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Einsamkeit und Verbundenheit:

Das buddhistische Prinzip der Ausübung für sich und für andere

von Carola de Decker

„Wir dürfen im Leben nicht zulassen, dass wir nur von unmittelbaren Realitäten in Anspruch genommen wer­den. Wir müssen Ideale haben und uns bemühen, sie zu verwirklichen. So gehen wir über die gegenwärtige Realität hinaus. Andererseits dürfen wir uns nicht von der Realität entfremden. Wir können nichts verändern, wenn wir nicht mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen. (...) Der Buddhismus hat eine Verwandlung der Realität zum Ziel und seine Ausübung ist es, unter den Menschen mitfühlend zu wirken.“ (Daisaku Ikeda, FORUM Juli 1996, S. 22)

Manchmal fühlen wir uns einsam in dieser großen Welt, in diesem Universum voll mit Lebewesen. Manchmal füh­len wir uns abgeschnitten von allen anderen, verstehen sie nicht, wissen nicht, wie wir eine Verbindung herstellen können. Und trotzdem exis­tiert kein Mensch in Isola­tion, alles, was wir erleben und tun, beeinflusst unsere Umgebung oder unsere Um­gebung beeinflusst uns. Aber dennoch ist die Einsamkeit, die Beziehungslosigkeit von Menschen eines der größten Probleme in unserer Zeit. Ist es so, dass wir als Menschen letztlich alleine durch das Leben gehen? Oder können wir dauerhafte Beziehungen aufnehmen? Ist Einsamkeit nur eine subjektive Wahr­nehmung? Im letzten Forum ebenso wie im obigen Zitat wird beschrieben, dass es im Buddhismus um Verwand­lung der subjektiven, unter Umständen leidvollen Reali­tät geht. Wie das in Bezug auf das Gefühl der Einsam­keit funktionieren kann, soll im folgenden untersucht werden.

Einsamkeit und Verbundenheit

Bewusst oder unbewusst sind wir stets verbunden mit allen anderen Existenzen. Wir sind verbunden mit unse­ren Eltern, die uns geboren und erzogen haben, mit unseren Lehrern, die uns aus­gebildet haben, mit unseren Freunden, mit denen wir schöne und schwierige Zeiten erlebt haben. Eine Beziehung haben wir aber auch mit Menschen, denen wir noch nie begegnet sind, die unsere Wohnung gebaut und unsere Nahrung produziert haben. Und zu Menschen, denen wir nicht mehr begegnen werden, weil sie verstorben sind; aber sie haben uns Erinnerungen hinterlassen und prägen auf die eine oder andere Art unser jetziges Leben.

Der Buddhismus sagt: „Ohne Leben gibt es keine Umgebung, auch wenn das Leben von der Umgebung unterstützt wird“ (engl. Gosho, Band 4, S. 146). Die­ser Satz bedeutet nicht nur, dass der Mensch und sein Umfeld untrennbar verbun­den sind. Die Dynamik der buddhistischen Weltanschau­ung liegt darin, dass die Teile des eben zitierten Satzes nicht vertauscht werden können: Das individuelle Leben ist der Ausgangspunkt, ohne den es keine Umgebung gibt. Trotzdem kann es ohne die Umgebung und die Un­terstützung der Umgebung nicht existieren. Der Bud­dhismus sieht den Menschen stets als Initiator des Lebens, aber er bezieht auch den Ein­fluss der Umgebung mit ein. Die eigene subjektive Wahr­nehmung von der Umgebung entscheidet daher über die Art der Beziehung, die man zu dieser Umgebung herstellt. Wenn ich mich in einer Gemeinschaft einsam fühle, abgeschnitten von den Men­schen um mich herum, nehme ich mein Umfeld als etwas von mir Getrenntes, als etwas, das “anders“ ist, wahr. Die Beziehung zu meinen Mitmenschen geht also in erster Linie von mir selbst aus.

Allerdings ist die Bezie­hung, die der Buddhismus sieht, nicht nur eine ober­flächliche im Sinne der gegenseitigen Beeinflussung verschiedener Existenzen. Die tiefere Betrach­tungs­weise des Buddhismus liegt darin, dass alle Lebewesen Teil der letztendlichen Rea­lität sind, eins sind, der Buddha (der wir alle sind) ist das Eine, wir sind das Eine, alle Menschen sind Teil von mir und ich bin Teil aller Men­schen. Unser Selbst um­fasst alle anderen Men­schen. Das ist das „Große Selbst“ im Gegensatz zum „Kleinen Selbst“, das in den Grenzen des Egoismus, des “Anders­seins“ bleibt.

Der Buddhismus sagt, dass Einsamkeit, Isolation, Schwierigkeiten in der Beziehung zu anderen Men­schen daher kommen, weil man sich diesem Großen Ich nicht öffnet, weil man seine Grenzen zu eng zieht, weil man die Illusion des kleinen, individuellen Lebens aufrechterhält und hegt und pflegt. Weil man sich nicht verlässt auf die Einheit mit dem universalen Leben und auf die Kraft, die aus diesem Gefühl der Einheit kommt. Weil man Angst hat, sich in der Nähe zu anderen zu verlieren. Man geht alleine durch das Leben und dennoch ist das Gefühl der Einsamkeit nur ein Aspekt der subjekti­ven Wahrnehmung. Die verzweifelte Suche nach der richtigen Partnerin / dem richti­gen Partner, die eben­falls in den letzten beiden Studienartikeln beschrieben wurde, ist ein Hilfeschrei, ein Versuch dieses Alleinsein aufzulösen. Eine Liebes­beziehung ist eine tiefe Beziehung, aber sie kann das Gefühl der Isolation nur in einem Teilaspekt beseitigen. Der Schlüssel liegt in der Öffnung des eigenen Lebens. Dabei geht es aber nicht nur darum, anders auf Menschen zuzugehen. Der Buddhis­mus hat eine Ausübung, die eine Verbundenheit mit dem Universum erfahrbar macht und dadurch eine Verbun­denheit mit der eigenen Identität. Und zwar mit dem „Großen Selbst“.

Ausübung für sich und für andere

Die Erkenntnis dessen führte im Mahayana-Bud­dhismus zum Bodhisattwa-Ideal, das heißt, das Bemühen um eine Persönlichkeit, die ihre Verbundenheit mit ande­ren Menschen dadurch zum Ausdruck bringt und kontinuierlich erfrischt, dass sie sich dem Glück anderer widmet. Eine Persönlichkeit, die ihre Individualität in der Nähe zu anderen behält und kostbar macht. Diese Lebens­einstellung ist das Ziel, weil sie das eigene Glück, das aus dem Gefühl der Nähe und der Verbundenheit mit anderen Menschen kommt, beinhaltet.

Gleichzeitig ist die mitfüh­lende Tat aber auch der Weg hin zu diesem Ziel. Daher besteht die Hauptausübung des Buddhismus Nichirens in der Ausübung für sich und für andere (Jigyo keta). Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ich lernen möchte, Klavier zu spielen, kann ich nicht warten, bis mir eine höhere Macht die Finger lockert und führt. Ich muss Tonleitern üben, dann kleine Melodien, und nach und nach kann ich dann vielleicht irgendwann ein ganzes Stück spielen. Trotzdem entlocke ich dem Klavier bereits von der ersten Minute an Töne, die sicher­lich gar nicht so schlecht klingen. In diesem Sinne lehrte Nichiren Daishonin, dass Mitgefühl und das Große Selbst durch die Aus­übung für andere wachsen und erfrischt werden.

Ausübung für sich selbst bedeutet die Rezitation von Gongyo und Daimoku zum Gohonzon, der Verkörperung unseres Buddhazustandes. Ausübung für andere besteht darin, anderen Menschen die buddhistische Sichtweise und die Ausübung von Nam-Myoho-Renge-Kyo zu ver­mitteln. Dies beinhaltet auch die Ermutigung zu einem tieferen Glauben. Im Japani­schen steht Ji für das Selbst und Gyo für die Ausübung, Ke bedeutet zu bewegen und ta andere Menschen. Der japanische Ausdruck bedeutet wörtlich übersetzt also sogar „Selbst praktizieren und das Leben anderer bewegen“. Es geht also nicht nur um die Tat des Helfens, sondern um den viel tieferen Aspekt, anderen Menschen zu ermöglichen, ihr Leben selbst vorwärts zu bewegen, zu verbessern. Aus der Sicht des Buddhismus liegt die größte Unterstüt­zung, die man leidenden Menschen gewähren kann, darin, ihnen einen Weg zugänglich zu machen, mit dessen Hilfe sie die eigene Buddhaschaft öffnen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Die Auswir­kungen dieser unterschied­lichen Arten der buddhisti­schen Ausübung sind aller­dings umfassend: Denn das eigene Gebet zum Gohonzon hilft auch anderen, während die Ermutigung anderer auch zur eigenen Entwicklung beiträgt. Vor diesem Hinter­grund sagte Präsident Ikeda in einem Dialog mit japani­schen Jugendlichen auch: „Die Menschliche Revolution ist vergleichbar mit der Rota­tion eines Planeten um seine eigene Achse und Kosen-rufu ist wie die Rotation des Planeten um die Sonne. Diese zwei Rotationsbewegungen sind die Grundlage aller Bewegungen des Uni­versums. Es würde allen naturwissenschaftlichen Ge­setzmäßigkeiten widerspre­chen, wenn sich ein Planet nicht um die Sonne drehen würde.“

Gerade weil es so schwie­rig ist, sich in Zeiten eigener Probleme auch noch für andere Menschen zu bemü­hen, wird man in solchen Augenblicken sehr klar mit den eigenen egoistischen Tendenzen konfrontiert. Ein­samkeit entsteht, wenn man sich mit seinen Problemen alleine fühlt. Verbundenheit kann man spüren, wenn man gerade in solchen Augen­blicken auch die Probleme anderer Menschen wahr­nimmt und über sich hinaus­geht, um diese Menschen zu unterstützen. Man kann daher sagen, dass die Ausübung für andere ein enorm aufrichtiges und menschliches Verhalten darstellt. Weil das aber eines der schwierigsten Dinge überhaupt ist, sind die buddhistischen Aktivitäten ein äußerer Anlass und eine Hilfestellung, durch die man in die Lage versetzt wird, das Große Selbst im eigenen Leben zu entfalten. Denn natürlich setzt man sich auch ganz anders mit dem eigenen Glauben auseinander, wenn man sich darum bemüht, ihn anderen Menschen nahe zu bringen. Man erreicht daher eine ganz besondere Tiefe, die wiederum dazu führe, dass man seine Umgebung anders wahrnimmt und folg­lich anders handelt. Im Sinne der oben genannten Bezie­hung zwischen der/dem Einzelnen und ihrer/seiner Umwelt, schafft man sich auf diese Weise eine veränderte Umgebung. In diesem Zusammenhang erläuterte Präsident Ikeda in dem bereits oben erwähnten Dialog auch: „Ein schönes Beispiel sind die Aufnahme­prüfungen an der (japani­schen) Universität. Wenn man selbst dafür lernt, hat man vielleicht das Gefühl, dass das ganze Leben gerade nur aus diesem Problem besteht. Gleichzeitig hat man aber Freunde, die vielleicht auch unter Schwierigkeiten leiden. Wenn Ihr die Bedürf­nisse Eurer Freunde ignoriert und Euch nur um Euer eige­nes Wohl kümmert, bleibt Ihr gefangen in den sechs niede­ren Lebenszuständen. Wenn man sich aber gerade in diesem persönlich schwieri­gen Moment um sie kümmert und versucht, sie zu ermuti­gen, geht man den Weg des Bodhisattwas. Wenn dieses Mitgefühl sich von der individuellen Ebene auf die Ebene der Familie, des Landes und der ganzen Welt aus­breitet, wird eine unver­gleichliche, gewaltlose Revolution des Friedens statt­finden.“

Genau dies ist das\ Konzept von Kosen-rufu

Kosen-rufu bedeutet wört­lich „weithin verkünden und verbreiten“ und ist ein Begriff, der erstmals im 23. Kapitel des Lotos-Sutras erscheint, wonach Shakya­muni folgendes sagt: „Verwirklicht Kosen-rufu in der fünften 500-Jahr-Periode nach meinem Tod und lasst niemals zu, dass sein Fluss versiegt.“ Die eigentliche Bedeutung liegt aber in dem Konzept von Rissho Ankoku (,‚Die Schaffung von Frieden durch die Errichtung des Mystischen Gesetzes“). In dem von Präsident Ikeda oben erläuterten Sinne geht der Buddhis­mus Nichiren Daishonins davon aus, dass Frieden mir der Veränderung des einzelnen Menschen beginnt, das heißt mit einer Entfalt­ung des Mitgefühls zunächst auf persönlicher bis hin zur globalen Ebene. Der Weg, den der Buddhismus zur Verwirklichung dieses Ziels anbietet, ist die Aus­übung von Nam-Myoho-Renge-Kyo und das mitfüh­lende Verhalten gegenüber anderen Menschen. Er ist langfristig, aber dauerhaft, weil er auf der tiefsten Ebene des Lebens ansetzt und sich nicht mit kurz­fristigen Pro­blemlösungsversuchen begnügt.

In der buddhistischen Theorie wird zwischen zwei Aspekten von Kosen-rufu unterschieden: (1) Der Grundlegung des Mystischen Gesetzes (Hottai no Kosen-rufu) in Form der Definition von Nam-Myoho-Renge-Kyo und Einschrei­bung des Gohonzons durch Nichiren Daishonin. (2) Die Entfaltung des Mystischen Gesetzes (Kegi no Kosen-rufu) durch die praktizierenden Men­schen und die Schaffung einer friedlichen Gesellschaft.

Die Aufgabe eines/einer praktizierenden Buddhis­ten/in kann daher darin gesehen werden, das Mystische Gesetz im eigenen Leben zu entfalten. In der unmittelbarsten Form geschieht dies durch die Ausübung für sich und für andere und durch die Entwicklung des eigenen Mitgefühls. Mittelbar entfal­tet sieh das Mystische Gesetz von Nam-Myoho-Renge-Kyo aber auch und gerade in der Art und Weise des eigenen Verhaltens. Deshalb heißt es in der Gosho: „Leben Sie so, dass alle Menschen von Kamakura Sie preisen und sagen, dass Shijo Kingo fleißig ist im Dienst an seinem Herrn, im Dienst am Buddhismus und in seiner Sorge für andere Menschen. Wertvoller als die Schätze in einer Schatzkammer sind die Schätze des Körpers und die Schätze des Herzens sind die wertvollsten von allen. Bemühen Sie sich von dem Augenblick an, in dem Sie diesen Brief lesen, die Schätze des Herzens anzusammeln.“ (dt. Gosho, Band 2, S. 257)

Quelle: FORUM Juni 1999

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