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Essay Nr. 2

„Das Leben ist wunderschön“ von SGI-Präsident Ikeda

Tooru Tsuji,

Forscher der französischen Literatur

Frisch und frischer! Werde ein Mensch, der bewundern kann!

„Als ob ich allein und schleppend im langen Tan’na Tunnel laufen würde, dachte ich.“

Ein solches Gefühl, so gestand er mir, hatte Herr Tsuji, während er den Roman von Victor Hugo (26.11.1802-22.5.1885) „Die Elenden“ ins Japanische übersetzte. Denn wie man weiß, ist es ein langer Roman, für dessen Übersetzung, einschließlich der Fußnoten, nahezu 4500 japanische Manuskriptseiten benötigt wurden. Er übersetzte und übersetzte immer weiter, aber es kam ihm dennoch so vor, nie zum Ende zu gelangen.

Zweieinhalb Jahre lang befand er sich nur in seinem Zimmer zu Hause, als sei er eingeschlossen. Äußerst selten erlaubte er sich, auszugehen. „Das Schreibzimmer war einem Gefängnis gleich . . . der Name des Galeerensträflings Jean Valjean prägte sich mir tief in mein Herz ein.“

Dank seiner derart unbeschreiblichen Bemühungen sind wir heute in der Lage, im Weltmeer der Literatur Hugos zu schiffen. Jedoch wurde seine Mühe nicht nur verstanden. Eines Tages zeigte er die Manuskripte seiner groben Übersetzung einem seiner Kollegen, der an der Universität Französisch unterrichtete. Bei dieser Gelegenheit bekam Herr Tsuji von ihm einen herben Kommentar zu hören:

„Meinen Sie, dass die Werke von Victor Hugo so schlicht und einfach sind? Wie wäre es denn, wenn Sie den Text noch originalgetreuer übersetzen würden?“

Für Herrn Tsuji war diese Bemerkung nicht nachvollziehbar. Denn er dachte, dass, wenn die Texte allzu wörtlich (direkt) übersetzt würden, Hugos Hauch nicht zum Tragen kommen könne. So gab er sich unwahrscheinlich viel Mühe und quälte sich aufs äußerste, um neben der Genauigkeit in der Übersetzung auch treffende japanische Ausdrücke zu finden. Nichtsdestotrotz meinte sein Kollege, es sei noch zu leicht verständlich.

Zufälligerweise erhielt Herr Tsuji einen Besuch seines französischen Freundes, der in der Nachbarschaft wohnte. Er bat ihn, den Originaltext von Hugo zu lesen, und frage ihn:

„Nun, wie ist es? Ist er schwierig zu verstehen?“

„Um Himmels willen. Welche Passagen sollen schwerverständlich sein? Es ist ein Roman, der in schlichtem, aber stillvollem Französisch geschrieben ist, den man auch verstehen kann, selbst wenn man manche Stellen nur überfliegt. Ich denke, auch Schüler der Grundschule können diesen Text sicher ohne Probleme lesen und verstehen.“

Das Werk, von dem damals die Rede war, ist ein Roman mit dem Titel „Bug-jargal“, den Voktor Hugo in seiner Jugendzeit schrieb. Unabhängig davon, ob die gesamten Werke von Hugo auch von Grundschulkindern verstanden werden können oder nicht, fand Herr Tsuji die Gewohnheit der Japaner, schwierigere Texte für besser und überragender zu halten, sehr peinlich. Die Japaner können ganz und gar nicht verstehen, dass leichter und verständlicher zu schreiben ein höchst schwieriges Unterfangen ist!

Es ist unklar, warum sie sich vor der Autorität schwach, kriecherisch oder eitel verhalten. Sie preisen solche Texte, die im schlimmsten Fall nur wegen der falschen Übersetzung zu schwerverständlichem Japanisch wurden. „Weil solche Leser, von der Macht der Schrift beeindruckt, eher ein Gefühl bekommen, es sei darin etwas mystisches, abstruses enthalten“, so schrieb Herr Tsuji einmal. (aus „Mainichi Shimbun, datiert am 16. 2. 1960)

Weiterhin schrieb er: „Es ist selbstverständlich notwendig, sich anzustrengen, um den schwierigen Inhalt der Texte zu verstehen. Jedoch finde ich es sehr schade und problematisch, wenn ich bei vielen Menschen feststellen muss, dass sie gerade wegen dieser Anstrengung etwas eigentlich einfaches, aber doch wichtiges übersehen. Studenten, die nicht in der Lage sind, sich mit einem Ausländer in einfacher Konversation zu verständigen, mögen sich ihren Kopf um die Grammatik zerbrechen, die auch für den Ausländer selbst unverständlich zu sein scheint. ... Ich kann mein Gefühl nicht verbergen, dass Unkompliziertes aber Wesentliches überall vernachlässigt wird.

Lasst die Menschen „durch die Kultur munter und heiter“ werden!

Je mehr ich beim Gespräch von ihm hörte, desto klarer wurde mir, dass Herr Tsuji einer der in Japan mittlerweile selten gewordenen Menschen ist, die sich ihre Gedanken „aus dem wesentlichen Aspekt“ machen; weder trägt er ein exzentrisches Wesen zur Schau noch hebt er sich als klug hervor.

Unter den Freunden von Herrn Tsuji befand sich ein Mensch, der Selbstmord begehen wollte, weil sein Geschäft in Konkurs ging. Als die Zeit nahte, schließlich das Gift einzunehmen, hörte er zum Abschied von dieser Welt ein Musikstück von Ludwig van Beethoven (17.12.1770-26.3.1827). Während des Zuhörens erwuchs in ihm ein Gefühl, durch irgendetwas erschüttert zu werden. Entschlossenheit, Leidenschaft und Schönheit, all dies war in dieser Musik. Er war tief beeindruckt. „ ... ich sollte mich entschließen, mich noch einmal anzustrengen.“ Er überlegte es sich noch einmal und gab den Gedanken auf, Selbstmord zu begehen.

Bezugnehmend auf diese Geschichte erzählte Herr Tsuji: „Die Kunst sollte eigentlich von solcher Art sein.“ Damit meinte er, sie sollte etwas sein, das die Menschen dahingehend ermutigt, sich zu entschließen, noch stärker, noch weiser zu leben und ein schönes Selbst zu entwickeln.

Gerade Ergriffenheit zu erzeugen, ist das Wesen der Kunst. Er sagte:

„Ich kenne viele Menschen, die zu Werken von Beethoven beispielsweise Kommentare abgeben, wie ‚das Quartett spielt hervorragend, aber es ist doch vom Klavierstück beeinflusst ...’, als würden sie sich bestens auskennen, versuchen sich besonders hervorzutun. Jedoch gibt es hier mit dem Wesen der Kunst überhaupt keinen Zusammenhang.“

Ich bin auch seiner Ansicht.

„Kenntnis“ zu besitzen und tatsächlich zu schmecken unterscheiden sich voneinander; die Namen der Speisen zu kennen bedeutet nicht, das Essen auch zu genießen. Kostet man nicht, so kennt man den Geschmack im wesentlichen nicht. Außerdem kann man sich von „Kenntnis“ nicht ernähren.

Hugo: „Ich stehe an der Seite der Schikanierten“

In unserem täglichen Leben verhält es sich genauso. Wenn es uns an Bewunderung der Kultur mangelt, bleiben wir geistig unterernährt.

In diesem Sinne denke ich doch, dass nur solche Menschen, die ungekünstelt sind und mit ihrem Wissen nicht prahlen, bereit sind, ihre Herzen für die Kultur zu öffnen. Sie sind diejenigen, die alles Gute offen bewundern, wahre Kulturmenschen sowie wahre Gebildete. Für sie ist das Leben voller Spannung. Es ist unnötig, mit einem Gefühl zu leben, als ob man jeden Tag Sand kauen würde oder, an eine graue Wand gepresst, ersticken müsste. Machen Sie das Fester auf! Das Fenster des Herzens!

Wenn die Japaner das Fenster ihres Herzens öffnen und ihre Lebensweise tagtäglich bereichern, wird sich somit ihr Leben schwungvoller erweitern. So gibt es meines Erachtens keinen Zweifel, dass nicht nur die stagnierende Wirtschaft, sondern auch ganz Japan lebhafter würde. Aufgrund der nicht „ausgeliehenen“, sondern der wahren Kultur wird sich die Gesellschaft völlig wiederbeleben.

Zur Literatur allgemein äußerte sich Herr Tsuji ebenfalls: „Wenn man sich nur in der Handlung von ‚Die Elenden’ auskennt, bleibt einem jeglicher Bewunderung fremd. Wenn es sich nur darum dreht, die ganze Geschichte gut zu kennen, wird man bis zum Ende in einer Ebene bleiben, als oberflächlicher Kenner nur seine Eitelkeit zu befriedigen. Es kommt öfter vor, dass der Kern der Meisterwerke vielmehr den feinen Beschreibungen innewohnt.“

Weiterhin war er darum besorgt, dass „Japaner von heute kaum an etwas anderem als Fernsehsendungen und oberflächlichen Zeitschriften Interesse zeigen. Insbesondere lesen die jungen Leute immer weniger gute Bücher. Wenn sie schon mal lesen, dann sind es nur Comics. Und wenn sie nach der Schule anfangen zu arbeiten, dann gilt ihr Interesse hauptsächlich der Höhe des Gehalts . . . das große Ideal ist verschwunden.“

Rettet Mütter und Kinder!

Die Werke von Victor Hugo waren die Lieblingsbücher in meiner Jugendzeit.

Ich erinnere mich daran, dass ich in einer Hochsommernacht zum Friedhof von Zoshigaya ging, denn dort war es angenehm kühl, um auf einer Strohmatte im Schein einer Taschenlampe, „Die Elenden“ zu lesen. Oder mein Meister, Toda Sensei (11.2.1900-2.4.1958), schenkte mir den Roman „Das Jahr 1793“, indem er sagte, „dieses Buch“, als habe er seinen letzten Willen zum Ausdruck bringen wollen. Den Mitgliedern der Jugendabteilung ermöglichte ich, einer nach dem anderen dieses Buch zu lesen.

Las ich Hugo, so quoll stets Mut hervor und breitete sich in meinem Herzen aus.

Grüble nicht!

Mache dich von vorübergehender Freude oder Sorge nicht abhängig!

Schaue zum Himmel empor! Siehe die Historie! Und schaue das Unendliche deines Selbst!

Mir kam es vor, als ob auf einmal frische Luft aus dem großen Dachfenster hereinwehte.

Das war Japan unmittelbar nach dem Ende des verlorenen Krieges. Es herrschte Chaos. Zur Zeit, in der Hugo lebte, war es das gleiche; zwischen der Republik und Alleinherrschaft, zwischen der Revolution und Unterdrückung schwankte es wie ein Pendel.

Inmitten dieser Zeit besaß Victor Hugo einen unerschütterlichen Maßstab: „Ich stehe an der Seite der Schikanierten.“ Er schrieb: „Zwischen den Menschen, die auf die Probe gestellt werden, werde ich mein Zelt aufschlagen.“ (aus „Les Châtimes“, sinngemäße Rückübersetzung)

Ich war tief berührt. Das muss sein, das ist korrekt und das ist die Gerechtigkeit. „Les Misérables“, der Titel des Romans, bedeutet „die Elenden“. Seine Liebe zu den Leidenden und sein Zorn über hochmütige Menschen, die sie im Stich lassen oder gar quälen!

„Wenn sie alle Frauen umbringen, Kinder massakrieren, alte Menschen foltern und Einsiedler allesamt mit ihren Häusern verbrennen, meinen sie denn, dass ihre Behauptungen dadurch heilig und richtig werden können?“ (aus dem Roman „Bug-jargal“, sinngemäße Ruckübersetzung)

Revolutionäre! Tötet keine Menschen im Namen der Revolution!

Machthaber!

Bringt keine Menschen um, im Namen der Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens!

Rettet zuerst Mütter und Kinder!

Rettet arme Menschen!

Die Menschen, die Mordtaten verüben, werden wahrscheinlich versuchen, allerlei vortreffliche Gründe zu finden, um ihre Motivation zu rechtfertigen. Wie zum Beispiel: „Das ist doch nur ein wievieltel von dem, was die anderen getan haben“ „Wir müssen etwas unternehmen, ehe sie uns angreifen“ oder „Um der Gerechtigkeit willen müssen wir töten, selbst wenn es uns noch so schrecklich leid tut.“ Das ist alles Vernünftelei, die von der Täter-Seite stammt. Wenn man aber von der Seite derer, die getötet werden, ausgeht, ist das doch Faselei. Nur Menschenliebe ist eine „noch höhere Gerechtigkeit“. (aus „Die Elenden“, sinngemäße Rückübersetzung)

Victor Hugo stellte sich der Todesstrafe entgegen und erträumte sich so sehr ein vereintes Europa ohne Kriege; er appellierte, Gedanken der Munition vorzuziehen; er rief, dass die Revolution erforderlich, jedoch keine Gewalt notwendig sei; und er klagte, dass Religionen heilig, aber Priester Schmarotzer sind, die Religionen zerfressen.

Hugo, der dachte, „Abgeordnete sind Diener“, wurde Politiker und hielt im Parlament eine Rede: „Ihr, Abgeordnete! Ihr seid eigentlich für die armseligsten Menschen da. Ihr müsst ihnen gegenüber sanftesten Respekt und Liebe, sowie das heftigste und schmerzvollste Mitgefühl aufbringen. Wenn das nicht der Fall wäre? Und wenn das nicht der Fall ist, Oh, Ihr irrt euch gewaltig!“

Wissen muss umfassend sein

Die Werke von Victor Hugo befanden sich stets in meiner Nähe. Namentlich war mir Herr Tsuji, als Übersetzer der Werke von Victor Hugo bereits aus früherer Zeit bekannt. Aber die Gelegenheit, ihn persönlich kennenzulernen, ergab sich erst im Herbst 1993, als die Soka Universität entschied, ihm aufgrund seiner langjährigen kulturellen Verdienste eine Ehrendoktorwürde zu verleihen. Das geschah genau 200 Jahre, nachdem Victor Hugo auf Grundlage der historischen Ereignisse seinen Roman „Das Jahr 1793“ niedergeschrieben hatte.

Am 4. November, gleich nachdem Herr Tsuji, von seiner Ehefrau begleitet, an der Soka Universität ankam, schaute er an der Statue von Victor Hugo, die in der Eingangshalle der Vorlesungshalle steht, tief beeindruckt empor. In den Sockel dieser Statue ist eine berühmte Passage aus „Die Elenden“ eingraviert:

„Ein Schauspiel ist erhabener als das Meer, es ist der Himmel. Ein Schauspiel ist erhabener als der Himmel, es ist das Innere der Seele.“

Der Arbeitsplatz von Herrn Tsuji kann wohl einer kleinen Gefängniszelle ähnlich gewesen sein. Jedoch müssen sein Geist und Herz vereint mit Hugo im Universum der Historie, der Gedanken und der menschlichen Dramen dynamisch in Bewegung gewesen sein.

Er, der eine Brille mit schwarzem Gestell trug und mit strubbeligen, teilweise ergrauten Haaren und einer Krawatte erschien, machte auf mich den Eindruck, als fühle er sich eingeengt. Es herrschte eine Atmosphäre, die solche Persönlichkeiten ausstrahlen, die intensiv mit der Forschung beschäftigt sind und an ihrem Aussehen kaum Interesse haben. Das war eine erhabene Erscheinung. Auch Dr. Toynbee sagte: „Ich würde lieber Bücher kaufen, wenn ich Geld für Kleider hätte.“ Völlig gleichgültig zog er eine Hose an, die ihm zu kurz war.

Im ersten Augenblick unserer Begegnung sagte Herr Tsuji, dass er sich auf heute freut, „weil er bislang öfters leidvolles erlebt hat“. Das kam mir vor, als ob sein Gefühl plötzlich und unvorbereitet aus seinem Mund hervorgesprungen wäre. Da er einen geradlinigen Charakter hatte und keine einfachen Kompromisse einging, könnte er möglicherweise oft mit den Menschen in seiner Nähe zusammengestoßen sein. Auch während der Zeit, in der er an der Universität Tokio französische Sprache unterrichtete, trug er im Bildungsministerium sowie an der Universität seine Ansicht engagiert vor: „Mit dieser Lehrmethode kann niemand sich eine Fremdsprache zu eigen machen.“ Dadurch, sagte man, wurde er von manchen Kollegen abweisend behandelt.

Ihm gab ich meinen Gedanken offen kund:

„Ab jetzt wird die Kenntnis der Fremdsprachen immer wichtiger. Es ist notwendig, dass wir mit größeren Herzen die Kultur fremder Länder kennenlernen und uns immer mehr mit allen Menschen in der Welt verständigen. Herr Tsuji, Sie beherrschen fünf Fremdsprachen und haben schon 500.000 Karten für einzelne Wörter angesammelt. Das ist eine ungeheuere Leistung. Sie sind unser Vorbild.“

Herr Tsuji entgegnete daraufhin: „Wahrscheinlich aus dem Grund, dass die meisten Japaner von ihrer alten Tradition der Isolation des Landes noch nicht befreit sind, haben sie eine enge Perspektive. ... Sowohl im Ausland als auch in Japan habe ich zwar viele Arbeitskollegen, aber mit den ausländischen Kollegen kann ich besser kommunizieren. Weil sie keine seltsamen Vorurteile haben und offen sagen, was gut und was schlecht ist, können wir uns ohne vorgefasste Meinung schneller miteinander verständigen.“

Außerdem pflegte er zu sagen: „Da Japaner in ihrer spezifischen Welt, wie in Arbeitsplätzen oder in Fachbereichen verschlossen bleiben, neigen sie leicht dazu, ein Desinteresse gegenüber der Gesamtheit des Gesellschaftslebens, von dem wir umgeben sind, zu entwickeln. Sie haben eine starke Tendenz, einmal der gegebenen Umgebung angepasst, sich schließlich völlig von ihr gefangen nehmen zu lassen. So kann sich die Gesellschaft nicht entwickeln. Die Bildung in Japan ist sehr spezialisiert; es ist eine Tendenz festzustellen, dass man keine Literatur kennt, selbst wenn man sich in der technologischen Wissenschaft auskennt, oder dass man keine wirtschaftliche Lehre kennt, obwohl man sich in der Literaturwissenschaft auskennt. Das ist einseitig. Eine solche Situation ist nicht hinnehmbar, denn Menschen sind eigentlich vielseitig. Wissen, das nicht mit Menschen befasst ist, stellt eine Gefahr dar.“

Liebe Kinder! Ich erzähle euch ein Geheimnis, glücklich zu werden.

„Es ist, – die Menschen liebend – zu arbeiten.“

Auch die Literatur, die sich der Gesellschaft entfremdet und sich verschließt, betonte er mit Nachdruck, wird kleiner und ärmlicher. Geschweige denn, Religionen werden dogmatisch und dann zugrunde gehen, wenn sie der Gesellschaft den Rücken kehren.

Er erzählte mir: „Die Literatur von Victor Hugo wurde von Lew Tolstoi (1828-1910) übernommen und zeigte starke Einflüsse auf die Revolutionsbewegung, die in vielen Ländern stattfand. Als die Länder in Mittel- und Südamerika ihren Befreiungskampf gegen die Kolonialherrschaft durchführten, wurde Hugo zu ihrer geistigen Stütze.“ Sowohl bei Widerstandkämpfern im zweiten Weltkrieg als auch bei der Reformbewegung zur Modernisierung in China scheinen Werke von Victor Hugo gelesen worden zu sein.

Seine Ehefrau Tomoko, die, Anmut ausstrahlend, dem Treffen beiwohnte, brachte ihre Freude über unsere erste Begegnung zum Ausdruck, indem sie sagte: „Mein Mann ist jemand, der sich in seinem ganzen Leben ausschließlich mit Hugo beschäftigt. Dies ist doch möglicherweise eine Beziehung, die durch Victor Hugo hergestellt worden ist.“

Sie erinnerte sich daran, dass sie mehrmals an den Prüfungen teilgenommen hatte, die von „Jishu-Gakkan“, der durch Toda Sensei gegründeten Privatschule initiiert wurden. Sie sagte: „Die Prüfungen von Jishu-Gakkan waren damals bestens dazu geeignet, den Kenntnisstand, den wir hatten, festzustellen, um uns für die Aufnahmeprüfung in die Oberschule vorzubereiten. Ich kann mich noch gut entsinnen, dass wir alle wissbegierig zur Prüfung gegangen sind.“

Beim Abschied erzählte ich Herrn Tsuji:

„Sowohl Ihr geehrter Vater als auch Ihr junger Bruder sind Künstler der europäischen Malerei, nicht wahr?“

Sein Vater, Hisashi Tsuji, war der erste Generaldirektor des „Nitten“ [Japans traditionsreichster Verband für Maler, Bildhauer, Kunstgewerbler und Kalligraphen]. Als ich ihm mitteilte, dass ich vor etlichen Jahren ein Werk seines Vaters „Suma-no Seijitsu (Der ruhige Tag von Suma)“ gekauft hatte und es sorgfältig aufbewahre, um es anzuschauen, zeigte er sein Erstaunen mit großer Freude.

Eines Tages soll Herr Tsuji zu seinem geehrten Vater halb scherzhaft gesagt haben:

„Du malst schon 40 Jahre lang nur Bilder. Ich wundere mich, dass du dem nicht überdrüssig wirst!“

Darauf erwiderte sein Vater etwas entrüstet:

„Du sagst aber etwas merkwürdiges. Ich habe zwar lange Jahre Bilder gemalt, dennoch habe ich kein einziges Bild gemalt, von dem ich völlig überzeugt bin. Ich weiß nicht, wann ich sterben werde, und ich mache mir große Sorgen darum, ob ich bis dahin überhaupt ein einziges Bild, das mich zufrieden stellt, malen kann.“

Das waren die Worte eines Mannes, der die Kunst inniger liebt als sich selbst.

„Wahre Liebe macht uns nicht müde“

Es gibt eine Notiz, die Victor Hugo drei Tage vor seinem Tod schrieb. Sie ist im Museum der Literatur von Victor Hugo, das ich in Frankreich gründete, aufbewahrt; sie ist als Nationalschatz deklariert. Darin steht geschrieben:

„Lieben ist handeln.“ (sinngemäße Rückübersetzung)

Hugo liebte sein ganzes Leben lang Kinder, und auch während seines Exils auf einer Insel lud er oft Kinder zum Essen ein. Im Jahr vor seinem Tod, er war schon 82 Jahre alt, bot er Kindern in einem Dorf in Frankreich ein Mittagsmahl an. Dabei lehrte er sie: „Kinder, hört gut zu! Wenn Ihr dies wisst, wird es Euch nicht schaden! Ich sage es Euch, weil ich wünsche, dass Ihr glücklich werden sollt. Das Geheimnis, nicht ins Unglück zu fallen, ist, – die Menschen liebend – zu arbeiten.“

Er scheint uns, sagen zu wollen:

Ihr werdet unglücklich, solange Ihr euch nur über euch selbst Gedanken macht. Vielmehr mögt Ihr euch um die anderen Menschen kümmern. Lebt, die Menschen und eure Lebensaufgabe liebend. Dann könnt Ihr jederzeit Mut hervorbringen. Einmal schrieb Victor Hugo folgendes: „Die wahre Liebe macht uns mitnichten müde.“ (aus „L’Homme qui rit (Der Mann, der lacht)“, sinngemäße Rückübersetzung)

Das Feuer im Feuerbecken wird irgendwann ausgehen, aber das Feuer der Sonne nicht. Hugos Herz war wie die Sonne entbrannt. Obwohl ihm wegen „zuviel Liebe“ einiges misslang, war bei ihm von „zuwenig Liebe“ nie die Rede. Für ihn gab es kein schlimmeres Laster als „Gefühllosigkeit“. Er war eine grandiose Flamme der Liebe.

„Herr Tsuji, was ist für Sie wichtiger, Arbeit oder Ihr eigenes Leben?!“

„Das ist klar, die Arbeit ist wichtiger!“

Die Übersetzung, denke ich, mag auch eine Arbeit der Liebe sein. Die Liebe zu den Werken und die Liebe zu den Lesern. Ohne sie kann man keine Worte spinnen, die in die Herzen der Leser eindringen.

Bei seiner Arbeit, in der er sich mit Victor Hugo befasste, fügte er im Manuskript immer wieder neue Korrekturen hinzu, so sagte er. Das Manuskript, das seine Frau zuletzt sauber geschrieben hatte, korrigierte und verbesserte er immer weiter; das wurde stets wiederholt. Frau Tsuji bezeugt: „Er war ein Mensch, der sich nie zufrieden gab, bis er das äußerste erreicht hatte.“

In den letzten Jahren seines Lebens widmete Herr Tsuji seine ganze Kraft und Leidenschaft der Bewerkstelligung der zehnbändigen Gesamtausgabe der Werke von Victor Hugo. Denn es gab in Japan nach der letzten Ausgabe seiner Werke, die in der Taisho Ära (1911-1925) zustande gekommen war, keine weitere Veröffentlichung mehr.

Herr Tsuji, der selbst während des Aufenthalts im Krankenhaus seine Manuskripte überprüfte, soll von einem Stationsarzt gefragt worden sein:

„Wenn Sie in Ihrem Alter noch dermaßen arbeiten, müssen Sie sterben. Herr Tsuji, was ist für Sie wichtiger, die Arbeit oder Ihr eigenes Leben?“

Herr Tsuji gab eine kurze Antwort:

„Das ist klar, die Arbeit ist wichtiger!“

Er war ein Mann voller Konsequenz; er besaß ein Aufgabenbewusstsein, seine Arbeit unbedingt bis zum Ende durchzuführen. Er war wie Gilliatt, der unbeugsame Mann, der im Roman von Victor Hugo „Les Travailleurs de la Mer“ beschrieben ist.

„Die körperliche Kraft auszunutzen, heißt nicht, den Willen auszuschöpfen. ... Obwohl er körperlich erschöpft war, wurde sein Geist umso stärker. ... Gilliatt schaute, wieweit seine Arbeit fortgeschritten war, er sah nur das. ... Während er alle möglichen Leiden ertrug, trat in seinem Herzen nichts anderes hervor als das Gefühl, ‚Schreite vorwärts!’ Weil er keinen anderen Gedanken außer seiner Arbeit hatte.“ (aus „Les Travailleurs de la Mer“, sinngemäße Rückübersetzung)

Am 15. Mai 2000 verstarb Herr Tsuji, er war 84 Jahre alt.

Letztlich hat er ein Jahr länger gelebt als Victor Hugo.

Es hieß, dass er, bis er in einen lethargischen Zustand verfiel, die Manuskripte an seiner Brust hielt.

(aus „Seikyo Shimbun“ vom 7. April 2002)

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