschienen, durch die russische Zensur wegstrichen. Aber das Buch wurde fast zeitgleich in Englisch, Französisch und Deutsch veröffentlicht, was eine Sensation in der ganzen Welt auslöste. Tolstois setzte seinen Kampf gegen die Gewalt zäh und unermüdlich fort.

Die Kirche war betroffen und verwirrt. Im Jahr 1901, in dem Tolstoi 73 Jahre alt war, exkommunizierte ihn die Kirche einfach. Den Beschluss der Exkommunikation entnahm Tolstoi einem Zeitungsbericht. Nachdem er ihn fertig gelesen hatte, setzte er sich den Hut auf und ging wie gewohnt spazieren. Er blieb völlig gelassen.

Die Menschen jedoch, die aus seinen Ideen gelernt hatten, empörten sich über diese ungerechte Entscheidung und protestierten heftig. Die ganze Welt unterstützte Tolstoi als das Gewissen, das gegen das Böse der Macht kämpfte. Letztlich bewirkte seine „Exkommunikation“ einen vollkommen entgegengesetzten Effekt.

Ein Rezensent, der Tolstoi gegenüber kritisch stand, schrieb in seinem Tagebuch aus Ärger folgendes:

„Fluch über ihn (Tolstoi), und die Orthodoxie beschließt gegen ihn. Tolstoi gibt die Antwort darauf, und sie wird handschriftlich verbreitet und auch noch in ausländischen Zeitungen gedruckt. Wenn jemand gegen ihn handelt, stiftet die Welt Aufruhr, sodass die Obrigkeit unseres Landes den Schwanz einzieht.“ (sinngemäße Rückübersetzung)

Tolstois wurde ein Briefbeschwerer aus grünem Glas zugesandt, der von den Arbeitern einer Glasfabrik hergestellt worden war. Zusammen mit ihren Unterschriften war ein Text mit eingebrannt, der wie folgt lautete:

„Sie teilen mit vielen großen Persönlichkeiten, die der Zeit voranschritten, das gleiche Schicksal. Früher wurden solche Vorkämpfer auf dem Scheiterhaufen verbrannt, wurden ins Gefängnis geworfen oder mussten in die Verbannung gehen und gingen zugrunde. (...) Die Menschen in Russland werden Sie als ihre eigene verehrungsvolle, teure Große Persönlichkeit schätzen und ewig stolz auf Sie sein.“ (sinngemäße Rückübersetzung)

Um Tolstoi zu beschützen, standen zuerst die Studenten auf und riefen nach Gerechtigkeit. Ihnen schloss sich die Bevölkerung an. Am Tag, an dem Tolstois Exkommunikation in der Zeitung veröffentlicht wurde, machte er einen Spaziergang in Moskau. Ein Mann, der dies bemerkte, sagte zynisch:

„Schau! Da ist ein Teufel, der sich eine menschliche Hülle angezogen hat.“

Aber die meisten Menschen, die sich nach ihm umschauten, riefen ihm völlig anders gestimmt zu:

„Hurra! Graf Lew Tolstoi!

Hoch! Der große Geist!“

Der durch nichts zu unterdrückende Ruf der Menschen, die einem Menschen der Gerechtigkeit zustimmten, kannte kein Ende.

(aus „Seikyo Shimbun“ vom 21. Dezember 2002)

";s:12:"content_meta";N;}