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Die grundlegende Dunkelheit des Lebens – gampon no mumyo
Gedanken und Erfahrung von Thomas Wawersig, Verantwortlicher der Hauptstelle BadenWürttemberg
Ich habe einmal gehört, dass eine Bedeutung von „Myo“ in Nam-Myoho-Renge-Kyo Licht ist, die von „Ho“ hingegen Dunkelheit. Da Myoho das Leben selbst beschreibt, heißt dies auch, dass Licht und Dunkel zwei Seiten der gleichen Münze sind. Beides ist im Universum enthalten und beides findet sich im menschlichen Leben. Aus dieser Erkenntnis entspringt das buddhistische Konzept von „Dunkelheit wird zu Erleuchtung“ (jap.: mumyo soku hossho): wenn es uns gelingt, uns mit den dunklen Aspekte unseres Lebens zu konfrontieren, können wir dadurch den Weg zur Erleuchtung öffnen. Für den höchsten Lebenszustand der Buddhaschaft fallen mir sofort mehrere positive Eigenschaften ein, die ich damit in Verbindung bringen kann: Mitgefühl, Weisheit, Mut, Lebenskraft. Aber mit welchen negativen Eigenschaften kann man „fundamentale Dunkelheit“ (jap.: gampon no mumyo) beschreiben?
Nichiren erwähnt in seinen Briefen oft die fundamentale Dunkelheit. Manche verstehen den Begriff „fundamentale Dunkelheit“ als Ausdruck für jegliche Form der Negativität. Aber so wie Buddhaschaft der höchste Lebenszustand ist, den ein Mensch erreichen kann, ist die fundamentale Dunkelheit nicht nur Negativität, sondern die größte negative Kraft des Universums. Diese Kraft ist so stark, dass Nichiren in der Gosho „Brief an die Brüder“ darüber sagt: „Der Teufel der fundamentalen Dunkelheit kann sogar von dem Leben eines Bodhisattvas, der die höchste Stufe der Ausübung erreicht hat, Besitz ergreifen und ihn daran hindern, den größten Nutzen des Lotos-Sutras zu erlangen – die Buddhaschaft selbst.“ In diesem Zitat steckt auch ein Hinweis auf die Natur dieser Dunkelheit: sie ist nicht einfach „nur“ die Quelle unserer Schwächen, unserer negativen Seiten, die jeder Mensch in der einen oder anderen Form hat, ob er nun Buddhismus praktiziert oder nicht. Vielmehr ist es genau die Kraft, die uns in unserem Versuch, die Buddhaschaft zu erlangen, behindert. Anders gesagt: diese negative Kraft zeigt sich erst dann, wenn wir uns mit aller Kraft um die Buddhaschaft bemühen. Sie ist das genaue Gegenteil von Buddhaschaft. Und genauso wenig, wie man Buddhaschaft letztlich mit Worten beschreiben kann, genau so schwer ist es, die grundlegende Dunkelheit des Lebens zu beschreiben.
1987 bin ich das erste Mal nach Japan gefahren. Ich habe mich relativ spät, erst drei Monate vor der Abfahrt, entschieden mitzufahren. Um mich darauf vorzubereiten, habe ich in dieser Zeit jeden Tag sehr viel Daimoku gechantet, viel mehr als sonst. Eines Tages hatte ich ein kurzes, aber sehr einschneidendes Erlebnis: ich stand an einer Ampel und dachte an nichts besonderes. Mit einem Mal war plötzlich alles weg: ich hatte das Gefühl, dass es nichts mehr gab, dass die Welt in diesem Moment aufhörte, zu existieren. Es gab in meinem Leben keinen Wunsch mehr, keinen Gedanken, keine Empfindung. Es gab auch kein Gefühl des Schmerzes, der Trauer, der Angst oder Wut. Es war vielmehr die vollständige Verneinung von allem. So ein totales „Nein“ zum Leben hatte ich noch nie erlebt und habe es seitdem auch nicht mehr erlebt. Das ganze dauerte nur ein paar Sekunden, aber ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich zutiefst darüber erschrocken war. Immer, wenn ich jetzt die Worte „fundamentale Dunkelheit“ höre, muss ich an dieses Erlebnis denken.
Es gibt ein anderes buddhistisches Konzept, dass eine ähnliche Bedeutung wie „fundamentale Dunkelheit“ hat, nämlich die „Drei Hindernisse und Vier Teufel“ (jap.: sansho shima), innere und äußere Hindernisse, die uns in unserer buddhistischen Ausübung behindern. Der größte dieser Teufel wird der „Teufel des Sechsten Himmels“ genannt. In der Gosho „Über die Behandlung von Krankheiten“ schreibt Nichiren: „Die fundamentale Dunkelheit manifestiert sich als Teufel des sechsten Himmels.“ Von diesem Teufel sagt man, dass er genau an der Stelle angreift, an der wir am schwächsten sind und dass er manchmal dazu die Form einer äußeren Autorität oder eines Machthabers annimmt (und gerade diese äußere Form macht es manchmal besonders schwierig zu verstehen, dass ihr Erscheinen Teil unseres eigenen Lebens ist). Nichiren schreibt über die Funktion dieser Hindernisse und Teufel: „Wenn Sie (diese Lehre) verbreiten, werden bestimmt Teufel erscheinen. Wenn dem nicht so wäre, könnten wir nicht mit Sicherheit wissen, dass dies die wahre Lehre ist. Eine Passage aus dem gleichen Band (der Maka Shikan von T’ein T’ai) lautet: ‚Wenn sich die Ausübung weiterentwickelt und das Wissen wächst, tauchen die Drei Hindernisse und Vier Teufel auf und übertreffen einander darin, zu stören... Sie sollten sich von ihnen weder beinträchtigen noch beeinflussen lassen. Wenn Sie ihrem Einfluss unterliegen, werden Sie auf die Pfade des Bösen geführt werden. Wenn Sie Furcht vor ihnen haben, werden Sie an der Ausübung des Buddhismus gehindert werden.’ Dieses Zitat trifft nicht nur auf mich, Nichiren, zu, sondern auch auf meine Schüler.“ (dt. Gosho, Bd1, S.111) Und in einer anderen Gosho schreibt er: „Nur durch den Sieg über einen starken Gegner kann man seine eigene Stärke beweisen.“
Bezogen auf unsere Ausübung hat dieser Gegner nur eine Eigenschaft: es ist die uns innewohnende Illusion, dass wir das Potenzial zur Buddhaschaft in unserem Leben nicht besitzen. Dieser Zweifel an unserem grenzenlosen Potenzial ist eigentliche die Wurzel aller Negativität. Da diese Illusion über unsere wahre Natur aber ein fester Bestandteil unseres Lebens ist, können wir sie nicht vollständig ablegen, sondern nur jeden Tag aufs Neue dagegen ankämpfen. Deshalb sollten Zweifel oder Schwierigkeiten uns nicht von unserer buddhistischen Ausübung abhalten, sondern vielmehr eine Herausforderung sein, uns noch mehr einzusetzen. Diese Auseinandersetzung ist, als ob man ein positives und ein negatives Stromkabel aneinander schlägt: es entstehen daraus Funken. Richard
Causton beschreibt dies in seinem Buch „Der Buddha des Alltags“ so: „Die Ausübung des
Buddhismus bedeutet daher den Kampf um Ihr eigenes, dauerhaftes Glück – ein Kampf zwischen dem
Buddha, der produktiven Kraft des Lebens und dem „Teufel“, seinem negativen Gegenspieler. Der Buddhismus lehrt, dass es genau dieser ewige Kampf zwischen diesen beiden entgegengesetzten
Kräften ist, der die Lebensenergie hervorbringt.“ (Richard Causton, Der Buddha des Alltags, S.248)
In Deutschland haben viele ein Problem mit dem Wort „Kampf“, umso mehr, wenn dieses Wort im Zusammenhang mit Buddhismus fällt. Doch ich habe in der letzten Zeit wieder die Erfahrung gemacht, dass an einem bestimmten Punkt Kampfgeist die wesentlichste Eigenschaft überhaupt ist, um in der eigenen Ausübung voranzukommen. Die letzten zwei Jahre hatte ich mich mit einer gewissen „Wohlfühl-Dosis“ in meiner Ausübung bequem gemacht. Mein Leben lief gut und ich konnte alle Aspekte genießen. Im Frühjahr letzten Jahres hatte ich dann aber eine lange Phase, in der mir anfangs nichts mehr richtig Freude machte. Ich habe zwar weiterhin gechantet und Aktivitäten gemacht, aber ohne ein Ziel, das über die nächsten, offensichtlichen Schritte hinaus ging. Je länger diese Phase anhielt, desto kraft- und mutloser wurde ich. Und obwohl ich bereits so viel in meinem Leben durch die buddhistische Ausübung erreicht hatte, erschien mir das alles wertlos. Bis ich schließlich jeden Aspekt meines Lebens in Zweifel zog und nicht mehr wusste, wozu ich das alles mache. Dazu fing ich an, mir über meine Zukunft Sorgen zu machen: was wird aus meinem Beruf, was wird dann aus meiner Familie, bin ich dann noch gesund. Sollte ich vielleicht eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen? Irgendwann im Herbst war ich so weit, dass ich nicht mehr anders konnte, als den Gohonzon mit ganzer Kraft regelrecht „anzuschreien“: ich musste diesen Zustand unbedingt ändern. In diesem Moment habe ich eine völlig neue Lebenskraft in mir gespürt. Dieser „Funke“ hatte mir gefehlt. Ich konnte plötzlich alle Dinge mit einer ganz anderen Kraft angehen. Und vor allem: ich hörte auf, mir über die Zukunft Sorgen zu machen. Insbesondere morgens bemühe ich mich, diesen Kampf vor dem Gohonzon aufzunehmen, und jede Minute, die ich sozusagen „kampflos“ vor dem Gohonzon verbringe, bemerke ich als Verlust der Lebensqualität an diesem Tag.
Ich habe dieses Zitat schon oft gelesen, aber es hat für mich noch einmal eine frische Bedeutung bekommen: „Ein Herz, das gegenwärtig von Illusionen verdunkelt wird, die aus der eingeborenen Dunkelheit des Lebens stammen, gleicht dem blinden Metallspiegel, aber ist er erst poliert, so wird er klar und zeigt die Erleuchtung der unveränderlichen Wahrheit. Wie sollten Sie ihn polieren? Nur durch das Chanten von Nam-Myoho-Renge-Kyo“. (dt. Gosho Bd.1, S.44)
Präsident Ikeda hat in einer Rede anlässlich der 38. Generalversammlung die praktischen
Konsequenzen dieser Aussage so ausgedrückt: „Man könnte sagen, dass die moralische Erblindung der Menschen eine innere Bedrohung darstellt, während Schwachstellen in Regierungsstrukturen eine äußere Bedrohung darstellen; aber schließlich haben beide Probleme ihre Wurzeln im Menschen selbst. ... Ohne die wahre Natur dieser inneren Bedrohung zu erkennen, werden die Menschen weiterhin in einem Nebel aus Angst und Verwirrung ziellos umherirren. Das ist, was heute passiert. Hierin liegt auch die Daseinsberechtigung der Religion: als ein Lichtstrahl, der die Dunkelheit der Zukunft durchdringt. Der Buddhismus Nichirens identifiziert die Quelle dieser inneren Bedrohung als gampon no mumyo, fundamentale Dunkelheit, eine grundlegende Unkenntnis der wahren Natur des Lebens. Er ist eine universell anwendbare Religion, die jedem zeigt, wie er oder sie diese Dunkelheit durchdringen kann.“
Dass das Leben ein Kampf ist, ist keine Erfindung des Buddhismus, aber mit der buddhistischen Ausübung kann man diesen Kampf aufnehmen.
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