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Die vierzehn Verleumdungen

von Lorena Camerini

Die Vierzehn Verleumdungen sind viele, zu viele, und vor allem ist es zu schwierig, sie nicht zu begehen. Aber wenn wir genügend Geduld haben, ihrer tiefen Bedeutung auf den Grund zu gehen, werden wir feststellen, dass diese Schar von Feinden, die zum Angriff bereit vor uns hintreten, doch nicht so groß ist, wie sie auf den ersten Blick aussah. Und vor allem, dass es reicht, eine einzige, machtvolle Waffe zu ergreifen, um sie alle zu versprengen.

„In ihrem Brief schreiben Sie: ‘Seit ich an dieses [Lotos-] Sutra glaube, habe ich fortgesetzt das Junyoze und das Jigage rezitiert und chante das Daimoku ohne die geringste Nachlässigkeit. Doch wie groß ist der Unterschied zwischen den Nutzen, die ein Weiser erhält, wenn er das Daimoku chantet, und den Nutzen, die wir erhalten, wenn wir es chanten?’ Um zu antworten: Eines ist dem anderen in keiner Weise überlegen. Das Gold, das ein Narr besitzt, unterscheidet sich nicht von dem Gold, das ein Weiser besitzt; ein Feuer, das ein Narr anzündet, ist das gleiche wie das, das ein weiser Mensch entfacht.

Doch es gibt einen Unterschied, nämlich wenn man das Daimoku chantet und dabei gegen die Absicht des Sutras verstößt. Es gibt viele Arten der Verleumdung, die sich gegen die korrekte Ausübung dieses Sutras richten. (...) Ein Gelehrter zählt die Arten des Bösen wie folgt auf: Ich nenne zuerst die bösen Ursachen und dann ihre Wirkun­gen. Es gibt 14 böse Ursachen: 1. Arroganz, 2. Nachlässigkeit, 3. willkürliches, selbstsüchtiges Urteil, 4. oberflächliches, selbstzufriedenes Ver­ständnis, 5. Festhalten an irdischen Begierden, 6. Mangel an suchendem Geist, 7. Unglauben, 8. Abneigung, 9. Zweifel der Illusion, 10. Diffa­mierung, 11. Verachtung, 12. Hass, 13. Eifersucht und 14. Groll“ (dt. Gosho, Bd. 3, S. 206-207)

So beantwortete Nichiren Daishonin am 9. Dezember 1276 die Frage von Matsuno Rokuro Zaemon Nyudo, Vater von Nichiji, einem der sechs älteren Priester, und Großvater von Nanjo Tokimitsu. Ich wette, dass, wer auch immer diese Worte liest, verzweifelt die Hände ringt und denkt: „Welche von diesen 14 Verleumdungen begehe ich nicht? Praktisch keine! Aber dann, wie kann ich ein Buddha werden? Es ist unmöglich!“

Aber Halt! Fangen wir von vorne an. Und vor allem, lassen wir die Mutlosigkeit beiseite.

Fangen wir mit der Arroganz an, nicht nur, weil sie die erste der 14 Verleumdungen ist, sondern weil sie auch viele der anderen enthält. Nach­lässigkeit etwa kommt nicht nur aus Faulheit: in vielen Fällen ist Nachlässigkeit eine Äußerung von Gleichgültigkeit und entsteht genau aus einem übertriebenen Vertrauen in unsere Fähigkeiten. Wir denken: „Warum in die Tiefe gehen? Ich habe das nicht nötig. Ich habe sowieso schon alles verstanden und es kann nur so sein, wie ich mir das denke.“

Diese arrogante Einstellung führt auch zu der dritten und vierten Verleumdung: gerade weil wir so überzeugt sind, schon alles verstanden zu haben und in unserer Suche nachlässig geworden sind, entwickeln wir ein „willkürliches, selbstsüchtiges Urteil“, d.h. wir halten unsere persönlichen Ideen für universell gültige Wahrheiten. Das führt wie­derum dazu, dass wir ein oberflächliches, selbst­zufriedenes Verständnis haben, das uns daran hindert, in das Wesen der Dinge, insbesondere der buddhistischen Lehre, einzudringen.

Was ist aber Arroganz? Nichts anderes als die Arroganz der vierten Welt, der des Ärgers. Nichiren Daishonin sagte dazu: „Der Mensch in der Welt des Ashura [eine Art grässliches über­menschliches Wesen] verspürt den unwider­steh­lichen Drang, jedermann zu besiegen. Wie der Falke, der hoch am Himmel seine Kreise zieht und nach Beute sucht, sicht er auf andere herab und respektiert nur sich selbst. Er zeigt nach außen Wohltätigkeit, Rechtschaffenheit, Anstand, Weis­heit und Glauben, und möglicherweise legt er sogar eine primitive Art moralischer Integrität an den Tag, aber in seinem Inneren ist er ein grässlicher Ashura.“ (aus: Daisaku Ikeda, „Das Rätsel des Lebens“, S. 151)

In Wirklichkeit verhält es sich so, wie Daisaku Ikeda betont: „Die augenfällige Größe oder Bedeutsamkeit eines Menschen im Zustand des Ärgers ist reine Illusion. Sein wahres Selbst nimmt nur wenig Lebensraum ein, aber da er unzufrieden ist, plustert er sich mit Hilfe der Einbildungskraft zu einer riesigen Erscheinung auf. Häufig werden wir dadurch getäuscht und halten das Trugbild für die Realität. Der Mensch in diesem Zustand zwei­felt seinerseits nicht an seiner Realität und tut, was er kann, um mit seiner illusorischen Stärke soviel Unheil wie möglich anzurichten.“ (ebd., S. 154)

Aber, sobald er entlarvt wird, schrumpft der Mensch in der Welt des Ärgers zusammen, „genau wie der hochmütige Ashura, der schrumpfte und sich in einer Lotosblüte auf dem Munetchi-See versteckte, als Taishaku ihm Vorwürfe machte.“ („Der Brief von Sado“, ebd. S. 154). Ikeda erklärt auch: „Oft ist Neid oder Überheblichkeit nur ein Abwehrmechanismus, hinter dem sich ein tief verwurzeltes Minderwertigkeitsgefühl verbirgt. Das Selbst, das zur Unsicherheit neigt, blufft oder täuscht Größe und Erhabenheit vor.“ (ebd. S. 152)

Aber warum leidet das Ich unter diesem tiefen Minderwertigkeitsgefühl und versucht, sich dagegen zu wehren, indem es sich vor sich selbst und vor den anderen riesengroß macht? Was bringt diesen Menschen dazu, die anderen zu unter­drücken, um die Illusion zu haben, er sei allen überlegen? Da tritt die sechste Verleumdung, der Mangel an suchendem Geist, auf den Plan. Ein arroganter Mensch lebt ständig in der Illusion, sein Ich sei von allen anderen beseelten und unbeseelten Lebewesen getrennt; der arrogante Mensch ist davon überzeugt, er stünde allein dem Rest der Welt gegenüber. In der buddhistischen Philosophie ist das eines der größten Miss­verständnisse. In der Tat beruht der Buddhismus auf dem Begriff eines fundamentalen Gesetzes, Nam-Myoho-Renge-Kyo, das in allem Leben des Universums enthalten ist: Da alle Lebewesen Manifestationen des Mystischen Gesetzes sind, sind sie in ihrem Wesen untrennbar voneinander.

Ein anderes großes Missverständnis ist die Illusion, dass das Ich ewig sei. Die Angst, durch den Tod die eigene Individualität zu verlieren, ist in den Menschen tief verwurzelt. Diese Illusion, die das „kleine Ich“ – die temporäre Zusammen­setzung der Fünf Komponenten - gegenüber dem „großen Ich“ - die eigene ewige Buddhaschaft - begünstigt, gehört zu der fünften Verleumdung, dem Festhalten an irdischen Begierden. Bei genauerer Betrachtung sind alle Vierzehn Verleumdungen in drei der Vier Bösen Pfade verwurzelt; bis jetzt haben wir über den Ärger gesprochen, jetzt spielen auch Hunger und Animalität eine Rolle.

In seiner hervorragenden Erklärung der Zehn Welten schreibt Daisaku Ikeda: „Das Merkmal des Selbst im Zustand der Unersättlichkeit ist eine anscheinend endlose Gier, die sowohl den Körper als auch den Geist mit einem lodernden Feuer verzehrt.“ (ebd., S.144)

Was die Animalität angeht, sagt der Daishonin in dem „Brief von Sado“: „Es gehört zur Natur der wilden Tiere, die Schwachen zu bedrohen und die Starken zu fürchten.“ (ebd., S. 148) und „Fische wollen überleben, deshalb bedauern sie es, dass ihr Teich so seicht ist, und graben Löcher, um sich zu verstecken. Doch auch sie werden von Ködern überlistet und gehen an die Angel. Vögel auf ei­nem Baum fürchten, zu tief zu sitzen, und setzen sich auf höhere Zweige, aber auch sie werden von Ködern angelockt und gehen ins Netz.“ (ebd., S. 149)

Daher, sagt Ikeda, „Wer nur seinen Instinkten folgt, hat keine Kontrolle über sein Schicksal.“ (ebd., S. 149) „‘Töricht’ ist ein passendes Wort für das Selbst, das so in seine instinktiven Vergnügen vertieft ist, dass es frohen Mutes die Basis seiner eigenen Existenz auffrisst.“ (ebd., S. 150)

Alles klar. Aber wir müssen wieder verzweifelt die Hände ringen! Welcher Mensch lebt denn nicht - mehr oder minder - ständig in der Welt des Hungers oder der Animalität? Wer kann von sich behaupten, er habe keine Wünsche und Begierden, welcher Natur auch immer?

Aber Vorsicht! Die fünfte Verleumdung besagt nicht, dass es nicht erlaubt ist, Wünsche zu haben, sondern dass es falsch ist, daran festzuhalten. Die Lehre Nichiren Daishonins ist die einzige, die behauptet, dass die Buddhaschaft in den Neun Welten beinhaltet ist und dass der gewöhnliche Sterbliche ein Buddha ist. Daher können gerade Menschen, deren Leben voll von irdischen Begier­den ist - und nur sie - die Buddhaschaft erlangen.

Der Schlüssel zu diesem scheinbaren Paradox ist in dem Wort „festhalten“. Jeder von uns ist frei, alle nur möglichen und vorstellbaren Wünschen zu hegen und sich alle Mühe zu geben. sie zu verwirklichen; wichtig ist nur, dass wir unser Leben nicht auf unsere Begierde stützen. Ein höheres Ziel zu haben, bedeutet nicht, auf die eigenen Wünsche verzichten zu müssen. Im Gegenteil, wenn wir sie in einer breiteren Perspektive betrachten, können wir sie einerseits auf das richtige Maß zurückführen - und uns dadurch der Vergänglichkeit aller Dinge bewusst werden, was immer eine gewisse gesunde Unabhängigkeit mit sich bringt - andererseits ist unsere Freude größer, wenn wir unsere Wünsche verwirklichen, weil sie dann Teile eines größeren Glücks werden. Außerdem, wenn wir ein höheres Ziel haben, werden wir nicht in die Welt der Hölle fallen, wenn wir einen von unseren Wünschen nicht verwirklichen können, weil unser Leben einen größeren Sinn bekommen hat. Es geht trotzdem weiter und ist immer noch lebenswert, auch wenn wir leiden. Die Verleumdung besteht gerade darin, sich darauf zu versteifen, weiter für etwas zu leiden, was wir nicht erreichen konnten, als ob von dem Erlangen dieser einzigen Sache unser ganzes Leben abhängig wäre. „Erare humanum est“, irren ist menschlich, doch „perse verare diabolicum“, darin zu verharren ist teuflisch. Die Verleumdung besteht darin, in dem Leiden um das Verfehlen eines Wunsches zu beharren. Weil dieses hartnäckige Leiden wegen etwas, was sowieso vergänglich ist, und nicht zu unserem tieferen Leben gehört, unsere Buddha­schaft leugnet.

Wünsche und Abhängigkeiten gibt es viele, so viele wie es Gedanken in allen Köpfen aller Menschen auf der Erde gibt, multipliziert mit allen Minuten, Stunden und Tagen ihres Lebens. Es sollte uns dann nicht wundern, dass auch die buddhistischen Lehren Abhängigkeiten erzeugen können. Als zum Beispiel Shakyamuni die von ihm bis dahin erteilte Lehre zurückwies, um eine höhere Wahrheit zu predigen, wurden viele seiner Anhänger zu seinen Verleumdern, und damit begingen sie genau die fünfte Verleumdung: Sie hielten an der Lehre fest, die sie zuerst gehört hat­ten. Und so begingen die Feinde des Buddhas auch die achte, die neunte und die zehnte Verleumdung - Abneigung, Zweifel und Diffamierung

Das japanische Wort onshitsu kann das sehr gut erklären. Es besteht aus zwei Teilen: on bedeutet „diejenigen, die das Hindernis nicht beseitigt haben, shitsu „diejenigen, die nicht hören wollen“. „In diesem Zusammenhang bedeutet Hindernis die Illusionen sind die Wünsche, die einen davon abhalten, nach der wahren Lehre zu streben, und daher bezieht sich on auf diejenigen, die die Lehren vor dem Lotos-Sutra nicht ablegen können. Das Wort shitsu hingegen bezieht sich auf diejenigen, die vorsätzlich das wahre Gesetz nicht hören wollen.“ (De Luca, DuemilaUno Nr. 34, 1992) Das Wort onshitsu wird aber normalerweise gebraucht, wenn jemand schlechte Gefühle gegen­über den Anhängern des Lotos-Sutras hegt. Das ist kein Versehen, weil Nichiren Daishonin selbst in der Gosho „Die Person und das Gesetz“ sagt: „Da das Gesetz das höchste ist, gebührt der Person Ehre ...“ (dt. Gosho, Bd. 1, S. 32)

Onshitsu zu begehen heißt dann, die letzten vier der 14 Verleumdungen zu begehen: Verachtung, Hass, Eifersucht sind Groll.

In „Das Erbe des letztendlichen Gesetzes des Lebens“ sagt Nichiren Daishonin: „Alle Schüler und Gläubigen Nichirens sollten Nam-Myoho-Renge-Kyo in Itai doshin chanten und alle Unter­schiede zwischen sich überwinden, um so untrennbar zu werden wie Fische und das Wasser, in dem sie schwimmen. Dieses geistige Band ist die Grundlage für die universelle Weitergabe des letztendlichen Gesetztes von Leben und Tod. (...) Wenn Sie so einig sind, kann sich sogar die große Hoffnung für Kosen-rufu ganz sicher erfüllen.“ („Das Erbe des letztendlichen Gesetzes des Lebens“, dt. Gosho, Bd. 1, S. 137)

Deswegen ist es so wichtig, nicht zu verachten, nicht zu hassen, und weder Eifersucht noch Groll gegenüber den Praktizierenden des Buddhismus Nichiren Daishonins zu hegen: nicht weil sie perfekte Wesen sind, die keine Fehler machen, nicht weil sie eine Art „Unberührbare“ sind, im Gegenteil. Es ist nur, weil das letztendliche Ziel der Verbreitung des Buddhas - die Verwirklichung von Weltfrieden auf der Grundlage des Buddhismus - nie erreicht werden kann, wenn wir dieses spirituelle Band nicht erschaffen.

Jetzt wird jemand noch verzweifelter als früher die Hände ringen: Diese Vierzehn Verleumdungen sind wirklich etwas Schreckliches, und wir müssen immer sehr wachsam und sehr beherrscht sein, um ihnen zu entgehen.

In Wirklichkeit ist alles viel einfacher, als es aussieht. Die wichtigste erforderliche Eigenschaft, um die Vierzehn Verleumdungen zu vermeiden, ist der suchende Geist.

Und was ist mit der siebten Verleumdung, der Unglaube? Haben wir sie auf dem Weg verloren? Nein, wir haben sie nicht vergessen, wir behandeln sie erst jetzt absichtlich, weil Mangel an Glauben in Buddhismus eben nichts anderes als Mangel an suchendem Geist ist.

Wenn wir unaufhörlich unseren suchenden Geist verstärken und vertiefen, werden wir unsere Arro­ganz besiegen und die Freude der Bescheidenheit entdecken, unsere Nachlässigkeit verbessern und mit uns selbst strenger werden; wir werden die persönlichen, oberflächlichen Interpretationen aufgeben und unser Verständnis des Buddhismus vertiefen; wir werden uns von unseren Abhängig­keiten befreien können, um unsere Wünsche zu verfolgen, ohne deren Sklave zu werden; wir werden Verachtung, Zweifel und Diffamierung gegen das Gesetz aus unseren Gedanken, Worten und Taten verbannen; wir werden lernen, großen Respekt nicht nur vor anderen Menschen, sondern auch vor allen Lebewesen in der Luft, auf der Erde sind im Meer zu haben; wir werden aus unseren Herzen jede Art von Hass, Eifersucht und Groll auslöschen.

Der Gohonzon ist die Quelle der Kraft, die wir brauchen, um das alles zu verwirklichen. Die einzige Anstrengung, die wir machen müssen, ist, uns selbst immer wieder zu überzeugen, unseren Geist darin zu trainieren, zu glauben, dass wir alles erreichen können, auch Buddha zu werden.

Und ein Buddha - wie wir alle wissen - begeht keine der 14 Verleumdungen.

erschienen in: DuemilaUno (Zeitschrift der SGI Italien) Nr.48, 1995. Übersetzung von Carolina Baratta.

Quelle: FORUM JuIi/August 1998

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