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Der Fluss der Gedanken

Gongyo und Konzentration von Christian Jaburg

Wer mit der Praxis des Buddhismus Nichiren Daishonins beginnt, muss sich mit einer Menge neuer Fragen auseinandersetzen. Vieles bekommt man gelehrt. Vieles muss man sich erarbeiten. Eine Frage, die gerade von neu Praktizierenden immer wieder gestellt wird, ist: woran soll ich denken beim Gongyo und Daimoku?

Die Antwort ist in der Tat nicht so einfach.

Der Buddhismus lehrt, dass wir unser Karma durch drei Dinge erschaffen: unsere Taten, unsere Worte und unsere Gedanken. Bei Gongyo und Daimoku tun wir all dies. Wir sitzen aufrecht vor dem Gohonzon in der Haltung des Buddhas (die Tat), wir sprechen die Worte des Buddhas und rezitieren das Lotos-Sutra (das Wort), aber denken wir die Gedanken des Buddhas?

Wie sind die Gedanken des Buddhas? Woran denkt der Buddha?

Jeder, der sich selber beobachtet, stellt fest, wie leicht es ist, abgelenkt vor dem Gohonzon zu sitzen und zu chanten. Da ist die Verabredung nachher, der Film von gestern Abend, der noch zu schreibende Brief, der Termin beim Zahnarzt oder die Frage: was soll ich kochen, was ziehe ich an, sehe ich gut aus, was denkt er oder sie über mich, ist der Chef zufrieden, warum finde ich keinen Job? Wünsche, Ängste, Zweifel, Freude - alles mögliche schießt uns durch den Kopf. Ein Sturm von „acht Winden“.^1^

Konzentriertes Daimoku

Die Konzentration^2^ vor dem Gohonzon über längere Zeit aufrecht zu erhalten, gehört sicherlich zu den schwierigsten Dingen beim Chanten. Vielleicht aber auch zu den wichtigsten, wobei die Frage: konzentriert worauf? erst einmal zurückgestellt sei.

Nichiren Daishonin sagt über die Einstellung bei der Praxis:

„Wenn Sie die Anstrengungen von einhundert Millionen Äonen in einem einzigen Augenblick des Lebens konzentrieren, zeigen sich die drei Eigenschaften des Buddhas in jedem Ihrer Gedanken und in jeder Handlung.“^3^

Der Präsident der SGI, Daisaku Ikeda, hat dieses Zitat in einer Vorlesung folgendermaßen interpretiert:

„Buddhismus ist nicht nur Theorie, sondern soll uns in die Lage versetzen, unser Leben mit jedem Augenblick zum Glück und zur Schaffung von Werten zu lenken. Der Ausdruck 'die Anstrengungen von einhundert Millionen Äonen' steht für eine Einstellung, sich jedem unserer Probleme des Lebens mit dem ganzen Sein zu stellen, zu der Gesamtheit unseres Bewusstseins zu erwachen und keine unserer inneren Quellen versperrt zu lassen. Wenn wir uns mit ganzem Herzen und direkt den Herausforderungen des Lebens stellen, bringen wir die in uns verborgenen 'drei Eigenschaften des Buddhas' hervor. Es ist das Licht dieser inneren Weisheit, die unsere Handlungen in jedem Augenblick ermutigt und auf das Wahre und Richtige richtet.“^4^

Glaube heißt somit, sich mit seinem ganzen Wesen auf den einen einzigen Moment zu konzentrieren. Einfach ist das nicht. Es braucht Übung, eben „Ausübung“. Doch genau dies tun wir mit unserer täglichen Praxis von Gongyo und Daimoku. Die Herausforderung besteht darin, Festigkeit zu erlangen. Nichiren Daishonin schreibt:

„Jetzt sollten Sie den großen Wunsch verstärken, hier die Buddhaschaft zu verwirklichen. (...) Wenn Sie nur im geringsten zweifeln oder verleumden, dann fallen Sie in die Hölle unendlicher Leiden. Angenommen, ein Schiff segelt auf offenem Meer: auch wenn das Schiff stabil gebaut ist - sollte es nur ein kleines Leck haben, dann werden die Passagiere unweigerlich zusammen ertrinken. (...) Sie müssen das Meerwasser des Zweifels und der Verleumdung aus Ihrem Lebensschiff herausschöpfen und die Befestigung Ihres Glaubens solide machen. „^5^

Gongyo und Daimoku sind unsere Mittel, unser „Lebensschiff solide zu machen“.

Doch wie leicht wird Chanten zur Routine, zum morgendlichen und abendlichen Programm, zur Gewohnheit. Und nun stellt sich die Frage: wie weit kommen wir damit? Kann ein unkonzentriertes Gongyo und Daimoku uns auf den Weg zur Buddhaschaft bringen? Führt unkonzentriertes Daimoku in höhere Lebenszustände? Welche Anstrengung braucht es, um 'einhundert Millionen Äonen in einem einzigen Augenblick des Lebens' zu konzentrieren? Wie verbringen wir die Zeit vor dem Gohonzon?

Ohne Konzentration ist es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, überhaupt ein Ziel zu erreichen. Im Sport gilt das als selbstverständlich. Die Konzentration von Tennisspielern etwa ist sprichwörtlich. Beim Grand-Slam-Tennisturnier der Australian Open im Januar musste der Weltranglistenerste, Pete Sampras, erfahren, wie es ist, gegen einen absolut entschlossenen „Nobody“ machtlos dazustehen. Der junge Australier, Mark Philippousis, hatte sich hochmotiviert und zutiefst konzentriert in einen Zustand gespielt, in dem ihm schlicht jeder Schlag gelang. Sampras verlor das Spiel völlig unerwartet. Jeder Tennisspieler kennt diesen Zustand, stand hinterher im Berliner „Tagesspiegel“ zu lesen: „Wenn sie wie in Trance spielen, wenn nichts und niemand sie mehr aufhalten kann, dann sagen Tennisspieler, sie seien in der Zone' gewesen. Und keiner wusste besser als Sampras, 'dass dieser Bursche in der Zone war'.^6^

Der junge Mann war über sich hinausgewachsen. Er hatte Kapazitäten in sich geweckt, die immer schon latent in ihm vorhanden gewesen waren. Das Spiel, der Gegner, die Umstände, die Anfeuerungsrufe des Publikums, seine Konzentration, sein Siegeswille - all dies hatte Kräfte freigesetzt, die als Potential schon immer da waren.

Auch unsere Buddhaschaft ist als Potential bereits in uns, lehrt Nichiren Daishonin. Unsere lebenslange Herausforderung ist es, dieses Potential hervorzubringen und permanent zu etablieren.

Abb.: Michael Chang (bei den Australian Open)

Was ist Konzentration?

Konzentration ist „die Fähigkeit, sich zu sammeln, alle Zerstreutheit (...) abzulegen, um die Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken gebündelt auf einen Erleb­nisinhalt richten zu können. Das erfordert zusätzlich die Kraft, allen Störfaktoren - von innen und außen - Wider­stand entgegenzusetzen, um nicht ,abgelenkt’ zu werden.“^7^

Es ist häufig nicht ganz einfach, sich über längere Zeit einem einzelnen Gegenstand zuzuwenden. Doch mitunter fällt uns „konzentriert“ zu sein auch sehr leicht. Etwa bei einem spannenden Spielfilm. Wenn unsere Aufmerksam­keit gefesselt ist, erleben wir die Zeit im Kino oder vor dem Fernseher, als seien nur Minuten verstrichen. Wer sich umgekehrt langweilt, für den scheint die Zeit stehen zu bleiben.

Natürlich verhält es sich ganz ähnlich beim Daimoku. Unkonzentriertes Chanten kann die Zeit geradezu quälend langsam verstreichen lassen. Wer zum Beispiel ständig auf die Uhr sieht, ist ganz einfach unkonzentriert. Er wird sich kaum bewusst sein, weshalb er überhaupt chantet.

Doch einen Entschluss zu verwirklichen, ein Ziel zu erreichen, braucht die Bündelung von Gedanken. Am besten sogar eine genaue Vorstellung davon, wie dieses Ziel aussehen sollte.

Wer vor dem Gohonzon gähnt, vergeudet seine Zeit.

Hiroshi Hojo, der vierte Präsident der Soka Gakkai, sagte einmal: „Wenn es um Ihr Leben geht, dann kämpfen Sie mit jedem Funken Ihrer Energie. Doch der Kampf gegen Ihr eigenes Karma ist noch viel schwieriger. Das Leben und der Glaube [an den Gohonzon] sind einfach ein und dasselbe. Zu denken, man käme schon irgendwie 'auf die eine oder andere Art' durch, allein weil man an den wahren Buddhismus glaubt, hat rein gar nichts mit wirklichem Glauben zu tun. Wenn Sie sich so sehr anstrengen, dass Ihnen der Schweiß in Strömen den Körper hinunter läuft und Sie Weisheit aus sich herauspressen, von der Sie bisher noch nicht einmal ahnten, dass Sie sie besaßen - erst dann machen Sie das Unmögliche möglich. Und genau das ist der Punkt, an dem der Gohonzon Sie in jeder Form beschützen wird.“^8^

Doch nicht jeder wird die Herausforderung des Lebens jeden Tag mit dieser Intensität verspüren. Zwar wird es extreme Situation gegeben haben, die einem das Äußerste abverlangt haben. Erstaunliche buddhistische Erfahrungen erwachsen täglich daraus, und wir berichten darüber im FORUM. Aber woher nimmt man die Motivation zu konzentriertem chanten etwa dann, wenn das eigene Leben einigermaßen „im Lot“ ist? Wenn der Wunsch nach der Verwirklichung der eigenen Buddhaschaft oder nach Kosen-rufu einmal nicht oder noch nicht so brennend verspürt wird? Wenn sich keine konkret fassbare Schwierigkeit in den Weg stellt, die es zu überwinden gilt?

Dies ist eine große Herausforderung der wir uns bewusst stellen müssen. Aber Nichiren Daishonin sagt sehr genau, wie unsere Praxis aussehen sollte. In seinem „Brief an Kyo’o“ schreibt er: „Nam-Myoho-Renge-Kyo ist wie das Brüllen des Löwen.“^9^ Und: „Man sagt, dass der Löwe, der König der Tiere, drei Schritte vorwärts tut, sich dann konzentriert, um zu springen, und dabei die gleiche große Kraft entfesselt, ob er nun eine winzige Ameise fängt oder ein reißendes Tier angreift. (...) Ein Schwert wird in den Händen eines Feiglings nutzlos sein. Das mächtige Schwert des Lotos-Sutras muss geschwungen werden von jemand, der mutig im Glauben ist.“^10^

Wenn die Verwirklichung eines Ziels zunächst die Bündelung von Kräften verlangt, dann ist die Konzentration auf das höchste Lebensgesetz, auf Nam-Myoho-Renge-Kyo, vor dem Gohonzon ganz sicher der erste Schritt. Und auch unsere Augen sollten sich allein auf den Gohonzon richten. So kommen wir in Einklang: mit unserer Tat, unserem Wort und unseren Gedanken. Und wer sich dabei 'ertappt', gedanklich abzuschweifen (oft stellt man dies ja erst nach Minuten fest), der sollte versuchen, diese Gedanken fortzuwischen wie Nebeltau. Und man sollte immer wieder zum ursprünglichen Ziel zurückkehren, sich nicht entmutigen lassen. Immer wieder von vorne. Wo war ich? Egal, zurück zum Gohonzon! Es wird uns kaum gelingen, an „nichts“ zu denken. Warum auch? Hören wir uns zu. Hören wir auf das „Brüllen des Löwen“ (das sehr leise sein kann; es ist die Intensität, die gemeint ist). Es sind erstaunliche Erfahrungen, die sich so auftun. Der Gohonzon bekommt ein Strahlen und einen Glanz, wird klar, ganz deutlich und leuchtet fast. Das Gefühl für Zeit schwindet, die Minuten fliegen dahin. Der Körper wird leicht, das Daimoku fließt. Wir „verschmelzen“ mit dem Gohonzon.

Vielleicht muss es nicht die Konzentration auf Nam-Myoho-Renge-Kyo allein sein. Jeder macht eigene Erfahrungen. Wer ein klares Ziel oder eine Vorstellung davon hat, was er erreichen möchte, kann sich auch darauf konzentrieren. Wichtig ist, eine Mitte zu finden. Ein Gedanke, zu dem man stets zurückkehren kann. Den Punkt, auf den alles zuläuft. Das Zentrum.

Präsident Ikeda schreibt: „Der entscheidende Punkt ist Dein ichinen^11^ gegenüber dem Gohonzon. Mit einem aufrichtigen Morgen- und Abendgongyo kannst Du jeden Deiner Träume verwirklichen. Du kannst gesund werden, wenn Du krank bist. Das wird Dir aber kaum gelingen, wenn Du während des Gongyos wegschlummerst. Lasst uns ein Gongyo machen und Daimoku chanten, das den Rhythmus eines galoppierenden Pferdes hat!“

^1^ Nichiren Daishonin ermutigt in der Gosho „Die Acht Winde“ dazu, sich von äußeren Umständen unabhängig zu machen: Ein wirklich weiser Mensch wird sich nicht von auch nur einem der acht Winde beeinflussen lassen: Wohlstand, Verschlechterung, Schande, Ehre, Lob, Tadel, Leiden und Freude. (Dt. Gosho, Bd. I, S.78)

^2^ aus dem franz. concentrer „in einem (Mittel)punkt vereinigen“ entlehnt

^3^ Jap. Gosho, S.790

^4^ Daisaku Ikeda, Vorlesung an der Harvard Universität, Boston/USA. am

  1. September 1993. Abdruck: FORUM, 12/93,S.8

^5^ Nichiren Daishonin, Die Befestigung des Glaubens, Dt. Gosho, Bd. i,S.70

^6^ Der Tagesspiegel. 21.1.1996

^/^ Ernst Ott. Das Konzentrationsprogramm. Rowohlt, S.15

^8^ Zitiert nach: Richard Causton, Nichiren Shoshu Buddhism, S.178

^9^ Dt. Gosho, Bd. 1, S. 72

^10^ ebd.

^11^ ichi: eins, nen: Augenblick. Herz, Gedanke. Bedeutet wörtlich: gründlich nachdenken. felsenfest glauben. Oder auch: eine sehr kurze Zeit, ein Augenblick (siehe auch FORUM 10/90, Seite 7ff.)

Quelle: FORUM April 1996

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