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Der Bodhisattva-Weg
Vortrag von Barbara Krausnick,\ gehalten anlässlich des Frauen-Jahrestreffens in Bingen
Nichiren Daishonin schreibt in der Gosho „Das Wahre Wesen des Lebens“ die berühmten Sätze „Wenn Sie denselben Geist wie Nichiren haben, dann müssen Sie ein Bodhisattva aus der Erde sein. (...) Wären Sie nicht Bodhisattvas aus der Erde, dann könnten Sie nicht Daimoku chanten.“
Was bedeuten diese Sätze? Ich finde es wichtig, sich das intensiv zu fragen, wenn wir die Gosho lesen und sie wirklich mit unserem Leben verstehen wollen, wie Präsident Toda es so oft gesagt hat. Daher möchte ich zunächst einmal mit der Frage beginnen, was ist überhaupt ein Bodhisattva? In der ursprünglichen Bedeutung und wörtlichen Übersetzung war der Bodhisattva ein Anwärter auf die Buddhaschaft, der nach vielen anstrengenden meditativen und praktischen Übungen eine hohe Stufe der Ausübung erreicht hatte und nun kurz davor stand, die Wirkung seiner Bemühungen in Form des Lebenszustandes der Buddhaschaft zu erfahren. Damit war der Begriff Bodhisattva also ganz an Nutzen und Wirkung der Ausübung orientiert und letztlich sehr ichbezogen. In der Weiterentwicklung des Buddhismus (Mahayana-Schule) wurde mehr die inhaltliche Ausrichtung der Bodhisattva-Ausübung betont, nämlich das humanistische Ideal, sich für das Glück und Wohlergehen der Menschen einzusetzen und damit die Grenzen des Egoismus zu überwinden. Hier stand also die altruistische Tat, das Setzen guter Ursachen, im Mittelpunkt des Verständnisses.
Im 15. Kapitel des Lotos-Sutras mit dem Titel Hervortreten aus der Erde, werden aber auch diese Bodhisattvas als Schüler einer vorläufigen Lehre zurückgewiesen. Statt dessen treten bzw. springen (beide Bedeutungen sind im japanischen Begriff enthalten) strahlende, kraftvolle und tatendurstige Bodhisattvas aus der Erde hervor. Nur sie werden von Shakyamuni mit der Verbreitung und Weitergabe des ewigen Gesetzes (Dharma), speziell in der schwierigen und konfliktreichen Zeit des Späten Tages des Gesetzes beauftragt.
Die Bodhisattvas des 15. Kapitels zeichnen sich aus durch ihr Hervortreten aus der Erde. Erde ist dabei zu verstehen als Symbol der Buddhaschaft, der Quelle der ursprünglichen Lebenskraft. Da sie nicht als gottähnliche Wesen vom Himmel herabsteigen, sondern aus dem Raum unter der Erde hervorkommen, wird ihre Verhaftung in der Realität der Alltagswelt hervorgehoben und die Untrennbarkeit von Buddhaschaft und den neun Welten, in denen sich unsere Alltagsangelegenheiten abspielen, betont. Wie es im Lotos-Sutra beschrieben wird, kommen sie auch nicht nur langsam, zögernd hervor, nein, sie springen, sie tanzen aus der Erde hervor, freiwillig, eigenmotiviert, voller Freude und Ausgelassenheit. Denn sie schöpfen ihre Identität aus der Gewissheit, dass ihr Leben mit Buddhaschaft bereits ausgestattet ist, sie sich diese also nicht erst langwierig erwerben müssen, sondern auf sie zurückgreifen können, weil ihr Leben selbst Buddhaschaft ist. Ihre Anstrengungen für andere Menschen gehen deshalb dahin, sie ihre eigene Buddhanatur öffnen zu lassen, sie ihnen zu zeigen, sie dazu zu erwecken und in sie eintreten zu lassen (vier Aspekte der Buddhaweisheit).
„... Du hast alles Potential in dir, um ganz glücklich zu werden, dein Leben ist mehr wert, als alle Schätze des Universums, du selbst bist der Schatzturm und trotz deiner Schwächen und Fehler vollkommen ausgestattet, du bist der Mikrokosmos im Makrokosmos, du bist Buddha und deine Lebenskraft ist unerschöpflich, grenzenlos ...“ So und ähnlich lauten die Ermutigungen der Bodhisattvas aus der Erde, die das mystische Gesetz von der Würde allen Lebens von Mensch zu Mensch weitergeben und sie befähigen, ihr Leben voller Freude und Zuversicht selbständig und selbstverantwortlich zu leben. Die Motivation ihres Einsatzes zeigt sich also nicht nur in einer Hilfe, die Not zwar lindert, aber die Leidtragenden in einer grundlegenden Abhängigkeit belässt, sondern sie zeigt sich - plakativ gesprochen - in Hilfe zur Selbsthilfe, durch die Menschen zum Ursprung ihres Lebens und ihrer Lebenskraft zurückfinden sollen.
In der Diskussion über Die Weisheit des Lotos-Sutras, Teil 25, erläutert Daisaku Ikeda die Beziehung zwischen den vorläufigen und den Bodhisattvas aus der Erde folgendermaßen: „Präsident Makiguchi sagte: ‘Es wird zwar gesagt, dass Staubteilchen sich ansammeln und Berge bilden, aber in Wirklichkeit gibt es keine Berge, die aus angehäuften Staubteilchen bestehen. Bestenfalls können sie einen kleinen Hügel bilden. Wirkliche Berge werden durch große Bewegungen in der Erdkruste gebildet. Gleichermaßen können kleine gute Taten, egal wie viele davon Sie ansammeln, niemals großes Gut ergeben.’ Die Bodhisattvas der vorläufigen Lehre sind wie jene, die versuchen, die Buddhaschaft durch das Anhäufen kleiner guter Taten zu erlangen. Die Bodhisattvas der wesentlichen Lehre lassen im Gegensatz dazu die große Vitalität der Buddhaschaft aus der Tiefe ihres Lebens hervorströmen, aus der grundlegenden Natur des Gesetzes, das heißt aus der Quelle ihres Lebens, mit einer explosiven Kraft, wie der eines Vulkanausbruchs. Die Bodhisattvas aus der Erde sind Bodhisattvas, die ständig das Mystische Gesetz praktizieren und die jeden Augenblick in Harmonie mit dem ewigen Leben leben. In ihrer Erscheinung als Ausübende sind sie Bodhisattvas, in ihrem Lebenszustand sind sie Buddhas.“
Ich finde diesen Kommentar bemerkenswert, weil er gerade den Vorstellungen entgegen redet, die wir uns als christlich-abendländisch geprägte Menschen so leicht von altruistischem Einsatz machen. Die Tat des Bodhisattvas aus der Erde hat nichts mit Selbstaufopferung oder irgendeiner Form des Selbstverzichts zu tun. Sie entspringt einem tiefen und vollkommen freiwilligen Entschluss, die Lehre des Buddhas weiterzugeben, als Ausdruck der Dankbarkeit, selbst zu dem großartigen Gesetz von Myoho erwacht zu sein und täglich die eigene Buddhaschaft erfahren zu können. Es geht nicht um schweißtreibende Anstrengungen, die am Ende dazu führen können, anderen Menschen die Verantwortung für ihr eigenes Leben abnehmen zu wollen. Es geht vielmehr um eine Eruption in unserem Inneren, die Kraft der Buddhaschaft in unseren Handlungen zu offenbaren, weil wir unseren tiefen Lebenszustand nicht nur für uns allein genießen, sondern ihn mit anderen teilen wollen.
Buddhaschaft als reiner Selbstzweck, nur zur eigenen Freude und Genügsamkeit, hat nichts mit dem Buddhismus Nichirens zu tun. Eine solche Erleuchtung wäre ohne Wert, weil sie die Begrenzung unseres kleinen Ichs verfestigte, statt sie zu überwinden. In der Dialektik des Buddhismus Nichirens kann Buddhaschaft sich nur in der Tat des Bodhisattvas manifestieren, in der Wechselbeziehung zwischen den neun Welten unseres Alltagslebens und der zehnten Welt der Buddhaschaft. Auch hierzu möchte ich eine Erläuterung von Ikeda heranziehen: „Auch wenn wir Vermutungen anstellen, was ein perfekter Buddha sein könnte, ist das in Wirklichkeit nicht mehr als ein Ziel, mit anderen Worten - so etwas wie einen Buddha, der getrennt von den neun Welten der gewöhnlichen Person lebt, gibt es nicht. Ein buddha-ähnlicher Buddha, der die zweiunddreißig Merkmale besitzt, existiert einfach nicht. In Wirklichkeit kann der Buddha nur im Leben und in den Aktivitäten eines Bodhisattvas gefunden werden. Es gibt keinen anderen Buddha als den Bodhisattva-Buddha“.
Darüber hinaus steht der Bodhisattva-Buddha auch für das wichtige buddhistische Prinzip der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung. Wir neigen dazu, zu denken, dass Buddhaschaft über den anderen neun Lebenszuständen steht und als Wirkung einen höheren Stellenwert hat, als die zugrundeliegende Ursache der Ausübung die wir niedriger einstufen. Aber das wäre eine vorläufige Lehre.
In Wirklichkeit ist die Öffnung der Buddhaschaft, als Wirkung betrachtet, bereits in der Ursache der Ausübung als Bodhisattva zu finden. Die Wirkung Buddhaschaft wohnt also bereits in der Ursache Bodhisattva-Weg und die Ursache Bodhisattva-Weg ist schon die Wirkung Buddhaschaft. Ursache und Wirkung sind eine Einheit, es gibt keine zeitliche oder räumliche Trennung zwischen ihnen - das ist die revolutionäre Neuerung im Buddhismus Nichirens. Und weil es keine Trennung gibt, kann Nichiren auch voller Überzeugung sagen - und damit komme ich auf meine Eingangszitate zurück: „Wären Sie nicht Bodhisattvas aus der Erde, dann könnten Sie nicht Daimoku chanten“, bzw. „Wenn Sie denselben Geist wie Nichiren haben, dann müssen Sie ein Bodhisattva aus der Erde sein.“
Weil wir Nam-Myoho-Renge-Kyo chanten, sind wir bereits Bodhisattva-Buddhas und weil bzw. wenn wir uns mit demselben Geist wie Nichiren für das tiefe Glück und den Frieden aller Menschen einsetzen, sind wir auch bereits Bodhisattvas aus der Erde. Natürlich dürfen wir es nicht bei dieser bloßen Erkenntnis bewenden lassen, wir müssen uns auch bewegen und konkret handeln. Aber wir können darauf vertrauen, dass eigentlich alles schon da ist, wenn wir chanten und uns entschließen, anderen Menschen die Großartigkeit des Buddhismus zu vermitteln. Wir müssen nicht erst bessere Menschen werden, wir müssen nicht erst etwas Spektakuläres erreicht und offenbart haben. So wie wir sind, sind wir bereits Bodhisattva-Buddhas, sind wir auf einem Weg, der uns unzweifelhaft zu unserem tiefsten persönlichen Glück und der Erfüllung unserer Wünsche führen wird. Ohne jede Verklärung stellt Ikeda nämlich fest: „Wenn wir für andere sorgen und uns um sie kümmern, das heißt, wenn wir anderen helfen, Lebenskraft hervorzuholen, vermehrt sich unsere eigene Lebenskraft. Wenn wir Menschen helfen, ihren Lebenszustand zu erweitern, erweitert sich auch unser Leben. Das ist das Wunder beim Weg des Bodhisattvas. Handlungen zum Nutzen anderer können nicht von den Handlungen zum eigenen Nutzen getrennt werden. Nur darüber zu reden, anderen Nutzen zu bringen ist arrogant. Nur die Worte andere retten zu sagen ist scheinheilig. Nur wenn wir verstehen, dass unsere Bemühungen für andere auch zu unserem eigenen Nutzen sind, praktizieren wir mit wirklicher Bescheidenheit.“
Insofern ist der Bodhisattva-Weg tatsächlich kein Weg des Selbstverzichts und der Selbstlosigkeit, denn letztere kann es nach buddhistischer Lehre aufgrund der Verflechtung von Ursache und Wirkung, von Selbst und Umgebung und anderer Lebensprinzipien gar nicht geben. Aber nur wenn wir uns dessen bewusst sind und ihn dennoch ohne Berechnung und Kosten-Nutzen-Statistik einschlagen, manifestieren wir ihn als Ausdruck höchsten menschlichen Handelns.
Ich selbst praktiziere nun seit 16 Jahren und bin immer mehr von Dankbarkeit erfüllt, den Buddhismus Nichirens gefunden zu haben. Ohne die hartnäckigen Bodhisattva-Bemühungen meines Shakubuku-Vaters und -Bruders, wenn ich es einmal so familiär bezeichnen darf, wäre das nicht möglich gewesen. Ich stehe jetzt vor einer großen neuen Aufgabe und muss gestehen, mich etwas beklommen dabei zu fühlen, denn die Schuhe sind groß, in die ich hineinwachsen muss. Aber da, wie ich es in den Texten zur Vorbereitung des heutigen Studiums gelesen habe, die Ursache schon die Wirkung ist und in der Bemühung bereits das Ergebnis enthalten ist, habe ich mich entschlossen, es zu wagen. Ich möchte uns alle, mich selbst eingeschlossen, dazu ermutigen, den Bodhisattva-Weg mit Vertrauen und Zuversicht zu beschreiten und mindestens einen der vielen Aspekte, die er hat, mit ganzer Kraft zu leben, damit er keine Theorie bleibt, sondern zu einer Glaubenserfahrung werden kann.
Literatur:
FORUM April 1999, S. 32
Daisaku Ikeda: Dialoge über das Lotos-Sutra, Bd. 4, S. 151 und Bd. 5, S. l32f
Quelle: Express August 2003
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