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Über interreligiösen Dialog

Seit Jahrhunderten, sogar seit Jahrtausenden stehen die Religionen und Kulturen der Erde miteinander in Kontakt. Wenn Völker auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen auf Wanderschaft gingen, führten sie nicht nur ihr Vieh und ihre Werkzeuge mit sich, sondern auch ihre Göttinnen und Götter, ihre Gedanken, ihre Sprache, ihre kulturellen Eigenheiten. Wenn Kulturen expandierten, Kriege führten und Nachbarn unterwarfen, mischten sich alteingesessene und neue Bewohnerinnen und Bewohner eines Landstriches meist schon nach wenigen Generationen. Neue Sprachen entstanden, Religionen wandelten sich, die Mythen bewahrten die Wechselfälle der Geschichte in ihren Symbolen und Geschichten auf. Auf den Seidenstraßen wurden nicht nur kostbare Handelsgüter zwischen Nord- und Südasien hin- und hertransportiert. Mit den Karawanen wanderten auch Ideen, kulturelle Errungenschaften und religiöses Gedankengut in andere Länder - so gelangte zum Beispiel der Buddhismus nach China. Viele solcher Kontakte verliefen friedlich. Arabien war früher einmal eine Oase der Gelehrsamkeit, des intensiven und interessierten kulturellen Austausches. Die arabischen Herrscher baten Gelehrte aus weit entfernten Ländern herbei, nicht viel anders, als es auch heute Universitäten und Forschungsinstitute tun.

Dialog im 20. Jahrhundert

Deshalb ist die Frage „Was ist eigentlich interreligiöser Dialog“ keine neue Frage, keine Frage erst der heutigen Zeit. Dennoch widmen TheologInnen und ReligionswissenschaftlerInnen dieser Frage im 20. Jahrhundert ihre besondere Aufmerksamkeit: Immer leichter wird es, quer durch die Welt zu reisen und in wenigen Stunden von einem Kulturkreis in einen anderen zu wechseln. Jede größere Stadt beherbergt heute Menschen der verschiedensten Kontinente, aus den Zeitungen erfahren wir täglich, was rund um den Globus an Schrecken und Freuden geschieht. Die Erde scheint immer kleiner und die nur gemeinsam zu lösenden Schwierigkeiten scheinen immer größer zu werden. In dieser Zeit der zunehmenden Globalisierung wird es notwendiger denn je, zu einem guten Verständnis zwischen den Religionen zu kommen, denn die Religionen stellen ein wesentliches, sinn- und identitätsstiftendes Kulturgut der Menschen dar. Ohne einen Frieden zwischen den Religionen kann es keinen Weltfrieden geben - diese Einsicht breitet sich in allen ernsthaft um das Wohl der Menschen besorgten Religionsgemeinschaften aus.

Wie aber lässt sich ein fruchtbarer Dialog zwischen den Religionen bewerkstelligen? Worüber ließe sich reden und auf welche Weise? Wohin mit dem eigenen Glauben in solchen Gesprächen? Und was soll passieren, wenn man genug miteinander gesprochen hat? Gibt es auch. ein gemeinsames Handeln? Wie sähe das aus? Über solche Fragen denken Christinnen und Christen, Buddhistinnen und Buddhisten, Muslime, Juden, Frauen und Männer in vielen anderen Religionen nach. In den letzten Jahrzehnten haben sich überall auf der Erde Zusammenschlüsse und Runde Tische der Religionsgemeinschaften gebildet, um solche Gespräche zu führen.

Nicht immer sind es die großen offiziellen Kirchen und die sogenannten Weltreligionen, die miteinander sprechen. Je nach Landstrich und Kulturkreis können ganz unterschiedliche Bedürfnisse bestehen. Eine Gemeinde der protestantischen Kirche lädt die evangelisch-freikirchlichen Nachbarn zum Kaffeetrinken und Reden ein. Die katholische und die orthodoxen Kirchen nähern sich einander unter großen Schwierigkeiten an. In Malaysia gibt es einen traditionsreichen Austausch zwischen Islam und Konfuzianismus. In Afrika nehmen katholische Priester an animistischen Ritualen zur Verehrung von Steinen, Tieren und Pflanzen teil. Für einen aufgeschlossenen Priester ist der Medizinmann, der das Ritual leitet, längst kein „Abergläubiger“ mehr. Er ist ein Gleichberechtigter, ein Kollege, ein Partner im Einsatz um das Wohlergehen der Gemeinde - er ist einer, von dem sich auch lernen lässt.

Dialog als Ziel der Soka Gakkai

Seit der Trennung von der Nichiren-Shoshu-Priesterschaft gibt es auch in der Soka Gakkai eine Entwicklung, die mit dem Stichwort „Öffnung“ sehr gut beschrieben ist. Ausdruck dieser offenen Geisteshaltung ist die Charta der SGI. Sie umfasst eine Präambel und zehn Punkte, von denen mehrere den Gedanken der Zusammenarbeit mit anderen Religionen und Organisationen betonen. Dort heißt es:

„Die SGI ist fest entschlossen...

2) ausgehend vom Ideal der Weltbürgerschaft grundlegende Menschenrechte sicherzustellen und niemanden aus irgendeinem Grund zu diskriminieren

3) die Freiheit der Religion und der religiösen Äußerung zu respektieren und zu schützen ...

7) begründet auf dem buddhistischen Geist der Toleranz, andere Religionen zu respektieren, mit ihnen in Dialog zu treten und für eine Lösung grundlegender, humanitärer Probleme zusammenzuarbeiten.“

In einer Rede vom 26. Januar 1996 bezeichnete Daisaku Ikeda, der Präsident der SGI, diese drei Prinzipien der Charta als besonders wichtig. Die Trennung von der Priesterschaft sei aus dem Bemühen um eine religiöse Reform entstanden, und mit der Trennung seien wir nun in der Lage, „die Fesseln einer veralteten Ordnung abzuschütteln. Als Folge davon konnten wir uns erneut dem ursprünglichen Geist des Buddhismus Nichiren Daishonins zuwenden.“ Bedingt durch das reaktionäre Denken und die Autorität der Priesterschaft, sei es uns zuvor „nicht möglich (gewesen), den Dialog zwischen den verschiedenen Religionen mit vollem Engagement zu führen und uns an gemeinsamen Projekten mit anderen Organisationen zu beteiligen.“ Die Charta, so heißt es in der Rede, sei in der Absicht geschrieben worden, einen weiteren Schritt in dieser Richtung zu unternehmen. „Die Zeit ist reif, die Hoffnung zu wählen und energisch zu handeln, um die Unmenschlichkeit auf dieser Welt zu überwinden und wieder gut zu machen.“

Aus diesen Worten wird deutlich, dass der äußeren Trennung von der Priesterschaft eine innere Erneuerung folgen muss, eine Neubesinnung auf den ursprünglichen Geist unserer buddhistischen Tradition. Es liegt an uns, die Charta der SGI als Ausdruck eines von konservativen Einschränkungen befreiten, weltoffenen, weltbürgerlichen und solidarischen Geistes mit Leben zu füllen - denn es reicht ja nicht, wenn unsere Absichten nur auf dem Papier stehen. Deshalb gibt es, ebenso wie in anderen Ländern, auch in Deutschland in mehreren Städten eine solche Kontaktaufnahme zu anderen Religionsgemeinschaften, geboren aus dem Wunsch nach Austausch und Zusammenarbeit mit anderen Menschen.

####### Misslungener Dialog

Das alles sind positive Beispiele für Offenheit und Dialog. Negative Beispiele des misslungenen Dialoges gibt es auch, viel zu viele: Gewälttätige Auseinandersetzungen zwischen Anhängern unterschiedlicher Religionen sind in manchen Ländern an der Tagesordnung. Es gibt Mord und Totschlag im Namen des Heils, fundamentalistisches Eifern und Bedrängen, den Ausschluss Andersdenkender aus der Mitte der Gesellschaft. Die Sektendebatte in Deutschland zeugt nicht nur von einer Sorge um die psychische Gesundheit der Menschen hierzulande, sondern auch von einer guten Portion religiöser Intoleranz.

Die Frage „Was ist eigentlich interreligiöser Dialog“ ist also ganz wesentlich die Frage danach: Was ist eigentlich so schwierig am interreligiösen Dialog? Um drei Punkte soll es darum im Folgenden gehen:

1. Was macht es so schwierig, mit Gläubigen anderer Religionen zu sprechen?

2. Wie lässt sich diese besondere Schwierigkeit - hat man sie erst einmal erkannt - überwinden? Wie kann, bei aller Unterschiedlichkeit des Denkens und Glaubens, dennoch ein gutes Gespräch entstehen?

Und drittens: Was gewinnen wir, wenn wir uns der besonderen Schwierigkeit des interreligiösen Dialoges stellen? Was gibt uns dieser Dialog, was kann er beitragen zu unserer Entwicklung?

Um zu dem Versuch einer Antwort auf diese Fragen zu gelangen, muss dieser Vortrag ein wenig ausholen. Es werden Dinge erwähnt, die auf den ersten Blick vielleicht banal erscheinen, aber von Nahem betrachtet doch ein „Aha-Erlebnis“ möglich machen. Es werden einige wenige Fachbegriffe und Fremdwörter erläutert, um eine theoretische Debatte nachzuzeichnen, die derzeit im interreligiösen Dialog eine wichtige Rolle spielt. Und es soll schließlich um unser eigenes Selbstverständnis gehen, um unsere eigenen, ganz persönlichen Erfahrungen mit dem Glauben und mit dem Sprechen über den Glauben.

Dabei soll niemand bedrängt werden, eine bestimmte Haltung einzunehmen. Es „muss“ sich niemand für das Gespräch mit anderen Religionen interessieren, und es „muss“ auch niemand dieses Gespräch in einer ganz bestimmten Art und Weise führen. Unter den vielen Anregungen, die Daisaku Ikeda als spiritueller Lehrer und Meister der Soka Gakkai den Mitgliedern empfiehlt, ist allerdings auch immer wieder der Rat enthalten, einen guten, freundschaftlichen, produktiven Kontakt zu anderen Religionen aufzubauen. Dieser Vortrag will versuchen einen weiten Bogen zu spannen und auch verschiedene Dialogmöglichkeiten aufzuzeigen. Es geht darum, dass wir uns einfach einmal bewusst machen, wie wir sprechen, wie wir sprechen können, wie wir sprechen möchten. Dazu soll dieser Vortrag eine Hilfestellung sein. Vorausgeschickt werden sollte auch, dass es hier in erster Linie um das Gespräch mit engagierten Gläubigen anderer Religionen geht. Das Gespräch mit Menschen, die an oder wegen ihrer Religion leiden, mit ihr nichts mehr anfangen können oder einfach nur „mauern“ und keine Offenheit in ein Gespräch mitbringen, erfordert andere Formen, aufeinander zuzugehen.

1. Glauben, Wissen, Erfahrungswirklichkeiten

Es gibt einen zentralen Begriff, den alle großen Religionen kennen. Dieser Begriff steht oft im Mittelpunkt des Sprechens über die Religion, er wird auf vielfältige Weise umkreist und ergründet: das ist der Begriff des „Glaubens“.

Der Glaube wird gesucht und gefunden, wir versuchen, ihn zu vertiefen, befürchten, ihn verlieren zu können, leben mit ihm, hadern mit ihm, erfahren ihn als sinnstiftend, vielleicht auch als unzureichend oder als etwas, das uns bisweilen im Weg steht, uns unbeweglich macht, wenn wir den Glauben zu eng fassen, wenn er mit unseren Lebenserfahrungen nicht mehr übereinstimmt. Glauben entfaltet und entwickelt sich - und so weiter.

Dies ist doch eigentlich sehr interessant: Religiöse Überzeugung kann sehr tief gehen, vorhin wurde erwähnt, dass sogar Kriege deswegen geführt werden. Und dennoch sprechen die Religionen nicht vom „Wissen“. Sie sprechen vom Glauben.

Warum ist das so? Liegt es daran, dass religiöse Menschen doch ein bisschen unsicher sind, was ihre Überzeugungen angeht? Denken sie: Ich spüre zwar die Gegenwart Gottes, aber doch eigentlich nicht immerzu, also sage ich lieber „ich glaube“ als „ich weiß“? Denken wir: Nun, die Buddhanatur ist ein schönes, optimistisches Konzept, aber so ganz sicher bin ich mir damit doch nicht, also „glaube“ ich lieber nur daran? Liegt es also an der Unsicherheit, an den Zweifeln, dass wir vom „Glauben“ sprechen?

Glaube ohne Zweifel

Die meisten von uns haben sicher schon einmal gespürt, dass unser Glaube so tief gehen kann, uns so sehr durchdringen und ergreifen kann, dass der Zweifel ganz aus uns verschwindet. Es gibt dann keinen Zweifel und keine Unsicherheit mehr. Jede und jeder von Euch hat vielleicht einen solchen Punkt, oder eine Handvoll Punkte, an denen Ihr sagt: Das glaube ich nicht nur. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Das glaube ich so sehr, dass ich es weiß. An diesem Punkt oder an diesen Punkten - vielleicht, dass alle Menschen Buddhanatur besitzen, oder dass der Gohonzon mir die Kraft gibt, mein Karma zu verändern, oder dass ich wiedergeboren werde, oder dass Nichiren Daishonin der Buddha für unsere Zeit ist - hier grenzt mein Glaube an Gewissheit. Möglicherweise bin ich mit manchen Glaubenssätzen in Schwierigkeiten, aber diesen einen Punkt gibt es, da habe ich keinerlei Zweifel mehr. Der Reformator Martin Luther hat in diesem Zusammenhang vom „Fürwahrhalten“ gesprochen: Man kann so tief glauben, dass der Glaube zum Fürwahrhalten, zur Gewissheit wird. Man kann so tief an Gott glauben, dass Gott zur Gewissheit wird.

Warum also trotzdem das Wort „Glauben“? Warum sprechen religiöse Menschen nicht vom Wissen?

Die Antwort ist: Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, das Wissen, das wir uns in der Religion erwerben, anderen oder auch uns selbst gegenüber glaubwürdig zu machen. Es gibt nur einen Zeugen, eine einzige Gewähr dafür, dass es stimmt, was wir für wahr halten und wovon wir so sehr überzeugt sind. Das ist uns eigentlich bekannt, gerade in der Soka Gakkai beschäftigen wir uns ganz viel und intensiv damit: Der Zeuge der religiösen Wahrheit ist unsere Erfahrung.

Nur indem wir Erfahrungen machen, können wir zeigen, dass unsere religiösen Annahmen stimmen, dass sie richtig und wahr sind.

Die religiöse Wahrheit ist anders beschaffen als die naturwissenschaftliche Wahrheit. Sie existiert nicht außerhalb der Menschen, die sie erfahren. Man kann nicht sagen: Die Erde dreht sich um die Sonne, und im Gohonzon steckt die Kraft des Buddhas und die Kraft des Gesetzes. Sicher kann man das sagen - aber nur den ersten Teil des Satzes kann man im streng naturwissenschaftlichen Sinne beweisen. Den zweiten Teil des Satzes kann man auch beweisen - durch die Erfahrung, indem ich lebe und zeige, dass es so ist. Niemand wird jedoch ein naturwissenschaftliches Experiment durchführen und diese Wahrheit der ganzen Welt zwingend beweisen können.

Niemand kann Gott beweisen. Und niemand kann beweisen, dass es Gott nicht gibt. Niemand kann im naturwissenschaftlichen Sinne die Buddhanatur beweisen. Und niemand kann beweisen, dass es sie nicht gibt. Es mag Leute geben, die das versuchen. Sie beweisen Ufos oder Engel oder das Leuchten der Aura - und wirken halbseiden und unglaubwürdig damit. Es liegt in der Natur metaphysischer Aussagen, dass sie sich natur-wissenschaftlich nicht beweisen lassen. Die Instrumente der Wissenschaft sind in dieser spirituellen Sphäre, in der Sphäre des religiösen Glaubens, in der Sphäre des inneren Erlebens schlicht nicht zu gebrauchen;

Das heißt nicht, dass diese Sphäre Spinnerei oder Einbildung sei. Leider wird in unserer naturwissenschaftlich dominierten Zeit oft verschwiegen, dass die Naturwissenschaft auch Grenzen hat - sie endet zum Beispiel in dem Bereich des inneren Erlebens, der Subjektivität. Die Naturwissenschaft vermag nicht festzustellen, ob ein Hund sich freut oder traurig ist oder wie eine gefühllose Maschine funktioniert. Sie kann darüber keine Aussage treffen. Sie kann die Schwanzwedel-Frequenz pro Sekunde ermitteln - aber wie es innen im Hund aussieht, wie es sich anfühlt hinter der Nase und unter dem Fell, weiß nur der Hund ganz persönlich. Unser Innenleben ist aus grundsätzlichen Gründen naturwissenschaftlich nicht fassbar. Da wir jedoch alle in uns drinnen leben, wissen wir, dass unser Innenleben deswegen nicht weniger wirklich ist.‘ Es ist sehr wirklich, sehr real. Und hier ereignet sich unsere Religion.

Dies ist ein ganz, ganz wichtiger Satz, deswegen soll er noch einmal unterstrichen werden:

Religiöse Wahrheit ist Erfahrungswahrheit. Religiöse Wirklichkeit ist Erfahrungswirklichkeit.

Wenn die Religionen vom Glauben sprechen und nicht vom Wissen, dann schwingt darin mit, dass ihnen sehr wohl bewusst ist: Religion hat mit diesem Innenleben zu tun, sie hat in allererster Linie mit der Suche zu tun und erst in zweiter Linie mit dem Finden. Ernsthafter religiöser Glaube ist eine kontinuierliche innere Bewegung der Suche - nach Erfahrung. Zwar finden wir zwischendurch, wir finden ganz wunderbare, tiefgehende Erkenntnisse und Erfahrungen. Aber wir verlieren auch wieder. Unser Leben geht weiter, alte Weisheiten taugen nicht mehr, wir müssen uns wieder neu mit unserer Religion auf die Suche machen. Wer das Wissen zu sehr betont, verbaut sich das Erfahren. Glauben heißt offen für Glaubenserlebnisse zu sein.

In dieser Tatsache - es ist die Erfahrung, die religiöse Wirklichkeit schafft - stecken zwei Aspekte: Es steckt eine große Chance darin und eine Schwierigkeit, vielleicht sogar eine Gefahr.

Erfahrung als Chance

Ohne die Erfahrung wären die Religionen tot - und manche Glaubensformen, die den Menschen nicht zu Erfahrungen verhelfen, sondern ihnen nur Glaubensbefehle auftischen oder sie zu etwas zwingen wollen, sind in diesem Sinne ja vielleicht auch „tot“. Die Erfahrung ist der Lebensnerv und im Grunde, jedenfalls aus Sicht einer „Religion ohne Gott“ wie dem Buddhismus, auch die einzige Rechtfertigung der Religion. Mit der eigenen Religion Erfahrungen machen zu können, das bedeutet, sich auf eine Reise machen zu können, Altes hinter sich zu lassen und Neues zu entdecken. Nur durch die Erfahrung kann ich mich in meiner Religion verwurzeln und sie sich in mir, nur durch die Erfahrung kann ich mit der Religion zusammenwachsen, sie zum Teil oder zur Grundlage meines Lebens machen. Nur die Erfahrung macht aus der Theorie Wirklichkeit - religiöse Wirklichkeit, Erfahrungswirklichkeit.

Darum gehen Religionen so tief, darum betreffen sie uns so persönlich, drum können sie uns mit unserem ganzen Leben und Sein erfassen: Weil wir die Religion leben, wir haben die Religion nicht, sondern wir tun und werden die Religion, sie ist kein Hobby neben anderen Tätigkeiten - Tennis spielen, ins Kino gehen, beten. Sondern die Religion wird uns zutiefst innerlich, sie verwächst mit uns, die gräbt sich in uns ein, sie wird ein Teil von uns, der Boden unter unseren Füßen, manchmal auch ein Boden, der uns unter den Füßen verschwindet - die Religion wird zu einer Weltanschauung, einem Blick und einer Perspektive für alles andere, das wir erleben.

Das wissen wir, wir alle würden nicht praktizieren, wenn es so nicht wäre. Der Buddhismus ist von Anfang an als Erfahrung, als Weg angelegt gewesen, vielleicht mehr andere Religionen. Der Buddhismus ist keine Gesetzesreligion, sondern er ist ein Weg, eine Ausübung, eine Art zu üben und zu versuchen und zu scheitern und zu lernen und wieder neu zu üben und sich selbst und die Welt kennen zu lernen. Der Buddhismus fordert uns ganz direkt auf, Erfahrungen zu machen, und in der Soka Gakkai steht das ganz, ganz oben auf der Liste dessen, was uns wichtig ist:

Bitte mache Erfahrungen, am besten jeden Tag, erlebe deine Religion, erlebe die Kraft des Glaubens. Das ist für uns ganz wichtig. Nur eine Religion,. die erlebt wird, ist eine lebendige Religion. Sozusagen in Klammern möchte ich \~hier anmerken, dass gerade die so oft als „Sekten“ verfemten kleinen Glaubensgemeinschaften hier eine ganz wichtige Botschaft auch an die großen und etwas langsamer und träger gewordenen Glaubensgemeinschaften haben: Wir nehmen unsere Religion sehr ernst, und das tun nicht nur einige wenige von uns, das tun wir in der Soka Gakkai alle. Wir haben keinen Feierabend- und Sonntagmorgenglauben. Wir haben keine Religion, die nur bei Hochzeiten und Beerdigungen in Kraft tritt. Wir setzen uns jeden Tag intensiv mit unserer Religion auseinander. Es ist unsinnig, wenn uns dies vorgeworfen wird, meine ich. Sicherlich muss man damit verantwortungsvoll und behutsam umgehen. Aber der eigenen Religion umfassend begegnen zu wollen, das gehört sich in gewisser Weise so, es ist richtig so. Das ist Religion. Religion ist etwas sehr Tiefgehendes und Grundsätzliches, sonst wird man die tiefen und grundsätzlichen Erfahrungen damit eben auch nicht machen können.

Erfahrung als Schwierigkeit

Was ist nun die Schwierigkeit, die darin steckt, dass religiöse Wahrheit, anders als naturwissenschaftliche Wahrheit, durch die Erfahrung geschaffen wird?

Es klang schon an - die religiöse Erfahrung geht tief, sie wird im Laufe der Zeit, gerade weil sie uns so persönlich betrifft, zu einem Teil von uns, nicht weniger, als es unser Herz oder unsere Hände und Füße sind.

Ein Beispiel: Ich bin Christin. Ich habe gebetet, viele Jahre lang. Ich hatte eine große Frage an Gott, eine ganz wichtige Frage. Vielleicht eine persönliche Frage, die mein Leben betraf. Oder es war die große Frage nach dem Leiden in der Welt. Und dann habe ich in der Kirche gesessen, oder auf einer Wiese, und ich habe gehört, wie Gott zu mir gesprochen hat. Ich habe es mit meinem eigenen Ohr gehört. Es ist mir widerfahren, es ist mir wirklich passiert. Gott hat zu mir gesprochen, er hat mir eine Antwort gegeben. Wie soll ich da einen Dialog mit einem Buddhisten führen, der sagt: „Gott? Den gibt es doch gar nicht.“ Ich müsste ja, um diesen Dialog führen zu können, meine eigene Erfahrung verleugnen. Das kann ich nicht. Was ich erlebt habe, habe ich erlebt.

Das Beispiel lässt sich leicht anders herum fassen: Ich bin Buddhistin in der Tradition Nichiren Daishonins. Ich habe vor dem Gohonzon gesessen und gespürt, wie die innere Weisheit, die Weite, die Kraft aus der Tiefe meines Lebens aufstieg, ich habe den Rhythmus der Buddhanatur gespürt. Ich bin aufgestanden und habe Dinge erlebt, die ohne mein Gebet ganz und gar unmöglich gewesen wären, ich weiß das. Ich habe ja zuvor viele andere Wege ausprobiert, nichts davon hat meinem Leben geholfen. Erst durch das tiefe Gebet zum Gohonzon ist etwas in mir und meinem ganzen Leben aufgebrochen und in Bewegung gekommen. Und dann kommt ein Christ und sagt: „Buddhanatur? Das ist doch alles Gnade Gottes.“ Wie soll ich das akzeptieren? Es würde alles, was ich erlebt habe, zu einem Trugbild abstempeln. Das kann ich nicht akzeptieren. Ich kann niemandem den Gefallen tun, bei aller Toleranz nicht, meine eigenen Erfahrungen zu verleugnen.

Damit haben wir uns vorgearbeitet zu einer Antwort auf die erste der drei Fragen, mit denen sich dieser Vortrag befassen wollte: Was ist die besondere Schwierigkeit des Gesprächs zwischen den Religionen?

Die besondere Schwierigkeit liegt darin, dass wir durch die Religion eine tiefe Gewissheit in uns schaffen, wir schaffen diese Gewissheit durch unsere ganz persönlichen, sozusagen intimen Erfahrungen - und wir müssen sehen, dass andere auch persönliche Erfahrungen machen, dass diese Erfahrungen von anderen Wahrheiten sprechen, und wir müssen sehen, dass wir unsere Wahrheit zwar überzeugend darlegen, aber nicht beweisen können. Das, was uns so immens wichtig ist im Leben, wird durch andere Religionen relativiert.

Das ist schwer auszuhalten, sehr schwer. Das halten einzelne Menschen nicht aus, und das halten ganze Kulturen nicht aus. Dann zieht man eben in die Welt und verbreitet dei eigenen Glauben mit Feuer um Schwert und bringt innerhalb von dreihundert Jahren zwanzig Millionen Indianer um und mit ihnen ihre Erlebniswirklichkeit, ihre Kultur, ihr Träume. Dann macht man als einzelner Gläubiger eben einen Bogen um Andersgläubige, möchte ihnen nicht begegnen. Oder man streitet schnell mit ihnen, versucht, die Wahrheit der anderen wegzudiskutieren, sie zunichte zu machen, auf freundlichere oder unfreundlichere Weise.

Der zweite Teil dieses Vortrags möchte mit einer Debatte vertraut machen, die derzeit im interreligiösen Dialog ein wichtige Rolle spielt. Dazu müssen einige Begriffe erläutert werden, die helfen können, die oben aufgeworfenen Fragen noch eingehender zu beantworten.

II. Exklusivismus, Inklusivismus und pluralistische Toleranz

Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftler machen sich schon länger Gedanken darüber, wie man die Haltungen der Religionen gegenüber anderen Religionen fassen könnte. Sie haben dabei die folgenden Begriffe geprägt, die helfen können, etwas von diesen unterschiedlichen Haltungen zu verstehen.

Der erste Begriff lautet „Exklusivismus“. Was heißt das? Eine exklusivistische Haltung ist eine ausschließende Haltung - meine Religion erkennt die Wahrheit, exklusiv, andere Religionen tun das nicht oder nur sehr dürftig, sehr annäherungsweise.

Gott hat sich offenbart in Jesus Christus, seinem einzigen Sohn, der die Menschheit von ihrer Schuld erlöst und ihr den Weg zum ewigen Leben gewiesen hat - den einzigen Weg. Das ist Exklusivismus. Allah ist der einzige Gott, und Mohammed ist sein Prophet, Judentum und Christentum sind lediglich Vorstufen der höchsten Wahrheit, der Islam ist die Vollendung, danach wird nichts mehr kommen, was den Islam übertrifft. Das ist Exklusivismus. Der Buddha hat in achtzig Jahren viele Lehren verbreitet, die höchste Wahrheit ist das Lotos-Sutra, und es gibt für die heutige Zeit nur einen richtigen Weg, diese Wahrheit auszuüben, das ist das Rezitieren von Nam-Myoho-Renge-Kyo. Auch das ist Exklusivismus, da einer Religion und innerhalb dieser Religion einer Art der Ausübung das exklusive Recht zugestanden wird, Wahrheit zu formulieren. Es gibt auch Formen von Exklusivismus, die auf den ersten Blick gar nicht als solche zu erkennen sind: Ich verschmelze alle monotheistischen Religionen zu einer neuen Weltreligion, sozusagen einer Überreligion - die ist aber dann auch der Gipfel der Weisheit und Toleranz. Auch das wäre Exklusivismus.

Dies soll zunächst einfach einmal so stehen gelassen und nicht bewertet werden.

Der zweite Begriff lautet „Inklusivismus“ Auch früher schon, aber besonders im 20. Jahrhundert mit seinen Bemühungen um eine bewusst ausgeübte Ökumene und eine Annäherung der Religionen, verbreitete sich eine inklusivistische Haltung. Was heißt das? Inklusivismus ist eine einschließende Haltung. Man sieht, dass die andere Religion möglicherweise nur mit anderen Worten über dieselbe Wahrheit spricht, die ich auch erkannt habe durch meine Religion.

Ist Gott vielleicht nur ein Sinnbild, eine Metapher für die höchste Wahrheit, und Buddhaschaft, Buddhanatur ist möglicherweise nur eine andere Metapher, die jedoch auf dasselbe hinzielt? Sind die Religionen wie Finger, die auf den Mond zeigen? Und der Mond wird einmal als Gott, einmal als Buddhanatur, als Urgrund, als Weltseele, als höchste Kraft, tiefste Wahrheit, formloser Geist bezeichnet? Ein inklusivistisch denkender Christ wird möglicherweise sagen: Es gefällt mir, wie Du von der Buddhaschaft sprichst. Es erinnert mich an vieles, das ich aus dem Christentum kenne. Wenn Du Buddhanatur sagst, meinst Du möglicherweise dasselbe wie ich, wenn ich vom alles durchströmenden Heiligen Geist spreche.

Eine inklusivistisch denkende Buddhistin sagt vielleicht: Im Grunde hat Jesus eine Erleuchtungserfahrung kommunizieren wollen. Er hat sich eben nur in der Sprache seines Kulturkreises ausgedrückt. Im Grunde jedoch spricht er nur mit anderen Worten von Erleuchtung, vom Aufgehen in der Göttlichkeit. In Jesus - dem Sohn Gottes und der Menschen - werden die Sphäre des Menschlichen und des Transzendenten eines, genau das will auch der Buddhismus.

Auch das soll ohne Bewertung einfach einmal so stehen gelassen werden. Der Inklusivismus ist eine von mehreren Möglichkeiten, sich selbst im Vergleich mit anderen Religionen zu positionieren.

Der dritte Begriff lautet „pluralistische Toleranz“. Die pluralistische Theologie - um das Wort Theologie zu vermeiden, sprechen wir einmal von pluralistischer Toleranz - entstand als ausformuliertes Konzept erst vor einigen Jahren und wird zur Zeit intensiv diskutiert unter Menschen, die sich mit diesen Themen befassen. Die pluralistische Toleranz macht noch eine anderen Aussage. Sie sagt: Inklusivismus, das reicht uns nicht. Das taugt nicht und trägt nicht für echte Toleranz, für ein echtes Verständnis füreinander.

Denn: Man vereinnahmt die andere Religion im Grunde nur etwas netter. Ein Buddhist möchte aber vielleicht gar nicht, dass man ihm sagt, er spreche „eigentlich auch nur von Gott“. Er will gar nicht von Gott sprechen. Er spricht nicht von Gott. Eine Christin möchte nicht, dass man ihr unterschiebt, Jesus habe „eigentlich auch nur über Erleuchtung“ sprechen wollen. Jesus ist am Kreuz für die Erlösung der Menschheit gestorben - das steht im Mittelpunkt ihres Glaubens. Jesus war nicht nur die strahlende Lichtgestalt, sondern auch derjenige, der voller Angst und Qual gerufen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Auch das verstörte, verängstigte Gesicht des Menschlichen ist ihrem Christentum wesentlich. Sie möchte nicht insgeheim in den Buddhismus verschoben und dann erst akzeptabel gefunden werden.

Die pluralistische Toleranz versucht nicht, die Religionen um jeden Preis ineinander aufzulösen. Sie lässt sie in ihrer Verschiedenartigkeit stehen und gesteht den verschiedenen Religionen zu, Wahrheit erkannt zu haben. Nicht eine Wahrheit, wohlgemerkt, sondern verschiedene Wahrheiten. Die pluralistische Toleranz lässt diese Vielfalt an Wahrheiten nebeneinander stehen, ohne einer den Vorzug zu geben. Sie sagt: Dazu sehen wir uns nicht imstande. Persönlich mögen wir eine Wahl für unseren Glauben getroffen haben. Wir sagen aber weder, wir seien exklusiv im Besitz dieser Wahrheit. Noch sagen wir, andere denken „eigentlich“ auch so wie wir. Sie denken anders. Sie erkennen und erleben auch Wahrheit. Andere Wahrheit.

Intoleranz und Toleranz kann es überall geben. Wichtig ist: Es soll hier nicht behauptet werden, dass nur eine inklusivistische oder eine pluralistische Haltung die Kraft zur Toleranz hat. Niemand soll im Namen der Toleranz überredet werden, pluralistisch zu denken. Jede dieser Haltungen hat ihre Licht- und Schattenseiten. Blicken wir noch einmal etwas eingehender in die Begriffe hinein:

Der Exklusivismus - meine Religion erkennt allein die Wahrheit - kann auch Überzeugung und Glaubenskraft und Tatkraft bedeuten. Ein Mensch, der so denkt, kann durchaus der Meinung sein: Auch wenn nur meine Glaubensrichtung die letzt und höchste Wahrheit erfassen kann, bin ich doch ein demokratisch gesinnter Mensch. Es würde mir niemals einfallen, anderen Menschen ihre Glaubensausübung zu verbieten. Mein Glaube, den ich über alles schätze, fordert mich ja gerade in einzigartiger Weise zu Verständnis auf.

Andererseits liegt die Gefahr dieser Haltung auf der Hand: Man kann ein eng denkender, arroganter und rechthaberischer Mensch mit seine Religion werden. Man kann, vor lauter Rechthaben, dialogunfähig werden, so dass man lieber nicht mit anderen spricht oder sich bemüßigt fühlt, andere sogleich zu belehren. Wenn die demokratische Gefestigtheit fehlt, kann Exklusivismus gefährlich werden.

Die inklusivistische Haltung - andere Religion sprechen eigentlich nur mit anderen Worten von dem, was ich als weise und wahr erkannt habe - kann viel Großzügigkeit bedeuten. Wer so denkt, hat möglicherweise ein weites Herz, kann vieles integrieren, nichts ist ihm fremd, in allen anderen Menschen und Glaubensrichtungen erkennt ein solcher Mensch etwas von sich und seinem Denken wieder. Wenn man sich anderen Menschen mit dieser „umarmenden“ Haltung nicht aufdrängt, kann das Spüren von Ähnlichkeiten bei interreligiösen Begegnungen sogar eine große Rolle spielen. Dann lächelt man einander plötzlich an und beide Seiten sind sich gewiss: Ja, hier empfinden wir möglicherweise wirklich dasselbe.

Andererseits kann inklusivistisches Denken auch nur eine Enge mit einem etwas schöneren Anstrich bedeuten: Letztlich sehe ich nicht den anderen und toleriere nicht den anderen in seiner oder ihrer Andersartigkeit. Sondern ich gucke so, dass ich immer nur wieder mir selbst und meinem eigenen Denken begegne. Ich gucke vielleicht gar nicht richtig hin, stelle mich den echten Unterschieden nicht, vereinnahme möglicherweise auch die anderen in einer Weise, wie sie das gar nicht wünschen.

Wenn man schließlich die pluralistische Haltung auf ihre positiven und negativen Seiten abklopft, wird man feststellen: Positiv ist sicherlich die Weite des Denkens - niemand wird vereinnahmt, niemand wird gegen den Strich gebürstet, um handhabbar zu sein, es ereignet sich hier keine Pseudotoleranz in der Weise, dass man andere erst uminterpretiert und dann toleriert. Sondern der andere Glauben bleibt anders, und dennoch gesteht man ihm zu, Wahrheit auszusprechen, auch wenn ich selbst diese Wahrheit möglicherweise innerlich nicht nachvollziehen kann.

Auf der negativen Seite kann dies möglicherweise auch bedeuten, dass ich mich drücke. Dass ich mich nicht entscheiden möchte, dass es mir persönlich vielleicht an Entscheidungskraft und an Standpunkten mangelt. Vielleicht bin ich unfähig zu vertrauen? Vielleicht lasse ich lieber die Glaubensrichtungen nebeneinander stehen, damit alles schön vage bleibt und ich nicht offen sagen oder selbst fühlen muss, dass und was ich wirklich glaube? Das wäre keine sehr stabile Grundlage für eine handlungsfähige Toleranz.

Wie auch immer wir selbst unsere Haltung beschreiben würden - als eher ausschließend, eher einschließend oder eher pluralistisch: Es kann uns nicht erspart bleiben, uns auch ein wenig zu ergründen, um festzustellen, wie es mit unserer Toleranz tatsächlich aussieht. Inwieweit sind wir in der Lage, anderes Denken zu ertragen? Steckt hinter einer großen Weite möglicherweise doch auch eine persönliche Ängstlichkeit? Wie tragfähig ist unsere Toleranz, wenn es ans Handeln geht? Abschied von der Wahrheit? Die pluralistische Haltung hat eine entscheidende Konsequenz, die man nicht verschweigen sollte:

Sie verabschiedet die Vorstellung, dass es eine – eine - Wahrheit überhaupt geben könnte. Sie tut das nicht nur aus psychologischen Gründen, sozusagen aus Menschenfreundlichkeit, um den Menschen ihre Verschiedenartigkeit nicht zu nehmen. Sie lässt ganz grundsätzlich, sagen wir aus philosophischer Einsicht, von der Vor-Stellung ab, dass es eine einzige religiöse Wahrheit geben könnte. Die pluralistische Toleranz sagt:

„Weil wir über die höchste Wahrheit keine beweisbare Aussage treffen können und weil der Anspruch auf Wahrheit so viel Leid in der Welt verursacht hat, verzichten wir darauf, diese Wahrheit überhaupt für festlegbar zu halten.“

Es gibt zwar noch immer die subjektive höchste Wahrheit, aber eben vielfach - es gibt viele subjektive höchste Wahrheiten, im Herzen vieler Menschen und vieler Religionen, die miteinander letztlich nicht vergleichbar sind. Das ist eine folgenschwere Konsequenz, die nicht jeder religiöse Mensch zu tragen bereit sein wird.

III. Einige Leitlinien für den interreligiösen Dialog

Die folgenden Leitlinien sind einem Aufsatz des katholischen Theologen Paul Knitter entnommen. Paul Knitter lehrt als Professor in Ohio in den USA und führt seit vielen Jahren als Christ den Dialog mit Buddhistinnen und Buddhisten. Paul Knitter macht vier sehr interessante Vorschläge für den interreligiösen Dialog. Seine Vorschläge sollen in diesem Vortrag etwas alltagssprachlicher und auch in einer anderen Reihenfolge erläutert werden als in seinem recht abstrakt formulierten Originalaufsatz.

1. Moralische Urteile sollten über das Handeln, nicht das Denken gefällt werden.

Es ist klar, dass beim Austausch der Religionen und Weltanschauungen auch für Wertmaßstäbe Platz sein muss. Wir sollten vielleicht etwas vorsichtiger mit dem Bewerten sein, nicht ganz so rasch urteilen - aber es sollte doch durchaus auch Platz dafür sein, dass wir sagen können: Nein, so nicht. Das finde ich falsch, ich finde es moralisch verwerflich. Wenn Menschen zu etwas gezwungen werden. Wenn Gewalt angewandt wird. Wenn Frauen nicht respektiert werden oder die Religion rassistisch oder minderheitenfeindlich ist. Wenn die Gläubigen verdummt werden, sich nicht entfalten können. Wenn ihnen falsche Versprechungen gemacht werden, und so weiter. Jede und jeder von uns hat hier vielleicht eigene heikle Punkte, wo wir sagen möchten: Nein! Das überschreitet die Grenze meiner Toleranz!

Der Vorschlag für die erste Leitlinie ist: Nicht das Denken, nicht der formulierte Glaube sollte bewertet, werden, sondern die Ausübung. Wie handelt dieser Mensch, wie handelt die Religionsgemeinschaft? Hier sollten wir ruhig „konservativ“ sein in dem Sinne, dass wir unserer Ethik treu bleiben, genau sind und genau gucken, nicht alles in Toleranz schönfärben und auflösen.

Menschen können sehr wohl einen klug formulierten Glauben vor sich hertragen, aber verwerflich und unmoralisch handeln. Dann ist ein Werturteil richtig am Platz. Und umgekehrt können Menschen einen vielleicht etwas oberflächlichen, wenig durchdachten oder sogar abstrusen Glauben haben - aber wenn es ans Handeln geht, dann stehen sie ganz mutig und beeindruckend da.

Ein bekanntes Beispiel dafür sind die Zeugen Jehovas im Dritten Reich. Sicherlich ist der Umgang der Zeugen Jehovas mit der Bibel ein wenig einfach und kurz gedacht. Sie nehmen die Bibel auf eine Art wörtlich, die sehr wenig Raum für Fragen lässt. Man kann oft nicht gut mit Zeugen Jehovas diskutieren, da strandet man schnell an festgefahrenen Lehrmeinungen. Aber aus dem unbedingten Wörtlichnehmen des biblischen Gebotes „Du sollst nicht töten!“ haben die Zeugen Jehovas in ihrer überwiegenden Mehrheit im Dritten Reich einen ganz großartigen Mut abgeleitet. Sie haben sich sehr genau Gedanken darüber gemacht, inwieweit sie den Forderungen des Faschismus nachgeben oder nicht nachgeben. Sie sind ja nicht nur nicht Soldaten geworden, sondern haben sich auch der Rüstungsindustrie verweigert, jeder Unterstützung der kriegswichtigen Produktionszweige, auch als sie längst von ihrer Zentrale in den USA abgeschnitten waren und sich ihre Haltung ohne Vorgaben selbst erarbeiten mussten. Sie sind für ihren Pazifismus in die Konzentrationslager gegangen und haben sich ermorden lassen. Es ist kleinlich - und auch das zeugt von religiöser Intoleranz - wenn man es nicht fertig bringt, dieser Haltung heute ernstgemeinten Respekt zu zollen.

Also: Werturteile in erster Linie dem Handeln gegenüber, nicht so sehr dem Denken. Ideal ist es natürlich, wenn man mutig und weise denkt und mutig und weise handelt - aber das gehört, wie wir wissen, für uns alle zu den ganz großen Herausforderungen des Lebens.

2. Zwischen Glaubenssätzen und erlebtem Glauben unterscheiden

Was ist damit gemeint? Jede Religion hat, in unterschiedlichem Maße, Glaubenssätze, Glaubensdogmen. Und die Menschen erleben ihren Glauben. Es gibt also Glaubenssätze und erlebten Glauben.

Ein Glaubenssatz ist: Der Gohonzon ist Ausdruck der höchsten Wahrheit für den Späten Tag des Gesetzes, damit alle Menschen ihre Buddhaschaft verwirklichen können. Das ist ein Glaubenssatz. Erlebter Glauben ist, vor diesem Gohonzon zu sitzen und zu chanten und einen Hauch, eine Ahnung von dieser Buddhanatur im eigenen Leben pulsieren zu fühlen und Veränderungen im Leben mit dieser Kraft zu realisieren.

Ein Glaubenssatz ist: Die Bibel ist das inspirierte, authentische Wort Gottes. Erlebter Glauben ist zum Beispiel in dem berühmten 23. Psalm niedergelegt: ... und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir... Das ist erlebter Glauben. Hier drückt sich ganz poetisch Vertrauen und Gotteserlebnis aus.

Ein Glaubenssatz ist: Nam-Myoho-Renge-Kyo ist der direkte Ausdruck des Mystischen Gesetzes, wie er vom ursprünglichen Buddha für alle Menschen enthüllt wurde. Erlebter Glauben ist, sich der schwierigsten Situation im eigenen Leben zu stellen, mit nichts gewappnet als Mut und Glauben und Daimoku - und chantend in diese Situation hinein und durch sie hindurch zu gehen. Das ist erlebter Glauben.

Diese beiden Dinge sollen hier nicht gegeneinander ausgespielt werden, nicht nur das eine oder das andere ist wichtig. In einem gewissen Grad hat jede Religion eine Lehre, eine Grundlage an Glaubenssätzen und Dogmen - und es findet in ihrem Rahmen erlebter Glauben statt. Die Lehren führen zum erlebten Glauben hin, prägen das Erleben und richten es aus. Und umgekehrt wirkt der erlebte Glauben im Laufe vieler Jahrzehnte und Jahrhunderte auf die‘ Lehren zurück.

Der Mahayana-Buddhismus beispielsweise entstand, weil die Menschen etwas erlebten, das in den Lehren zuvor, wie sie fanden, nicht angemessen ausgedrückt wurde. Hier wirkte Erlebnis auf die Lehren zurück. Und umgekehrt kommt selbst beispielsweise der Zen-Buddhismus, der sich eigentlich aller Theorie, aller Lehren enthalten möchte, doch nicht aus ohne eine Form, ohne das Ritual, ohne eine ganz bestimmte Weise zu sitzen und zu atmen bei der Meditation und ohne eine Vorstellung vom Sinn dieser Meditation. Dies wird dann auch zur Lehre, wird von den LehrerInnen an die SchülerInnen als wesentlich weitergegeben.

Wichtig ist, im interreligiösen Zusammenhang, dass wir uns um großen Respekt für das Erleben der anderen bemühen, auch wenn wir ihre Glaubenssätze nicht teilen. Wichtig ist auch, dass wir uns selbst im Klaren sind: Was sind meine Glaubenssätze, von denen ich nicht verlangen kann, dass der oder die andere sie teilt? Und was ist mein erlebter Glauben, worin ich anderen Menschen möglicherweise ganz lebendig, ganz nachvollziehbar werden kann?

Das geht direkt über in den vierten Rat, die vierte Leitlinie.

3. Den Andersgläubigen zugestehen, dass auch sie etwas Wahres zu sagen haben - im Sinne der Erfah-rungswahrheit

Dieser Punkt wurde eingangs schon einmal in anderer Form erwähnt - auch andere erleben etwas in ihrer Religion, sie spüren etwas beim Gebet, sie erhalten Antworten, möglicherweise auf andere Art, als wir das tun. Paul Knitter schlägt vor, dass wir diese Glaubenswirklichkeit und Glaubenserfahrung der anderen grundsätzlich ernstnehmen und respektieren.

Der vierte Vorschlag lautet:

4. Überzeugung mitbringen —offene Überzeugung

Dieser Vorschlag überrascht vielleicht ein bisschen. Paul Knitter sagt nicht: Seid in erster Linie akzeptierend, lächelt und stimmt allem zu, verbergt Eure eigenen Ansichten freundlich im Hintergrund. Er sagt das genaue Gegenteil: Bringt Eure Überzeugung mit. Er sagt sogar: Bringt eine absolute Treue zu Eurem Glauben mit. Warum sagt er das? Warum hält er die Überzeugung für so wichtig? Die Antwort ist:

Nur wenn wir unsere Überzeugung mitbringen, bringen wir etwas von Bedeutung mit.

Ich habe mir ja meine Überzeugung, meinen Glauben nicht leicht gemacht. Ich bin vielleicht Zen-Buddhistin. Nicht erst seit gestern, sondern seit vielen Jahren. Vielleicht bin ich eine ältere Frau und habe das dreißig oder vierzig Jahre lang gemacht. Ich habe auf meinem Kissen gesessen, stundenlang, tagelang. Ich habe ganze Wochen in völligem Schweigen verbracht und versucht, von dem Strom meiner Gedanken zurückzutreten und alle Vorstellungen, alle Konzepte, alle Wünsche fallen zu lassen, selbst den Wunsch, nichts zu wünschen. Meine Übungen haben sich tief in meinen Körper eingeschrieben. Ich kann vielleicht kaum noch richtig gehen ohne Stock, aber sowie ich mich auf das Kissen setze, legen sich meine Beine wie bei einem jungen Menschen ineinander. Wenn ich das mitbringe, bringe ich mein halbes Leben mit in den Dialog. Ich kann nicht mit dem Finger schnipsen und so tun, als bedeutete das alles nichts. Ich bringe mein Leben mit, ich bringe meine Überzeugung mit, ich bringe etwas von Bedeutung mit.

Ich bin Buddhistin oder Buddhist in der Soka Gakkai. Ich habe versucht, das tiefste Leiden meines Lebens mit der Praxis anzugehen. Ich habe vor dem Gohonzon gesessen und gechantet, stundenlang, tagelang, jahrelang. Ich habe geweint und gechantet, mir in persönlichen Gesprächen Rat geholt und gechantet, anderen Rat gegeben und gechantet, ich habe mitten aus einer persönlichen Mutlosigkeit heraus versucht, andere zu ermutigen, und habe erfahren, was es heißen kann, über sich hinauszuwachsen, und was es bedeuten kann zu beten: Namu, ich widme mich und kehre zu mir zurück, und Myoho, ich sterbe und werde wieder geboren. Ich kann nicht mit dem Finger schnipsen und sagen, das bedeute alles nichts. Natürlich bedeutet das etwas, und ich möchte es auch nicht relativieren. Ich gehe in den Dialog und bringe meine Überzeugung mit, und mit meiner Überzeugung bringe ich mein Leben mit - etwas von Bedeutung.

Nur wenn wir unsere Überzeugung mitbringen, bringen wir etwas von Bedeutung mit.

Unsere Überzeugung mitzubringen, bedeutet Respekt vor dem interreligiösen Dialog.

Knitter bittet jedoch um offene Überzeugung. Damit meint er: Ich bringe zwar Treue zu meiner Wahrheit mit. Aber ich gehe auch davon aus, dass ich über meine Wahrheit nie genug wissen und nie genug lernen kann. Meine Wahrheit steht nicht da wie ein Felsbrocken oder wie ein verschlossenes Haus. Sondern sie ist zur Tiefe und Weite hin offen, es ist eine offene Wahrheit. Ich gehe davon aus, dass auch ein Andersgläubiger - eine andere Buddhistin, ein Christ, eine Muslima - Dinge über die Religion, über den Glauben sagen kann, die mein Verständnis von meiner Wahrheit vertiefen. Deswegen interessiere ich mich für das, was andere zu sagen haben. Eine offene Überzeugung ist das, eine suchende Überzeugung.

Menschen von großer spiritueller Reife leben uns diese Haltung immer deutlich vor. Daisaku Ikeda ist mit Gewissheit ein sehr, sehr überzeugter Mensch. Aber er lässt sich von allen Weltanschauungen, von den Künsten, der Musik, der Literatur, von Menschen, die mit ihrem Leben für etwas einstehen, inspirieren. Das ist offene Überzeugung.

####### IV. Schluss und Zusammenfassung

Zum Schluss sollen noch einmal die oben gestellten drei Fragen aufgegriffen und der Versuch einer Antwort gemacht werden:

1. Was macht es so schwierig, mit Gläubigen anderer Religionen zu sprechen? Mein eigener Glaube, meine Wahrheit und Wirklichkeit ist durch mein inneres Erleben zutiefst mit mir verknüpft. Ich kann davon nicht Abstand nehmen, weil das hieße, von meiner eigenen Geschichte, meinen Gefühlen und Erfahrungen Abstand zu nehmen. Ich kann niemandem im Namen der Toleranz den Gefallen tun, nicht erlebt zu haben, was ich erlebt habe mit meiner Religion. Ich muss es aushalten, dass meine Wahrheit, die ich so tief empfinde, nicht auch die Wahrheit des anderen Menschen ist, der anderes erlebt hat. Ich muss es aushalten, dass das, was mir am Wichtigsten ist, nicht objektiv bewiesen werden kann.

2. Wie lässt sich diese besondere Schwierigkeit - hat man sie erst einmal erkannt - überwinden? Wie kann, bei aller Unterschiedlichkeit des Denkens und Glaubens, dennoch ein gutes und bereicherndes Gespräch entstehen? Wenn ich Gleichklang herstellen möchte, stelle ich meine Glaubenssätze beiseite, denn darüber lässt sich keine Einigung herbeiführen. Die Glaubenssätze und Dogmen einer Religion gelten prinzipiell nur für die Anhänger dieser Religion. Über erlebten und erfahrenen Glauben hingegen lässt sich gut mit anderen Einigkeit herbeiführen. Hier springen uns die Ähnlichkeiten ins Auge. Alle ernsthaft religiösen Menschen wissen, was Hingabe ist und was Zweifel. Sie wissen, was Entfremdung vom Glauben bedeutet und was es heißt, Vertrauen wiederzufinden und das eigene Herz zu öffnen. Hier können wir uns sehr nah kennen lernen. Wenn wir aber diskutieren möchten, wenn uns das Ausloten der Unterschiede interessiert - auch das ist ja legitim, das darf man ruhig, es macht den Dialog spannend - dann sollten wir es genau anders herum machen: Hier muss der erlebte Glauben des anderen Menschen in den Hintergrund gestellt werden, denn es darf nicht passieren, dass die religiösen Erfahrungen anderer Menschen lächerlich gemacht oder in Zweifel gezogen werden. Die Glaubenssätze, die Dogmen und Grundannahmen hingegen lassen sich kontrovers diskutieren, ohne jemanden persönlich zu verletzen. Hier kann man genau sein, direkt sein und Grenzen der Gemeinsamkeit deutlich machen. Dass ich nicht an die Bibel als authentisches Wort Gottes glaube, kann ich immer sagen. Zu sagen, es sei unreif, zu Gott zu beten, wäre ein Tabubruch und eine Verletzung, auch in einer kritischen Diskussion. Ich kann immer sagen: Das Lehrgebäude des tibetischen Buddhismus ist mir fremd, damit kann ich nichts anfangen, ich finde es nicht schlüssig. Aber jemanden, der daraus eine innere Freude zieht, in seinem Vertrauen zu seinem Lama zu erschüttern - das verbietet sich aus Gründen der Menschlichkeit und des Respekts.

3. Was gewinnen wir, wenn wir uns der besonderen Schwierigkeit des interreligiösen Dialoges stellen? Was gibt uns dieser Dialog, was kann er beitragen zu unserer Entwicklung?

Der Versuch zu dieser Antwort soll „buddhistisch“ gefasst werden, sehr auf uns und unseren Glauben bezogen. Für andere Religionen mag Anderes gelten, je nachdem, wie sie ihre Ziele und Anliegen formulieren:

Die Auseinandersetzung mit anderem Leben und Denken - sei es christliches oder buddhistisches oder naturverehrendes oder sonstiges Denken - kann eine große Hilfe zur Vertiefung des eigenen Glaubens sein. Auf einmal muss man scheinbare Selbstverständlichkeiten reflektieren, man wird vielleicht auch durcheinander geschüttelt, plötzlich stimmen alte Vorurteile nicht mehr oder die eigene Weisheit entpuppt sich als gar nicht so außergewöhnlich. Man stellt ganz neue Fragen, führt ganz neue Gespräche, auch mit den Mitgliedern der eigenen Glaubensgemeinschaft, um besser verstehen zu können.

Buddhismus bedeutet genau das:

Entwicklung, Erweiterung, Verstehenlernen, die Oberfläche zu verlassen und mit Mut in die Tiefe zu gehen. Natürlich ist der Austausch mit Andersgläubigen ein wichtiger Bereich der Friedensarbeit. Aber andere Religionen an sich heranzulassen, ist auch ein persönliches buddhistisches Unterfangen:

Wir gehen davon aus, dass wir dieses kleine Ich übersteigen und ein umfassendes Verständnis von Leben und Tod entfalten können. Aus diesem umfassenden Verständnis heraus möchten wir unser Leben und unsere Umgebung gestalten. Das Prinzip von ichinen sanzen sagt: Alles passiert in diesem Augenblick, alles ist in diesem Moment enthalten. Um dies zu erfassen, ist es wichtig, das Andere, das Fremde, das Schwierige, das scheinbar Unverdauliche zu uns durchdringen zu lassen. Durchdringen lassen heißt nicht immer gutheißen. Sondern nur:

wahrnehmen, sehen, dass es da ist

und wie es da ist, als Phänomen ernstnehmen und es verstehen. Wenn wir aber schon sehr früh blockieren, wenn wir stets nur einen Teil der Wirklichkeit wahrnehmen wollen - wie wollen wir dann Ganzheit erfassen?

Selbstverständlich ist der interreligiöse Austausch nicht der einzige Weg zu einem ganzheitlichen, umfassenden, nicht ausgrenzenden Handeln und Erleben. Wir alle üben das schon längst, indem wir mit unserer eigenen schwierigen Person und mit anderen Menschen zusammen praktizieren. Wir bemühen uns um Einigkeit, um Itai doshin, mit uns selbst und mit Menschen, die uns im normalen Leben vielleicht ganz fremd und fern wären. Es gibt ganze viele Wege, das Andere zu sich durchdringen zu lassen und als gar nicht so anders, als Teil von sich zu erkennen, und alle diese Wege sind wertvoll. Der interreligiöse Austausch ist jedoch auch ein Weg dazu - ein wichtiger Weg, gerade wegen seines friedenschaffenden Potentials.

„Ich sah einen einzelnen, unsichtbaren Pfeil in die Herzen der Menschen dringen.“ (Buddha Shakyamuni)

Dazu sagt Daisaku Ikeda:

“Diesen ‘Pfeil‘ könnte man als den Pfeil des diskriminierenden Bewusstseins bezeichnen, als ein nicht von der Vernunft geleitetes Hervorheben des Unterschieds. Der unsichtbare Pfeil des ‘Bösen‘, den es zu überwinden gilt, ist nicht bei Klassen oder Rassen zu finden, die uns fremd sind, sondern in unserem eigenen Herzen. Die Überwindung unserer Denkweise der Vorurteile und unseres Festhaltens an der Idee des Unterschieds - das ist der Leitgedanke für einen offenen Dialog und die wesentliche Bedingung für Frieden und die universelle Wahrung der Menschenrechte.

Der katholische Theologe Paul Knitter schreibt: „Wenn religiöse Menschen verschiedener Traditionen einigen dieser Richtlinien, wie ich sie gerade vorgeschlagen habe, nachfolgen, werden sie, denke ich, zwei Dinge tun und als Folge davon zwei Dinge erreichen: Zunächst werden sie aus ihren eigenen Überzeugungen heraus miteinander reden, offen, ehrlich und vielleicht auch leidenschaftlich. Und zweitens werden sie einander zuhören, mit einer echten Offenheit, die sie nicht nur befähigt, die Ideen des anderen zu erfassen, sondern auch, sich in das Leben des Anderen hineinzuversetzen. Und als Folge werden sie zunächst erfahren, dass sie einander verstehen und schätzen - als Frauen und Männer aus Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus - mit einer Klarheit und einer Herausforderung, die vielleicht neu ist. Die zweite Folge wird sein, dass sie sich von diesem Verständnis und dieser Wertschätzung her berufen fühlen, gemeinsam zu handeln, um ihre Welt zu verändern und deren Leiden zu lindern.“

„Menschliche Ganzheit kann nur im offenen Raum des Dialogs aufrechterhalten werden, sei es mit unseren Nachbarn, mit der Geschichte, mit der Natur oder dem Kosmos. Die abgeschlossene Stille eines autistischen Raumes kann nur der Ort unseres spirituellen Selbstmordes sein. Wir sind nicht von Geburt an menschlich; wir können nur uns selbst und andere kennen lernen und uns auf diese Art „trainieren“, menschlich zu sein, indem wir eintauchen in den ‚Ozean der Sprache und des Dialogs’, der gespeist wird durch die Quellen kultureller Tradition“ (Daisaku Ikeda)

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