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Ein Jahrhundert des Lebens erschaffen und aufrecht erhalten:

Herausforderungen für ein neues Zeitalter

Endlich sind wir in ein neues Jahrhundert eingetreten. Zu einem solchen

Zeitpunkt ist es natürlich, dass es ein großes Maß an Hoffnung wie auch an

Besorgnis gibt. Verglichen mit den intellektuellen Strömungen, die zu Beginn

des zwanzigsten Jahrhunderts populär waren, fehlt heute etwas, das damals

allgegenwärtig war: Ein Gefühl von Optimismus. Natürlich gibt es große

Erwartungen hinsichtlich des Fortschritts der Wissenschaft und Technologie -

besonders auf den Gebieten der Informations- und Biotechnologie. Aber es

gibt auch große negative Vorzeichen an der politischen und wirtschaftlichen

Front, besonders in Japan.

Was wird das neue Jahrhundert bringen?

Ich glaube, dass heute viele Menschen ein tiefes Gefühl von

Desillusionierung verspüren. Sie fragen sich, ob das zwanzigste Jahrhundert

wirklich eine Zeit des Fortschritts für die Menschheit war. Wenn der

bemerkenswerte Fortschritt der Wissenschaft und Technologie auch viel

Segensreiches mit sich gebracht hat, so haben die unaufhörlichen Kriege und

die nie zuvor da gewesenen Schrecken dieser Zeit doch einen unauslöschlichen

Schatten auf die Herzen der Menschen geworfen.

Wie können wir diesen dunklen Schatten vertreiben? Welche zentralen Werte

sollen den Unternehmungen der Menschen im einundzwanzigsten Jahrhundert

zugrunde liegen?

Wenn ich über diese Fragen nachdenke, erinnere ich mich an meine Gespräche

mit Linus Pauling (1901 - 1994), der als Vater der modernen Chemie gefeiert

wird.

In unseren Gesprächen, die später in Buchform veröffentlicht wurden, teilte

ich mit ihm meine langjährige Überzeugung, dass wir das einundzwanzigste

Jahrhundert zu einem "Jahrhundert des Lebens" machen müssen. Dr. Pauling

gewährte diesem Konzept seine volle Unterstützung, das er wie folgt

beschrieb: "Ein Jahrhundert, in dem den Menschen, ihrem Glück und ihrer

Gesundheit weit größere Aufmerksamkeit geschenkt wird." (1)

Dr. Paulings Leben umspannte das gesamte turbulente zwanzigste Jahrhundert.

Als Wissenschaftler und Friedensaktivist hörte er bis zu seinem Tod im Alter

von 93 Jahren niemals damit auf, menschliche und soziale Realitäten zu

hinterfragen. Vielleicht hatten deshalb seine Worte so eine einzigartige

Bedeutung für mich.

Unsere Überzeugung, dass wir die zu überwindenden Herausforderungen oder die

einzuschlagende Richtung nicht erkennen werden, solange die Menschheit die

grundlegenden Fragen von Leben und Tod nicht in den Griff bekommt, drängte

uns zu der Entscheidung, die japanische Ausgabe unseres Dialoges "In Quest

of a Century of Life" (Auf der Suche nach einem Jahrhundert des Lebens) zu

betiteln.

Wie wird die Geschichte das zwanzigste Jahrhundert beurteilen?

Eric Hobsbawms bedeutendes Werk "Das Zeitalter der Extreme - Weltgeschichte

des 20. Jahrhunderts (2) enthält in dieser Hinsicht zahlreiche wertvolle

Einsichten. Das Einführungskapitel dieses Buches "Das Jahrhundert aus der

Vogelschau" enthält die Analysen von zwölf Denkern von Weltruf. Bei der

Lektüre beeindruckt, mit welcher Übereinstimmung ein Gefühl schmerzlicher

Furcht übermittelt wird.

René Dumont (Agronom und Ökologe, Frankreich): "Ich sehe es nur als ein

Jahrhundert der Massaker und Kriege." (3)

William Golding (Nobelpreisträger, Schriftsteller, Großbritannien): "Ich

kann mir nicht helfen, aber ich glaube, dass dieses Jahrhundert das

gewalttätigste Jahrhundert der Menschheitsgeschichte war." (4)

Hobsbawn fragt dann: "Weshalb blickten so viele der Reflexion fähige Denker

ohne Genugtuung zurück und ganz gewiss ohne Vertrauen in die Zukunft?

Wahrscheinlich nicht nur deshalb, weil es ohne Zweifel das mörderischste

Jahrhundert von allen war, über die wir Aufzeichnungen besitzen: mit

Kriegszügen von nie gekannten Ausmaßen und von nie da gewesener Häufigkeit

und Dauer, unterbrochen nur für kurze Zeit in den zwanziger Jahren, und

beherrscht von bis dahin einmaligen menschlichen Katastrophen, die von

diesen Kriegen hervorgerufen worden waren (von den größten

Hungerkatastrophen der Geschichte bis hin zum systematischen Genozid)." (5)

Materieller Fortschritt, spirituelle Rückentwicklung

Es mag nicht ganz fair sein, nur auf die dunklen Kapitel der jüngsten

Geschichte hinzuweisen. Es gibt sicherlich Aspekte des zwanzigsten

Jahrhunderts, die es wert sind, als echter Fortschritt anerkannt zu werden.

Allen voran die Tatsache, dass offener Imperialismus und Kolonialismus nicht

länger akzeptabel sind. Gleichermaßen haben die Vereinten Nationen trotz

ihrer vielen Niederlagen in den vergangenen 50 Jahren kontinuierlich als

weltweite politische Organisation gewirkt - weit länger, als ihr Vorgänger,

der Völkerbund.

Es gibt weit weniger Menschen, die offen demokratische Werte in Frage

stellen. Und wenn es auch noch ein langer Weg ist, so sind die Fortschritte

der Frauen, ihr Hervortreten in allen Bereichen der Gesellschaft im Verlauf

dieses Jahrhunderts, wirklich bemerkenswert. Wenn die Wirtschaft und

Technologie auch eher gemischte Resultate hervorgebracht haben, so müssen

auf der positiven Seite der materielle Wohlstand (wie schlecht verteilt er

auch sein mag) sowie der Fortschritt in den Bereichen Transport,

Kommunikation, medizinische Versorgung und Hygiene gezählt werden. Das sind

alles Beiträge, deren Wichtigkeit niemand bestreiten wird. Und wenn wir das

Ausmaß betrachten, in welchem die Menschheit als Ganzes Zugang zu

Menschenrechten besitzt, so gibt es einen riesigen Unterschied zwischen den

rechtlichen und institutionellen Strukturen, die vor einhundert Jahren

bestanden, und denen, die heute bestehen.

Trotz dieser Errungenschaften bleibt die unbestreitbare Tatsache, dass das

zwanzigste Jahrhundert eine Zeit unglaublichen Blutvergießens war. Die

Schätzung eines Analytikers besagt, dass doppelt so viele Menschen in den

Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts getötet wurden wie in den vier

Jahrhunderten davor zusammengenommen. Das vergangene Jahrhundert war in der

Tat eine Zeit des Massengemetzels - Millionentodes - ohne Beispiel in der

Geschichte. (6)

In abschließender Analyse muss gesagt werden: Das zwanzigste Jahrhundert war

eine Zeit, die durch schamlose Missachtung des menschlichen Lebens

gekennzeichnet war. Es war eine Zeit, in der die Quellen des Lebens

ausgehungert, ausgetrocknet und dadurch zerstört wurden.

Des Weiteren ergibt eine sorgfältige Prüfung der Verbesserungen und

Fortschritte, die im zwanzigsten Jahrhundert erzielt wurden, dass sie im

Grunde genommen alle materieller und physischer Art waren. Blickt man jedoch

in die innere Welt, die Welt der menschlichen Spiritualität, so kann man

kaum leugnen, dass diese Zeit eher von Rückentwicklung denn von Fortschritt

gekennzeichnet war. Das spirituelle Leben der Menschheit scheint einer

Einbahnstraße des Schrumpfens und der Verkümmerung gefolgt zu sein. Es hat

sich in dem verfangen, was der Buddhismus als "kleines Selbst" bezeichnet,

ein Zustand der Isolation, der dann vorherrscht, wenn die Verbundenheit

unter den Menschen, zwischen den Völkern und zwischen Mensch und Kosmos

abgetrennt wird.

Wie kann dieser historische Trend umgekehrt werden, um ein wirkliches

Jahrhundert des Lebens hervorzubringen? Das war die historische und

gesellschaftliche Herausforderung, die anzusprechen Pauling und ich uns

verpflichtet fühlten.

Es gab in letzter Zeit viele Arbeiten, die über das zwanzigste Jahrhundert

reflektierten. Sie sind nicht nur auf die Forschungen von Historikern

beschränkt. Bei den Büchern dieser Art, die zu lesen ich die Gelegenheit

hatte, beeindruckte mich die Tatsache, dass es mehr als nur einige wenige

sind, die auf eine spirituelle Krise hinweisen.

So zum Beispiel in "The Crisis of the Mind" (Die Krise des Geistes),

geschrieben in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg von Paul Valéry (1871

1945): Dieser Essay von 1919 stellt sehr eindringlich die spirituelle Krise

dar, die der erste "totale Krieg" der Welt auslöste. Es gab in der Tat so

etwas wie ein ungutes Vorgefühl, dass sich die europäische Zivilisation

ihrem Untergang näherte, obwohl sie sich in ihrer glorreichsten Zeit zu

befinden schien. (7)

Valéry behandelte ausführlich solche Problematiken wie die Unzulänglichkeit

des Wissens, die grausamen Ziele, denen sich die Wissenschaft verschrieb,

und das Gefühl der Orientierungslosigkeit. Diese Probleme gibt es auch heute

noch; Valérys tiefe Einsichten in den spirituellen Bankrott der westlichen

Moderne beschreiben eine Flugbahn, die bis in die letzten Jahre des

zwanzigsten Jahrhunderts hineinreicht.

An anderer Stelle untersucht er die Ursachen, die der spirituellen Krise

zugrunde liegen. Er zeigt einen Gegensatz zu "unseren Vorfahren, die ihre

Philosophie genauso leidenschaftlich dafür eingesetzt haben, das Universum

zu bevölkern, wie wir unsere Philosophie später eingesetzt haben, um alles

Leben im Universum auszulöschen". (8)

Diese Aussage mag zwar eine gewisse ungerechtfertigte Nostalgie für die

Vergangenheit wiederspiegeln, doch ich glaube, dass sie etwas Wesentliches

über die Zeit, in der wir leben, prägnant zusammenfasst.

Ich glaube jedoch nicht, dass der Prozess des "Auslöschens allen Lebens im

Universum" beabsichtigt war. Die Bemühungen in den Bereichen der Literatur

und Philosophie konnten sich nicht über die verminderten Möglichkeiten der

Sprache erheben, um bedeutungsvolle Weltanschauungen zu erschaffen. Diese

ernsthaften Versuche, die Sprache wiederzubeleben und einen lebendigen

semantischen Raum zu kreieren, schlugen allesamt fehl.

Zugleich muss die zentrale wichtige Rolle anerkannt werden, welche die

Wissenschaft und Technologie in diesem Prozess spielen. Der Fortschritt der

modernen Wissenschaft setzte eine mechanistische Betrachtungsweise der Natur

als Objekt von Manipulation und Kontrolle voraus, die ihrem Wesen nach

getrennt neben der menschlichen Welt stand.

In den letzten fünfundzwanzig Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zeigten

gewisse Sachverhalte immer unerbittlicher die Notwendigkeit eines

Paradigmenwechsels in unserer wissenschaftlichen Herangehensweise. Dazu

zählen das dramatische Auftreten einer weltweiten Umweltkrise sowie die

Gefahren des Klonens. Diese Technologie stellt ein wichtiges intellektuelles

Grenzgebiet dar. Sollte sie jedoch missbraucht werden, könnten sie die

Grundlagen unseres Menschseins untergraben. Unser fundamentales Verständnis

der Natur und des Lebens muss die Tatsache anerkennen, dass die subjektiven

und objektiven Bereiche untrennbar sind und dass die Menschheit ein

integraler Bestandteil der Natur ist.

Takafumi Matsui, Professor an der Universität Tokyo, argumentierte, dass

Descartes berühmtes "cogito ergo sum" (Ich denke, also bin ich) heute durch

etwas ersetzt werden sollte, dass sich mehr in Richtung "Ich interagiere,

also bin ich" oder "Ich beteilige mich, also bin ich" bewegt (9). Das ist

eine Aussage, der ich vollkommen zustimme. Sie passt nämlich zu der Aussage,

die meines Erachtens die Essenz der Philosophie von José Ortega y Gasset

(1883 - 1955) beschreibt, eine Aussage, die ich in meinem Friedensvorschlag

vor vier Jahren zitiert habe: "Ich bin ich selbst plus meine Umstände, und

wenn ich die nicht rette, kann ich mich selbst nicht retten." (10)

Leben, Herz, Spiritualität

Das Leben - nicht im rein biologischen Sinn, sondern im umfassenderen Sinn

wie von Valéry angedeutet - steht im Mittelpunkt des steigenden Interesses

und der Diskussion im Japan der Jahrtausendwende. Es ist interessant,

festzustellen, dass die Worte, die dabei gebraucht werden, tendenziell alte,

einfache Begriffe sind, die - historisch betrachtet - eher von Frauen

benutzt werden und mehr die Gefühle als den Intellekt ansprechen: "Leben",

"Herz", "Spiritualität".

Solche Diskussionen wurden von einer Flut schockierender Verbrechen

ausgelöst, die an Kindern verübt wurden. Das mag erklären, warum diese Worte

verwendet wurden, die direkt das Gefühl ansprechen. Auf einer tieferen Ebene

zeichnet sich hier jedoch eine langsame aber wichtige Veränderung in den

Anliegen und Werten der Menschen ab: eine lebenswichtige Sensibilität, die

mitten im Herzen unseres gegenwärtigen spirituellen Klimas beheimatet ist.

Sir Yehudi Menuhin (1916 - 1999) zu treffen, war für mich eine kostbare

Gelegenheit, offen und frei mit einem Mann Gedanken auszutauschen, dessen

Vision und Errungenschaften als einer der größten Violinisten des

Jahrhunderts ich zutiefst respektierte. Sir Yehudi bezog sich gern auf die

Worte eines Führers der amerikanischen Ureinwohner, Chief Seattle. Dieser

soll in den 1850er Jahren als Reaktion auf ein Angebot von weißen Siedlern,

die Land kaufen wollten, eine Rede gehalten haben, aus der Sir Yehudi

folgendes zitierte:

"Wenn ich mich entscheide, [das Angebot] anzunehmen, (...) stelle ich eine

Bedingung: Der weiße Mann muss die Tiere dieses Landes wie seine Brüder

behandeln. (...) Ich habe tausend verrottende Büffel in der Prärie gesehen,

liegen gelassen vom weißen Mann, der sie von einem vorbei fahrenden Zug aus

erschossen hat. Ich bin ein Wilder und verstehe nicht, wie das rauchende

Eisenpferd wichtiger sein kann als die Büffel, die wir nur zum Überleben

töten. Was ist der Mensch ohne die Tiere? Wenn alle Tiere tot wären, würde

der Mensch an der großen Einsamkeit des Geistes sterben, denn was immer den

Tieren passiert, passiert auch dem Menschen. Alles ist miteinander

verbunden. Was immer der Erde widerfährt, widerfährt auch den Söhnen der

Erde." (11)

Sir Yehudi betonte, wie zutreffend Chief Seattles Worte für unsere Zeit

sind - für alle Zeiten.

In der Tat können wir es uns nicht leisten, das Bewusstsein und die

Sensibilität in dieser Rede als primitiven Animismus abzutun oder sie als

bloße idyllische Romantik zu betrachten. Ein derartig diskriminierendes

Bewusstsein, das das Abschlachten wilder Tiere zur Unterhaltung erlaubt,

rechtfertigt ebenso das gewaltsame Entfernen der Indianer von ihrem Land und

ihre Einkerkerung in Reservate. Und darüber hinaus ist es mit dem Ziel, ein

neues Jahrhundert des Lebens hervorzubringen, absolut unvereinbar.

Diskriminierung ist im Grunde nichts anderes als das Errichten von Barrieren

der Unterscheidung zwischen den Erscheinungsformen des Universums, um sie

dann mit einer Werte-Hierarchie auszustatten. Dadurch werden die Bande

zerrissen, die alles im Universum miteinander verbinden. Mit diesem Akt

werden in der Folge Unterdrückung und Ausbeutung gerechtfertigt. In diesem

Sinne muss Diskriminierung als Entweihung der Heiligkeit des Lebens verdammt

werden.

Eine miteinander verbundene, voneinander abhängige Welt

"Alle Dinge sind miteinander verbunden." Dieses von Chief Seattle

angesprochene Bewusstsein findet sich im Buddhismus wieder und wird dort

erweitert. Zugleich betrachtet der Buddhismus das Niederreißen von

Barrieren - in der Bemühung, sich der Realität, dem ursprünglichen Wesen des

Lebens selbst, zu nähern - als seinen höchsten Auftrag. Dies wird in dem

Konzept von einem einzigen Lebensmoment, der sowohl fühlende wie

nicht-fühlende Existenzen umfasst, ausgedrückt. Mit anderen Worten, ein

wesentlicher Lebensmoment (jpn. ichinen) enthält in sich alle Bereiche der

Phänomene (sanzen) [12]. Dies umfaßt nicht nur fühlende Wesen, wie

menschliches und tierisches Leben, sondern auch nicht-fühlendes Leben, wie

Gräser und Bäume, und sogar scheinbar leblose Berge und Flüsse.

Gleichermaßen lehrt der Buddhismus, dass die Buddhaschaft - das Potential

für höchste Freude, Weisheit und Mitgefühl - in allen Dingen existiert. (13)

Wenn es auch präzisere Definitionen von "Lebensmoment" und "Buddhaschaft"

gibt, so ist es für den gegenwärtigen Zweck vermutlich ausreichend zu sagen,

dass sie im wesentlichen der erweiterten Bedeutung des Wortes "Leben"

entsprechen, das ich verwendet habe. Obwohl der Buddhismus die direkte

Wertschätzung des Lebens teilt, die den Animismus charakterisiert, weicht

sein Ansatz in folgender Hinsicht ab. Der Buddhismus betrachtet das Leben im

tiefsten Sinn nicht als etwas, das uns einfach ohne Bemühung verliehen wird,

sondern als ein leuchtendes und fruchtbares Reich, das nur durch die

eifrigste geistige Bemühung betreten und erfahren werden kann.

Es gibt Parallelen zu dem Prozess, den René Descartes (1596 - 1650) in

seinem "Discourse on the Method" (Abhandlung über die Methode) (14)

beschrieb. Mit anderen Worten: In einer oft absurden und von Widersprüchen

erfüllten Welt kann ein vollständig erwachter Lebenszustand nur durch einen

Prozess von ständigem und schmerzhaftem Zweifeln und Nachdenken erreicht

werden, ein Prozess, der die vollen Ressourcen von Wissen, Emotion und

Willen nutzt. Der Eintritt in die gleichberechtigten und unvoreingenommenen

Bereiche des Lebens kann nur durch eine Sensibilität erreicht werden, die

durch einen dauerhaften und eifrigen Prozess des Suchens poliert und

verfeinert wird.

Diese Bereiche als unvoreingenommen und gleichberechtigt zu beschreiben,

bedeutet jedoch nicht, zu behaupten, dass sie konturlos oder anonym sind.

Was ich versuche zu beschreiben, ist das, was der Buddhismus "abhängiges

Entstehen" bezeichnet (jpn. engi) - die Tatsache, dass alle Phänomene

untereinander verbunden sind und dass die Zyklen des Entstehens (Geburt) und

Vergehens (Tod) voneinander abhängig wiederholt werden. Es gibt keine Worte,

die diese Realität angemessen beschreiben, obwohl solche Begriffe wie

Vollkommenheit, Konzentration, Wachsamkeit, Harmonie, Balance und Einheit

dazu einfallen. Der buddhistische Kanon beschreibt diesen Zustand als

"jenseits aller Worte, weder durch Gedanken noch Handlungen vermittelbar".

(15)

Sogar Shakyamuni Buddha in seinem vollständig erwachten Zustand zögerte vor

der Aufgabe, diese tiefe und subtile Erleuchtung seinen Zuhörern auf eine

Weise zu vermitteln, die weder Missverständnisse noch Verachtung

herausfordern würde.

Mein eigener Mentor Josei Toda (1900 - 1958), der zweite Präsident der Soka

Gakkai, erfuhr wegen seines religiösen Glaubens schwere Verfolgungen durch

die japanischen Militärbehörden in den dunklen Zeiten des zweiten

Weltkrieges. Unter brutalsten Bedingungen inhaftiert, widmete er seine

Bemühungen dem Nachdenken und Suchen nach der Wahrheit. Dadurch war er in

der Lage, diesen Bereich des wahren Wesens des Lebens zu erreichen.

Während seiner Gefangenschaft entschloss er sich, das Lotos-Sutra mit seinem

ganzen Wesen zu lesen und zu verstehen. Mit konzentriertem Gebet zitierte er

das Mantra des Lotos-Sutras einige zehntausend Mal am Tag, als er das Sutra

wieder und wieder durchlas. Im Sutra "Zahllose Bedeutungen" (jpn. Muryogi

kyo), das als Einleitung zum Lotos-Sutra dient, fand er eine Passage, die

ihn vollkommen verwirrte. In einem Vers, der den Buddha preist, las er:

"Sein Wesen ist weder existent noch nicht-existent;

Ohne Ursache oder Bedingung,

Ohne Selbst oder Andere;

Weder eckig noch rund,

Weder kurz noch lang;

(...)

Weder dies noch das,

Weder blau noch gelb,

Weder rot noch weiß;

Weder ocker noch violett,

noch bunt." (16)

Alles in allem enthält dieser Vers vierunddreißig solcher Verneinungen. Nach

diesem hartnäckigen Prozess, jede Ausdrucksmöglichkeit zu verneinen, fragt

man sich: Was ist das für ein Buddha, der dann übrigbleibt oder daraus

hervorgeht?

Mit einer fokussierten und geschärften Konzentration all seiner spirituellen

Kapazitäten gewann Toda die Einsicht - und damit einen großartigen und

unzerstörbaren Lebenszustand - dass der Buddha nichts anderes als das Leben

selbst ist.

Über Todas Erfahrung schrieb ich in meinem historischen Roman "Ningen

kakumei" ("Die menschliche Revolution"): "Dieser Augenblick der Öffnung in

Todas Leben war ausreichend, um die zukünftige Richtung der Philosophie in

unserer Welt zu verändern. Die Zeit wird das ganz sicher zeigen." (17) Das

war meine Überzeugung, als ich diese Worte erstmals im Januar 1968

geschrieben habe. Mein Glaube ist seitdem unverändert geblieben. Das

kontinuierliche Wachstum der Soka Gakkai International (SGI), die sich

mittlerweile in 163 Ländern und Territorien der Welt verbreitet hat, führt

seinen spirituellen Ursprung und Antrieb auf Todas Erfahrung im Gefängnis

zurück.

Darüber hinaus speist sich meine eigene Verpflichtung, aus dem neuen

Jahrhundert eine Zeit der Verehrung der Heiligkeit des Lebens zu machen, aus

derselben Quelle. Ich bin davon überzeugt, dass die einzigartige und

unschätzbare Erfahrung meines Mentors der Dreh- und Angelpunkt für einen Weg

aus der Sackgasse sein kann, in der sich die Menschheit befindet. Denn ich

glaube, dass seine Erfahrung wirklich universell ist, jeden engen

sektiererischen Rahmen sprengt und geeignet ist, das spirituelle Leben der

ganzen Menschheit zu bereichern.

Die Familie in der Krise

Der englische Historiker Arnold Toynbee (1889 - 1975) drängte uns, sich

nicht von den oberflächlichen Aspekten der Geschichte gefangen nehmen zu

lassen, sondern eher die "langsame, kaum fassbare, unberechenbare Bewegung,

die unterhalb der Oberfläche arbeitet und in die Tiefen vorstößt" zu

betrachten. (18)

In diesem Sinne ist auch meine vorherige Behauptung zu verstehen, der

häufige Gebrauch solcher Begriffe wie Leben, Herz und Spiritualität sei in

Japan ein Indiz für eine tiefgreifende Veränderung in der

Interessensausrichtung der Menschen und somit in den Tendenzen der Zeit. Ich

glaube, sie steht ganz einfach für eine Suche nach Identität, nach einer

zufriedenstellenden Auffassung von Realität in einer Zeit, in der alle

Werte, Strukturen und Systeme auf der elementarsten Ebene in Frage gestellt

werden.

In den letzten Jahren wurde viel Aufhebens um die Revolution in der

Kommunikations- und Internettechnologie gemacht. Die grundlegende Frage

bleibt jedoch: Wer wird die Herausforderungen annehmen und die positiven

Möglichkeiten dieser Revolution umsetzen? Wo werden die Menschen ein echtes

Gefühl von Identität und Zweck finden?

Wenn wir solche Fragen nicht angehen, werden wir möglicherweise feststellen,

dass die Zukunft, die uns erwartet, alles andere als rosig ist, sondern eine

Zukunft, in der Leben, Herz und Spiritualität erstickt und vernichtet

werden. Es ist dieses Gefühl der Furcht vor einer unsicheren Zukunft, die

die Menschen zu einer inneren Reise oder Suche drängt. In jedem Fall ist es

mir unmöglich, den ungetrübten Optimismus zu teilen, den einige

Kommentatoren wegen der explosionsartigen Entwicklung der

Informationstechnologien empfinden.

Das Ausmaß und die Tiefe der Krise, die zur Zeit auf uns zukommt, kann nur

innerhalb des historischen Kontextes der spirituellen Entwicklung erfasst

werden, die die menschliche Rasse hinter sich hat.

Die Familie soll die älteste Form der menschlichen Gemeinschaft sein, und es

lässt sich der Standpunkt vertreten, dass die Entwicklung eines

Familienverbandes das ist, was uns von anderen Tieren unterscheidet.

Nirgendwo sind die Auswirkungen der Krise von Leben, Herz und Spiritualität

intensiver spürbar als in der Familie.

Eltern-Kind-Beziehungen und Familienbeziehungen ganz allgemein unterscheiden

sich von anderen menschlichen Beziehungen dadurch, dass sie im wesentlichen

nicht von uns ausgesucht wurden. Sie sollten als etwas erkannt werden, dass

aus den Tiefen unseres Lebens entstanden ist, und als solches die realsten

und wichtigsten Beziehungen darstellen. Dennoch verlieren selbst diese

Bindungen ihre Stärke und sogar ihre Realität.

In Japan ist die Krise der Familie in den letzten Jahrzehnten immer

offensichtlicher geworden. Sie ist die zugrunde liegende Ursache für das

fortdauernde Auftreten der wirklich beunruhigenden und bizarren Verbrechen,

die von Kindern begangen werden. Hinter jedem dieser undenkbaren Verbrechen

steckt eine ernsthafte Schwächung oder sogar ein komplettes Zusammenbrechen

der Bande familiärer Liebe.

Wie viele Kommentatoren betonen, hört die Familie auf, ein Ort der

Erneuerung und Wiederbelebung zu sein und wird zu einem erstickenden Ort der

Isolation und Entfremdung.

Wir beobachten, dass die Bindungen unter den Menschen, ebenso wie die

Verbindungen, die wir mit der Natur und dem Kosmos fühlen sollten, ihre

Realität verlieren und mehr und mehr "virtuell" werden. Ich glaube, dass die

spirituelle Krankheit, die so viele junge Menschen in Japan heute befallen

hat - Isolation, Rückzug, extreme Apathie, Verlust der Ausdrucksfähigkeit

und der Zusammenbruch der persönlichen Identität - als Beweis für dieses

Phänomen betrachtet werden kann.

Diese spirituelle Krankheit hat die Fähigkeit der Menschen zugrunde

gerichtet, jene Wahrheit zu fühlen, dass "alle Dinge miteinander verbunden

sind". Da die authentische Wirklichkeit von mehreren Schichten ihres

virtuellen Gegenstücks verdunkelt ist, erfahren die Menschen jene

Entwurzelung, die die französische Philosophin Simone Weil (1909 - 1943) so

treffend als "déracinement" beschreibt. (19) Sie sehnen sich nach einem

bewussten Gefühl, am Leben zu sein. Kurz gesagt, sie suchen nach sich

selbst.

Verehrung des Lebens

Ich glaube, dass die Krisen des Lebens, des Herzens, der Spiritualität und

der Familie alle derselben Quelle entspringen. Das ist der Hauptgrund für

mein Bestreben, die Verehrung des Lebens zur geistigen Triebkraft für die

kommende Zeit zu machen.

Indem wir die tiefsten Bereiche des Lebens untersuchen - das weite,

lebenswichtige Netzwerk von Interaktion und Interdependenz - können wir die

so dürftig gewordenen Bindungen wiedererwecken und wiederaufbauen. Ich

spreche von einer Art Lebensliebe, die Johann Wolfgang von Goethe (1749

1832) durch seinen Faust ausrufen lässt:

"Zum Augenblicke dürft' ich sagen:

Verweile doch, du bist so schön!" (20)

Wenn wir von dieser tiefsten Wertschätzung des Lebens erhellt sind, wird es

uns gelingen, die wahre Bedeutung von Leben und Sterben wiederherzustellen

und neu zu gestalten.

Nur wenn wir auf existenzielle Fragen wie "Warum diese Familie?" "Warum

dieses Geschlecht?" "Warum diese Leiden?" antworten können, können wir die

letztendliche Frage beantworten: "Warum dürfen wir andere nicht töten?".

Eine Erneuerung der Verehrung des Lebens ist notwendig, wenn die Menschheit

eine klare Richtung im neuen Jahrhundert finden soll.

Wie sollen wir dabei vorgehen? Gemeinsam mit Faust müssen wir unsere

Bemühungen vollkommen auf den "Augenblick" konzentrieren. Dabei müssen wir

zwei Dinge verstehen. Erstens, dass alles im gegenwärtigen Moment enthalten

ist. Zweitens, dass die Art, in der wir an diesen Moment herangehen,

entscheidend ist und den gesamten Verlauf unseres Lebens bestimmt.

Das erstgenannte Verständnis ist notwendig, da das wahre Wesen des Lebens,

der Realität, nur in genau diesem Moment zu finden ist. Alles andere als der

gegenwärtige Augenblick ist bis zu einem gewissen Grad virtuell. Das stimmt

mit Sicherheit für die Zukunft, kann aber auch von der Vergangenheit

behauptet werden. Die Ereignisse der Vergangenheit sind alle in den Fluss

und Rahmen solch künstlicher Konstrukte wie tägliche, historische oder

wissenschaftliche "Zeit" eingebettet. Sie sind keine echte Realität.

In den buddhistischen Schriften finden wir folgendes Zitat: "Wenn Sie die

Ursachen verstehen wollen, die in der Vergangenheit existierten, dann

betrachten Sie die Ergebnisse, die sich in der Gegenwart manifestieren. Und

wenn Sie verstehen wollen, was sich in der Zukunft zeigen wird, dann

betrachten Sie die Ursachen, die in der Gegenwart existieren." (21) Das

beschreibt keine lineare Progression von Ursache und Wirkung. Viel eher

deutet es an, dass alles im gegenwärtigen Moment enthalten ist.

Wie Josei Toda erkennen konnte, begegnen wir den tiefsten Bereichen des

Lebens, der abhängigen Entstehung, wenn es uns gelingt all diese künstlichen

Konstrukte - einschließlich der Fallstricke der Sprache - zu durchbrechen.

Abhängige Entstehung beschreibt den Grad, in dem jede einzelne Existenz mit

allen anderen verbunden ist.

C. G. Jung (1875 - 1961), der in der östlichen Philosophie sehr bewandert

war, drückte eine ähnliche Einsicht aus, als er über die Schrecken des

zweiten Weltkriegs reflektierte: "Selbst wenn wir - juristisch betrachtet -

in das Verbrechen nicht verstrickt waren, so sind wir - dank unserer

menschlichen Natur - doch immer potentielle Kriminelle." (22)

Dieser Gedankengang mag zwar zuerst etwas aus dem Zusammenhang gegriffen

scheinen, doch aus der Perspektive der buddhistischen Lehre der abhängigen

Entstehung hat er seine eigene sehr überzeugende Logik.

Wenn wir zu dieser Wahrheit erwacht sind, können wir die zeitlosen Bindungen

wahrnehmen, die uns mit denen verbinden, die in entfernten Gebieten des

Erdballs leben. Wir können verstehen und schätzen, dass jeder von uns

derselben menschlichen Familie angehört. Die grenzenlose Erweiterung des

Selbst, die Fähigkeit zu spüren, dass wir alle durch zahllose unsichtbare

Bande miteinander verbunden sind, das ist es, was der Buddhismus als das

"große Selbst" bezeichnet.

Das Zweitgenannte, also die Art, wie wir den gegenwärtigen Moment erfassen,

ist entscheidend, weil der Zugang zum wirklichen Reichtum und der

überbordenden Vitalität des Lebens nur durch unaufhörlichen spirituellen

Kampf - von Moment zu Moment - erlangt werden kann. Diese Einstellung ist

der Trägheit und der Passivität genau entgegengesetzt, die mit spirituellem

Bankrott einhergehen.

Nichiren, der buddhistische Weise des dreizehnten Jahrhunderts, dessen

Schriften die Aktivitäten der SGI inspirieren, fordert uns in einem

berühmten Text auf, stets nach größerer Stärke zu streben, Tag für Tag,

Monat für Monat. Er warnt uns: schon bei der geringsten Nachlässigkeit

werden wir in die Fänge der Negativität geraten. (23)

Mit anderen Worten, nur jemand, der die kontinuierliche Bemühung auf sich

nimmt, seinen oder ihren Geist zu stärken, jemand, der ein angespanntes und

waches Bewusstsein beibehält, jemand, der sich zu einem ununterbrochenem

Flug emporschwingt - nur so jemand wird den Leitstern der echten Realität

berühren können. Das ist das Ideal der Selbstbeherrschung, wie sie

Shakyamuni ohne Unterlass verkündet hat. Im Gegensatz dazu wird jemand,

dessen Geist schwach ist, dessen Einstellung passiv ist, dessen Ziel

verloren gegangen ist, von negativen Gefühlen wie Furcht, Hass, Eifersucht

und Feigheit heimgesucht werden.

Mohandas K. Gandhi (1869 - 1948) stellte fest: "Bei der Gewaltlosigkeit gibt

es keine Niederlage. Doch Gewalt führt am sichersten zu einer Niederlage."

(24) Dieser Mann, der niemals einen einzigen Schritt zurückgewichen ist, ist

ein großes Beispiel und ein Pionier für das Jahrhundert des Lebens.

"Es gibt keine Niederlage..." Dieser große spirituelle Führer war erfüllt

von unerschütterlichem Vertrauen und Stolz wenn es darum ging, stets der

Meister seines Selbst zu sein. Sein lebendiges spirituelles Erbe wird stets

das Licht Ruhm und Triumph ausstrahlen. Solange dieses eine Prinzip

kompromisslos und unvermindert aufrecht erhalten wird, ist der letztendliche

Sieg garantiert. Wenn auch der Realisierung von Gandhis Traum einer

gewaltlosen Welt zahllose Herausforderungen entgegenstehen, so bin ich doch

überzeugt, dass keine davon ausreichend wäre, seine Überzeugung auch nur im

geringsten zu erschüttern.

Kreative Koexistenz und Autonomie

Wie können wir den Geist beschreiben, der das einundzwanzigste Jahrhundert

beseelen muss, wenn es ein Jahrhundert des Lebens werden soll?

Zwei besondere Merkmale, die mir dazu einfallen, sind "kreative Koexistenz"

und "autonome Funktion des inneren Willens". Diese beiden Punkte kommen in

ihrer Bedeutung den bereits angesprochenen Schlüsselworten "Leben" und

"abhängige Entstehung" sehr nahe. Zugleich waren diese beide Merkmale im

geistigen Leben des zwanzigsten Jahrhunderts auffallend abwesend.

In scharfem Gegensatz zu den Idealen der kreativen Koexistenz und der

Autonomie stehen der Wettbewerb (im negativen Sinn des Wortes) und die

Druckanwendung von außen. Sie sind die Schlüsselmerkmale für totalitäre

Philosophien wie Faschismus und Bolschewismus, die das zwanzigste

Jahrhundert beherrscht haben. Ich glaube, dass das Vorherrschen solcher

Ideologien der vielleicht größte Einzelfaktor war, der aus diesem

Jahrhundert eine Zeit des beispiellosen Abschlachtens machte.

In allen Ideologien - nicht nur im Faschismus und Bolschewismus - ist der

Fehler eingewebt, aufgrund wahrgenommener Unterschiede Barrieren der

Diskriminierung zu errichten. Diese werden dann als fest und unveränderlich

behandelt. Das schreibt wiederum die eigene Überlegenheit fest und

rechtfertigt die Verdrängung und Unterdrückung von anderen.

In Zeiten sozialer Unruhe können Ideologien die Form extremer und

fanatischer Schlachtrufgesänge annehmen. In solchen Fällen enthüllt der

"Wettbewerb" seine rauen und primitiven Aspekte des Gegeneinander und

Ausschließens anderer. Äußere Macht wird mit dem skrupellosen Gebrauch der

"Hard Power" angewendet. Die blutgetränkte Geschichte des zwanzigsten

Jahrhunderts bestätigt diese Tendenzen eindrucksvoll.

Ortega y Gassets "Aufstand der Massen" ist zu Recht als Meisterwerk bekannt,

das den Krankheitsbefund der Massengesellschaft des zwanzigsten Jahrhundert

schonungslos enthüllt. Darin finden wir diese einsichtigen Worte: "Dies ist

die Epoche der 'Strömungen' und des 'Dinge schleifen lassen'. Kaum jemand

bietet den oberflächlichen Wirbelstürmen, die in der Kunst, den Gedanken,

der Politik (...) auftauchen, irgendeinen Widerstand." (25)

In so einer Zeit wachsen die Gefahren des Ausschließens, der Konflikte und

der Gewaltanwendung exponential. Nach Joseph Goebbels infamer Maxime

funktioniert das so: Wiederhole eine Lüge hundert Mal und sie wird zur

Wahrheit. Solche Ideologien wie der nationale Fanatismus des Faschismus und

der Klassenkampf des Bolschewismus sind die dämonischen Produkte der

unreflektierten Unterwerfung unter die vorherrschenden Strömungen.

Wir müssen erkennen, dass die gegenwärtige Bewegung zur Globalisierung die

Gefahr in sich birgt, ein weiterer ideologischer "-ismus" zu werden. Ich bin

durchaus gewillt, das positive Potential und die Verdienste der

Globalisierung als einen Megatrend unserer Zeit anzuerkennen. Jedoch kann

ich auch hier den ungezügelten Optimismus einiger Kommentatoren nicht

teilen.

Insbesondere bin ich besorgt, dass die unflexible Anwendung sogenannter

"globaler Standards" dafür sorgen könnte, dass die Logik von Konflikt,

Ausschluss und Druckanwendung auch von denjenigen Gesellschaften und Teilen

der Welt ertragen werden muss, die nicht einem bestimmten Entwicklungsmodell

entsprechen. Es sind bereits mehr als genug Warnzeichen vorhanden, um den

Enthusiasmus der stärksten Befürworter der Globalisierung zu dämpfen. Damit

meine ich die schockierende Ungleichheit des Wohlstands innerhalb der

Gesellschaften sowie zwischen ihnen, sowie die rein spekulativen,

unproduktiven globalen Geldbewegungen, die manchmal als

"Kasino-Kapitalismus" bezeichnet werden.

Wir müssen die bitter erlernten Lektionen der ideologischen Herrschaft

beachten. Wir müssen den uneingeschränkten Wettbewerb durch einen Ethos der

Koexistenz ersetzen. Statt Anwendung von äußerem Druck und Zwang müssen

autonome Entscheidungen der Menschen und Gesellschaften gelten. Wir müssen

diese neuen Werte verteidigen, während wir stets das langfristige Ziel

verfolgen, das einundzwanzigste Jahrhundert zu einem Jahrhundert des Lebens

zu machen.

Die buddhistische Lehre der abhängigen Entstehung, die bis zur letzten

Konsequenz betont, wie alles miteinander verbunden und voneinander abhängig

ist, bedeutet im Wesentlichen dasselbe wie kreative Koexistenz. Darüber

hinaus wird im Buddhismus die Wirkungsweise des Lebens - der Bereich der

echten Realität, der erreicht wird, wenn wir die Fallen der Sprache und die

Tendenz überwinden, Dinge als feststehende, unveränderliche Wesen zu

betrachten - als "von Augenblick zu Augenblick spontan hervorquellend"

beschrieben. (26) Dieser Satz beschreibt die im Wesentlichen

innen-motivierte, autonome Natur der vitalen Kraft des Lebens.

Wenn diese Werte zur treibenden Kraft unserer Zeit werden, dann könnten wir

die Albträume des zwanzigsten Jahrhunderts hinter uns lassen und ein

Jahrhundert des Lebens und des Friedens verwirklichen, einem Frieden, der

weit mehr ist als ein bloßes Zwischenspiel zwischen Kriegen.

Frauen gegen Krieg

An dieser Stelle ist es notwendig, die äußerst wichtige Rolle zu betonen,

die Frauen bei der Verwirklichung dieser Welt im einundzwanzigsten

Jahrhundert einnehmen können und müssen.

Im Gegensatz zu Konflikt, Ausschluss und Macht, die die Merkmale von

Ideologie und traditionellerweise mit der Psychologie des Mannes verhaftet

sind, richten sich Frauen naturgemäß nach Werten wie Einigkeit und

Harmonie - also hin zu einer Art kreativer Koexistenz und Autonomie, die ich

bereits als zentral für ein Jahrhundert des Lebens erachtete.

Dies hatten sowohl Gandhi als auch sein enger Freund und Verbündeter, der

große bengalische Dichter Rabindranath Tagore (1861 - 1941) schnell erkannt.

Gandhi drückte seine Hoffnungen für die Frauen in der klarsten und

direktesten Sprache aus: "Wenn die Frauen nur vergessen würden, dass sie dem

schwächeren Geschlecht angehören, so hätte ich keinen Zweifel daran, dass

sie unendlich mehr gegen den Krieg ausrichten könnten als die Männer.

Beantworten Sie für sich selbst, was Ihre großartigen Soldaten und Generäle

täten, wenn ihre Frauen und Töchter und Mütter sich weigerten, ihre

Beteiligung am Militarismus in gleich welcher Form zu unterstützen." (27)

Tagore argumentierte ähnlich von einer größeren Perspektive aus, dass die

Beiträge der Frauen wesentlich sind, wenn wir die männerzentrierte

Zivilisation der Macht in eine Zivilisation der Spiritualität verwandeln

wollen.

Die nächste Zivilisation, so ist zu hoffen, wird nicht nur auf

wirtschaftlichem und politischem Wettbewerb und Ausbeutung sowie den

wirtschaftlichen Idealen der Effizienz basieren, sondern auf weltweiter

sozialer Kooperation und spirituellen Idealen von Gegenseitigkeit. Dann

werden die Frauen ihren wahren Platz einnehmen. (28)

Die Werte, Prinzipien und Ideologien, die gegenwärtig in Frage gestellt

werden, sind alles Produkte Männer-dominierter Gesellschaften. Sie sind alle

zunehmend in Fluktuation begriffen, ihre zugrunde liegenden Denkmuster

werden hinterfragt. Werte wie Leben, Herz und Spiritualität treten immer

mehr in den Vordergrund. Jeder einzelne dieser Werte ist mit dem

"Weiblichen" eng verbunden.

In dieser Hinsicht bin ich davon überzeugt, dass das Hervortreten der Frauen

im einundzwanzigsten Jahrhundert eine Bedeutung hat, die bis ins Mark der

menschlichen Zivilisation reicht. Ich glaube, das wird sich letztendlich als

weit wichtiger erweisen als rechtliche und wirtschaftliche

Liberalisierungen, so wichtig diese auch sind.

Ein Jahrhundert des Lebens muss also auch ein Jahrhundert der Frauen sein.

Seit ich 1993 das Boston Research Center for the 21st Century (29) als

Friedensforschungszentrum gegründet habe, ist die Rolle der Frauen ein

zentrales Thema seiner Forschungs- und Erziehungsaktivitäten. Die Arbeit des

Zentrums an Themen wie die Reform der Vereinten Nationen, der globalen

Umweltfragen und dem Erschaffen einer Kultur des Friedens ist mit Bedacht so

strukturiert, dass die Perspektiven und die Stimmen der Frauen miteinbezogen

werden.

Diese Forschungsweise basiert auf der Einsicht, dass der Nutzen und Erfolg

dieser Forschungsarbeit ernsthaft gefährdet würde, sollte die Perspektive

der Frauen nicht einbezogen und ihre Beiträge nicht aktiv gefordert werden.

Die Arbeit würde sogar von den Kernstrategien abdriften, die für eine

grundlegende Lösung der anstehenden Herausforderungen notwendig sind.

Ein Motto des Boston Research Center lautet: Sei ein Leuchtfeuer, das den

Weg zu einem Jahrhundert des Lebens erhellt. Ich hege in der Tat die

Hoffnung, das Boston Research Center möge seine Forschungen mit einem

besonderen Augenmerk auf die Frauen weiterführen, während es daran arbeitet,

ein globales Netzwerk der Friedensforschung aufzubauen und dadurch den Weg

erhellt zu den ozeanischen Weiten eines Jahrhunderts des Lebens.

Die Familie: Feuerprobe der Menschheit

Die Krise der Familie droht die fundamentalsten Ebenen unserer

Menschlichkeit zu unterminieren. Sie macht auf drastische Weise die

Notwendigkeit deutlich, dass Frauen eine wichtigere Rolle beanspruchen. Der

Zusammenbruch und der Wiederaufbau der Familie ist einer der größeren Trends

der Zeitgeschichte und ist beispielsweise auch das Hauptthema in Francis

Fukuyamas "Great Disruption: Human Nature and the Reconstruction of Social

Order" (Große Zerrissenheit: Die menschliche Natur und die Wiederherstellung

der gesellschaftlichen Ordnung). (30)

Wir müssen dies aus einer größeren historischen Perspektive betrachten.

In gewissem Sinn kann die Geschichte der Familie als die Geschichte der

Menschheit betrachtet werden. Dem japanischen Primatenforscher Masao Kawai

(31) zufolge lässt sich die Entstehung der Mutter-Kind-Beziehung 200

Millionen Jahre zurück datieren, wohingegen die Geschichte der Vaterschaft

knappe 5 Millionen Jahre alt ist und auf das Erscheinen der Säugetiere

zurück geht. Denn erst dadurch, dass die Männchen der Spezies die Rolle der

Vaterschaft als Gegensatz zur Mutterschaft - der Rolle der Weibchen -

angenommen haben, konnte die charakteristisch menschliche Struktur der

Familie entstehen, welche die menschliche Spezies von den anderen

Säugetierarten unterscheidet. Kawai behauptet, dass der Zusammenbruch der

Familie den Verlust der Identität unserer Spezies und die Aufgabe unserer

Menschlichkeit signalisiert. Wir stehen vor einer Krise, deren Ausmaß in der

Geschichte unserer Spezies ohne Beispiel ist.

Damit wir unsere Menschlichkeit aufrechterhalten und vertiefen können, ist

es wesentlich, dass Mütter und Väter gemeinsam in einer Partnerschaft der

Gegenseitigkeit und beiderseitigen Unterstützung zusammenarbeiten. Die

Beziehung zwischen ihnen muss eine Beziehung der kreativen Koexistenz sein,

die auf der Erkenntnis der Interdependenz oder abhängigen Entstehung

basiert.

Der Schlüssel für das Funktionieren dieser Art unterstützender, auf

Gegenseitigkeit beruhender Beziehung liegt in der Initiative der Frauen.

Männer funktionieren meiner Ansicht nach am besten als gute Partner und

Mitstreiter. Die Hauptpersonen der Familien sind jedoch die Frauen. Direkte

und indirekte Erfahrungen haben mich davon überzeugt, dass die Weisheit und

Stärke von Müttern das zentrale Element für die gesunde Entwicklung des

Einzelnen ist.

Ich rufe natürlich nicht zu einer Rückkehr zu den traditionellen

Geschlechterrollen auf, wonach das Leben der Frau auf das Heim beschränkt

ist. Diese Stereotypen werden gegenwärtig in Frage gestellt und bekämpft.

Bei der Betrachtung der historischen Geschichte der Familie müssen wir

jedoch einfach anerkennen, dass die Frauen eine tiefe, in der Tat

unermessliche Rolle spielen, eine Rolle, der allerhöchster Respekt gezollt

werden muss.

Die Begrenzungen der modernen männlichen Identität sind solcher Art, dass

Goethes Faust - ihre Verkörperung par excellence - seine Erlösung von der

Selbstzerstörung im "Ewig Weiblichen" suchen muss. (32)

Konsens über die japanische Friedensverfassung herstellen

An dieser Stelle möchte ich etwas zur gegenwärtigen Debatte über die

japanische Verfassung beitragen. Sie mag ein spezifisch japanisches Anliegen

sein, doch ich glaube, man muss sich ihm zuwenden, wenn das Versprechen

eines Jahrhunderts des Lebens realisiert werden soll.

Um auf historische und soziale Veränderungen reagieren zu können, sind

geeignete Maßnahmen zur Änderung einer Verfassung - also des landeshöchsten

Gesetzes - nur selbstverständlich und richtig. Genau wie Japan begann auch

Deutschland seine Nachkriegsgeschichte mit einer neuen Verfassung im

Bestreben, aus den bitteren Lektionen des zweiten Weltkriegs zu lernen. Im

Gegensatz zu den Japanern haben die Deutschen in der Zwischenzeit ihre

Verfassung bei zahlreichen Gelegenheiten geändert.

Im Januar 2000 wurden in Japan im Oberhaus und im Unterhaus des Parlaments

Untersuchungskommissionen eingesetzt, die den Prozess der parlamentarischen

Debatte über die gegenwärtige Verfassung in Gang setzten.

Es herrscht eine Tendenz, alle Verfassungsdebatten auf den Artikel 9

(Kriegsverzicht) zu konzentrieren. Die Ansichten darüber, ob er in seinem

jetzigem Zustand beibehalten oder abgeändert werden sollte, sind sehr

gespalten. Dieser enge Fokus ist unglücklich und kurzsichtig, denn er

verdunkelt andere wichtige Verfassungsfragen, die sich direkt auf die Art

von Demokratie auswirken werden, die Japan im einundzwanzigsten Jahrhundert

zu werden hofft. Solche Fragen sind unter anderem diverse komplexe

Menschenrechtsangelegenheiten, die Notwendigkeit eines

Umweltkrisenmanagements und die Problembewältigung im Zusammenhang mit den

neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Ebenfalls

Berücksichtigung verdienen die Einführung von nationalen Referenden und die

Direktwahl des Premierministers, um dem Willen der Bevölkerung besser

gerecht zu werden.

Es ist wichtig, dass die Verfassung im Lichte dieser Problematiken

überarbeitet wird und mit dem Ziel, eine bessere Gesellschaft zu

verwirklichen. In dieser Hinsicht ist eine Verfassungsdebatte notwendig und

positiv.

Es ist jedoch unbedingt erforderlich, dass die Änderungen im Rahmen einer

langfristigen Vision vorgenommen werden, die durch dauerhafte Prinzipien

gestützt wird. Hastige Änderungen, die auf kurzsichtigen Zielen für

sofortigen politischen Gewinn basieren, oder Änderungen ohne die nötige Zeit

für die Entwicklung eines echten nationalen Konsens müssen unter allen

Umständen vermieden werden. Solch ein Vorgehen könnte später zu Bedauern

führen und würde zudem Rechtmäßigkeit einer Verfassungsänderung in Frage

stellen.

Bei allen Debatten über die Verfassungsreform dürfen wir niemals vergessen,

dass die Ideale des Pazifismus und der internationalen Zusammenarbeit, die

in der Präambel und im Artikel 9 ausgedrückt werden, das Herz und die Seele

der japanischen Verfassung sind. Sie sind das, was sie dazu qualifiziert,

eine "Friedensverfassung" genannt zu werden.

Obwohl es Raum für vielschichtige Diskussionen über spezielle nationale

Sicherheitsfragen geben muss, bin ich vor allem darüber besorgt, ob die

Prinzipien und der Geist der Friedensverfassung nicht ausgehöhlt werden. Aus

diesem Grund glaube ich, dass der Artikel 9 nicht angerührt werden sollte.

Diese Ansicht vertrete ich schon lange.

Die pazifistische Botschaft, die Japan während des letzten halben

Jahrhunderts unter der gegenwärtigen Verfassung in der Welt verbreitet hat,

war in ihrer Art allzu leider allzu kläglich. Diese Bemühungen wurden von

hartnäckigen und anachronistischen Versuchen untergraben, das Rad der Zeit

zurück zu drehen oder gar die letzten Invasionskriege Japans zu

rechtfertigen. Das Resultat davon: Japan ist nicht als wirklich

pazifistische Nation hervorgetreten, die von unseren asiatischen Nachbarn

oder von der Welt insgesamt anerkannt und für vertrauenswürdig befunden

wird.

Die Fallstricke des "Ein-Land-Pazifismus"

Japans Befürworter des Friedens litten unter der Tendenz, sich nach innen zu

wenden, ihr Interesse auf Japan zu begrenzen. Damit verbunden ist das

Versagen, zu einer konkreten Art des Handelns zu gelangen, die tatsächlich

die Welt verändern könnte. Das Resultat dieses egoistischen

"Ein-Land-Pazifismus", ignorant gegenüber den Bewegungen der internationalen

Gesellschaft und den Belangen anderer Länder, war ein falscher Friede. Das

ist weit von der ursprünglichen Absicht der Verfassung entfernt, deren

Präambel das Recht der Menschheit erklärt, in Frieden zusammen zu leben.

Wenn wir uns im neuen Jahrhundert wirklich von dem vergangenen Jahrhundert

des Krieges verabschieden wollen, ist Japans Ausbrechen aus seiner

Stagnation und Sackgasse absolut erforderlich. Ich glaube, Japan sollte im

einundzwanzigsten Jahrhundert mit einer realitätsbezogenen und globalen

Perspektive handeln, neues Leben in die Absicht und Ideale des Artikel 9

hauchen und sie mit der Welt teilen.

Ich erinnere mich an die Worte des japanischen Philosophen Arimasa Mori

(1911 - 1976): "Die Welt ist ein Wettbewerb in Selbstbeherrschung. In dieser

Hinsicht ist die Politik dem Militär überlegen. Darin ist ebenfalls die

wahre Bedeutung des Friedens zu finden." (33)

Diese Betrachtungsweise sollten wir uns sorgfältig zu eigen machen. Was in

Japans politischer Nachkriegskultur am meisten fehlte - nicht nur im

Hinblick auf Verfassungsfragen - war Selbstbeherrschung, aufrichtige

Überzeugung und ein starkes und waches Bewusstsein, von dem ich bereits

gesprochen habe.

Es ist eine unleugbare Tatsache, dass Japans Führer sich während der Jahre

des Kalten Krieges in einer Weise verhalten haben, die weder selbstmotiviert

noch autonom war. In der Zeit nach dem Kalten Krieg hat sich das nicht

geändert. Der Zusammenbruch von Japans Seifenblasenwirtschaft, ein Ereignis,

dessen psychologische Auswirkung manchmal mit Japans Niederlage im zweiten

Weltkrieg verglichen wird, hat eine spirituelle Landschaft der Passivität

und Apathie geschaffen, die von irgendeinem Ideal der Selbstbeherrschung

oder Überzeugung weit entfernt ist.

Das gleiche gilt für die Verfassungsdebatte. Das wichtigste ist, die

Kernprinzipien und Überzeugungen des Pazifismus sorgfältig und eigenständig

auszuarbeiten, die so charakteristisch sind für die gesamte Verfassung. Es

ist meine Überzeugung, dass dies auch ohne eine Änderung des Artikels 9

geschehen kann.

Der Artikel 9, insbesondere der erste Absatz, verdankt viel dem Vertrag von

Paris aus dem Jahre 1928, in dem die Unterzeichner auf Krieg als Instrument

nationaler Politik verzichten. Das war ein direkter Versuch, das tiefe

Verlangen der Menschheit nach Abschaffung des Krieges zu realisieren. Mit

dem Verzicht auf "Krieg als souveränes Recht der Nation sowie der Androhung

oder dem Gebrauch von Gewalt als Mittel zu Beilegung internationaler

Auseinandersetzungen" akzeptiert die japanische Verfassung Beschränkungen

der nationalen Souveränität. Von seinem Ursprung her ist klar, dass Japans

Akzeptanz dieser Bedingung der beschränkten Souveränität auf dem Gedanken

basierte, dass die aufgegebenen Aspekte der Souveränität einer

internationalen Körperschaft überantwortet würden, insbesondere den

Vereinten Nationen.

Japans beste und auch selbstverständlichste Entscheidung wäre deshalb, die

freiwillige Beschränkung der Souveränität als Motivation zu nehmen, mit der

UN sorgfältig und koordiniert für einen dauerhaften Frieden in der Welt

zusammenzuarbeiten.

Eine solche Entscheidung würde mit der Absicht der Präambel der japanischen

Verfassung und der UN-Charta völlig übereinstimmen. Würden die besonderen

verfassungsmäßigen Verpflichtungen Japans in einen größeren, universellen

Kontext gestellt, dann sollte es möglich sein, eine Politik zu entwickeln,

die Japan als echte Friedensnation in der Welt bekannt macht. Japan hat die

Gelegenheit, eine Führungsrolle zu übernehmen bei der Schaffung von

Vorraussetzungen für wirklich universelle und effektive UN-zentrierte

Sicherheits- und Konfliktpräventionssysteme.

Im Zusammenhang damit ist es entscheidend, dass wir effektive Methoden

finden, internationales Verständnis und Kooperation zu fördern. Hier ist in

Japan noch viel Platz und Möglichkeit für eine proaktivere Haltung. Auf dem

geistigen Boden der Selbstbeherrschung und echter Überzeugung kann Japan auf

Gebieten wie der internationalen Entwicklung und der Anhebung von

Lebensstandards beitragen, sowie im Bildungs-, Kultur- und Sportaustausch.

Dies setzt ganz wesentlich voraus, dass alle japanischen Bürger ihre

Passivität ablegen und eine tiefe Selbstverpflichtung zu sinnvollem Handeln

eingehen. Es ist mein inbrünstiger und dauerhafter Wunsch, dass Japan eine

führende Rolle in diesem beispiellosen und fordernden Experiment übernimmt,

eine Welt ohne Krieg zu verwirklichen.

Eine zentrale Rolle für die UN

Der Erfolg von Japans diesbezüglichen Bemühungen ist tief mit der

zukünftigen Ausrichtung und Entwicklung der UN verknüpft.

Um Frieden im kommenden Jahrhundert zu verwirklichen ist es absolut

wesentlich, dass wir die traditionelle Vormachtstellung von miteinander

konkurrierenden nationalen Interessen - die Ursache so vieler Kriege und

Tragödien - durch eine internationale Gemeinschaft ersetzen, die sich dem

Wohlergehen der gesamten Menschheit und der Erde widmet.

Die UN kann und muss eine entscheidende Rolle bei dieser Veränderung

spielen. Die Herausforderungen, denen die Menschheit gegenübersteht -

Friedensförderung und Abrüstung, Umweltschutz, Armutsbekämpfung - erfordern

ganz eindeutig eine Kooperation und eine Harmonisierung unserer Bemühungen

über nationale Grenzen hinweg. Wir müssen uns in der Tat als eine Menschheit

vereinen, die sich in einem gemeinsamen Kampf engagiert.

In dieser Hinsicht haben wir wirklich keine andere Wahl als uns an die UN zu

wenden. Ein halbes Jahrhundert lang hat sie als Forum für einen globalen

Dialog internationalen Konsens hergestellt. Sie hat sich ständig in

humanitärer Unterstützung und Hilfsprogrammen überall auf der Welt

engagiert. Ich bin überzeugt, dass nur die UN - trotz all ihrer

Beschränkungen und Probleme - die Schlüsselrolle bei der Vereinigung der

Menschheit spielen kann.

Die Millenniumsdeklaration der Vereinten Nationen (34), die beim

Millenniumsgipfel im September 2000 von einer bisher einmaligen Versammlung

von Staats- und Regierungschefs angenommen wurde, hat in dieser Hinsicht

eine tiefe Bedeutung.

Die Deklaration ruft die Länder der Welt dazu auf, die Verantwortung für die

Lösung globaler Probleme gemeinsam zu tragen und stellt ganz klar fest: "Als

die universellste und repräsentativste Welt-Organisation muss die UN die

zentrale Rolle spielen."

Das hohe Ziel und der Gründungsgeist der UN werden in der Präambel der UN

Charta kraftvoll ausgedrückt: "Wir, die Völker der Vereinten Nationen - fest

entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren,

die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit

gebracht hat..." (35)

Es ist an der Zeit, die Bemühungen für die Erschaffung eines Gefüges

voranzutreiben, das wirklich die gesamte Menschheit involviert in einen

gemeinsamen Kampf, die Geißel des Krieges vom Angesicht der Erde

abzuschaffen.

Soft Power, Beteiligung der Völker

Die Diskussion über die zukünftige Richtung der UN konzentriert sich

unausweichlich auf Fragen wie: "Was für eine Welt wollen wir?" und "Wie

sollen wir auf die verschiedenen Herausforderungen reagieren?" Wenn wir über

diese Fragen nachdenken, dürfen wir nie außer acht lassen, dass das Wesen

der UN in der "Soft Power" zu finden ist - in der Kraft von Dialog und

Kooperation.

Wenn die UN Charta die Möglichkeit der Anwendung von "Hard Power"

einschließlich Militäraktionen klar akzeptiert (Kapitel VI über die

friedliche Beilegung von Streitfällen wird gefolgt von Kapitel VII, das

Maßnahmen zur Durchsetzung festsetzt), so hat eine friedliche Lösung eines

Konfliktes doch absolute Priorität. Die Anwendung von Hard Power ist

Krisensituationen vorbehalten, aus denen es keinen anderen Ausweg gibt.

Internationalen Frieden und Sicherheit durch den Einsatz von Soft Power zu

verwirklichen bleibt die unveränderliche und wichtigste Aufgabe der UN.

Diese Aufgabe wird durch die Ursprünge der UN deutlich: die bitteren

Lektionen zweier Weltkriege. Wenn wir das einundzwanzigste Jahrhundert zu

einem Jahrhundert des Lebens machen wollen, das auf dem Ethos kreativer

Koexistenz und Autonomie aufbaut, dann ist es lebenswichtig, niemals dieses

fundamentale Prinzip aus den Augen zu verlieren.

Während die rechtmäßigen Funktionen des UN Sicherheitsrats anerkannt werden

müssen, ist gleichzeitig klar, dass sich die UN des einundzwanzigsten

Jahrhunderts auf den Weg der Soft Power konzentrieren muss, mit ihrer

Betonung auf Konfliktprävention und Stabilisierung potentieller

Krisensituationen.

Das erfordert eine Aufwertung der menschlichen Sicherheit - des Schutzes und

Wohlergehens der Menschen - im Gegensatz zum bloßen Schutz nationaler

Grenzen.

Zu diesem Zweck sollten wir die unschätzbaren Lektionen und Erfahrungen der

letzten fünfzig Jahre miteinbeziehen, um es dem Wirtschafts- und Sozialrat

(ECOSOC) und den Hilfsorganisationen zu ermöglichen, konstruktivere und

aktivere Rollen zu übernehmen. Dabei hoffe ich inständig, dass die

Sondertagung der UN-Generalversammlung zum Thema Kinder im September 2001

(36) wertvolle Ergebnisse liefern wird aus den ernsthaften Diskussionen

darüber, was wir als Menschheit für die zukünftigen Generationen tun können.

Für die stärkere Ausrichtung der UN auf Soft Power wird es gleichermaßen

wichtig sein, die kooperativen Beziehungen zwischen der UN und der

Zivilgesellschaft voranzutreiben, d. h. mit dem breiten Spektrum der

Nichtregierungs- und Freiwilligenorganisationen. Das ist unbedingt

erforderlich, wenn wir sicherstellen wollen, dass die UN wirklich von den

Menschen, durch die Menschen und für die Menschen existiert.

Die UN würde geschwächt und marginalisiert, sollte sie von der Logik der

Konfrontation und des Ausschlusses überrannt werden, dem negativen Erbe des

zwanzigsten Jahrhunderts, das von miteinander konkurrierenden nationalen

Interessen beherrscht wurde. Sollte die UN der Versuchung unterliegen, sich

auf Druck und Zwang zu verlassen, so würde dies Ursachen für weitere

Konflikte schaffen - und die UN würde an Glaubwürdigkeit und Vertrauen

verlieren. Daher ist es wesentlich, ihre Identität als eine Organisation zu

stärken, die sich dem Wohlergehen der gesamten Menschheit widmet und von den

Menschen an der Basis unterstützt wird. Es ist keine Übertreibung zu sagen,

dass das Schicksal der Menschheit im einundzwanzigsten Jahrhundert davon

abhängt, wie erfolgreich die UN handlungsfähig gemacht und dabei den

Menschen an der Basis eine Hauptrolle zugesichert werden kann.

Diese neue Leitlinie wird in der bereits erwähnten Millenniumsdeklaration

klar widergegeben. Der Abschnitt über die Stärkung der UN definiert

Zivilgesellschaften als unverzichtbare Partner und verkündet den Entschluss,

"dem privaten Sektor, Nichtregierungsorganisationen und Zivilgesellschaften

im allgemeinen, größere Möglichkeiten zu geben, zu der Verwirklichung der

Ziele und Programme der Organisation beizutragen." Dies ist eine sehr

wichtige Aussage, die explizit darauf abzielt, die UN in die Lage zu

versetzen, über ihr bestehendes Rahmenwerk als Zusammenkunft souveräner

Staaten hinauszuwachsen.

Die Beteiligung der Menschen ist der beste Weg, die UN neu zu beleben. Das

ist sogar absolut notwendig, wenn die UN ihre gegenwärtigen Beschränkungen

überwinden und sich zu einem Konzentrationspunkt für die Aktivitäten der

globalen Zivilgesellschaften entwickeln soll. Wenn die UN die vielfältigen

Talente und Fähigkeiten gewöhnlicher Bürger zusammenbringt, wird sie in der

Lage sein, ihre eigentliche Essenz, ihren humanistischen Charakter, zu

bereichern und zu verstärken. Ich bin davon überzeugt, dass dies der Weg

ist, den sie in die Zukunft hinein beschreiten sollte. Nun ist die richtige

Zeit für effektive Maßnahmen, um diese Vision zu verwirklichen und

durchzuführen.

In dieser Hinsicht sind die Vorschläge, die im Mai 2000 bei dem "We the

Peoples Millennium Forum" - eine Zusammenkunft der globalen

Zivilgesellschaften im Vorfeld des Millenniumsgipfels - gemacht wurden, eine

reiche Quelle an Ideen für konkrete Taten. (37)

In einem der angenommenen Papiere drängt das Forum auf die Schaffung eines

globalen Zivilgesellschaftsforums. Es fordert die Ausweitung der beratenden

Rechte der NGOs (Nichtregierungsorganisationen) sowie Zugang und Teilnahme

an der Generalversammlung und anderen Hauptorganen der UN.

Diese Initiativen stimmen mit den Ideen überein, die ich in der

Vergangenheit vorgeschlagen habe, und ich fordere, dass sie so schnell wie

möglich umgesetzt werden.

Reformvorschläge

Im letzten Jahr hat das Toda Institute for Global Peace and Policy Research

(Toda Forschungsinstitut für Weltfrieden und Politik) [38] einen Bericht

über das Global Governance Reform Project mit dem Titel "Reimagining the

Future" (Die Zukunft neu denken) veröffentlicht. (39) Es ist das Ergebnis

von Forschungen, die in Zusammenarbeit mit der La Trobe Universität

Melbourne und der Chulalongkorn Universität Bangkok durchgeführt wurden.

Insbesondere spiegelt er die Arbeit zweier Expertenrunden wider, denen so

führende Denker wie Boutros Boutros Ghali angehörten, der frühere

Generalsekretär der UN.

Mit der Forderung nach einer demokratisierten globalen Regierungsform als

ein Schlüssel zur Stärkung der UN präsentiert dieser Bericht konkrete

Initiativen für eine kühne Reform, wie zum Beispiel die Schaffung eines

Völkerparlaments, das die UN offener und zugänglicher für die

Zivilgesellschaft machen würde.

Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit zu einem Gedankenaustausch mit

Johan Galtung, einem Pionier auf dem Gebiet der Friedensforschung. Damals

äußerte er diesen Gedanken über den besonderen Wert eines Völkerparlaments:

"Vielleicht glaube ich mehr an lang andauernde Dialoge, die zu neuen Ideen

und einem Konsens führen, als an kurze Debatten, die wenige Ideen

hervorbringen und in Abstimmungsentscheidungen enden, bei denen es Gewinner

und Verlierer gibt." (40)

Neue institutionelle Maßnahmen müssen entwickelt werden, die in einem

Dialogprozess die Beteiligung der Menschen voll integrieren. Das ist der

sicherste Weg für die Entwicklung einer langfristigen Vision, die niemanden

zurücklässt und die Interessen und Sorgen aller Parteien berücksichtigt.

Pläne in dieser Richtung werden von verschiedenen Organisationen

vorgeschlagen, und meiner Ansicht nach ist die Zeit gekommen, die

entscheidenden Schritte zu ihrer Realisierung zu unternehmen.

Den NGOs sollte nicht einfach nur eine unterstützende Rolle für die

jeweiligen Regierungen zugedacht werden; tatsächlich sind sie die

Schlüsselfiguren bei der Errichtung einer neuen internationalen Ordnung, die

auf einem Ethos der kreativen Koexistenz und Autonomie basiert. Wenn es

darum geht, die Würde und Sicherheit jedes Einzelnen zu beschützen, wird die

UN umso effektiver sein, je mehr sie die Energien und Bemühungen der

Menschen verkörpert.

Die Unterstützung der Völker der Welt zu gewinnen, ist auch ein Schlüssel

zur Lösung der seit langem schwierigen Aufgabe der UN, stabile

Finanzierungsquellen zu sichern,.

Die gegenwärtige Abhängigkeit von den Beiträgen der Mitgliedsstaaten

behindert die Möglichkeiten der Organisation, Notfallmaßnahmen in Krisen zu

treffen oder sich in einer konzentrierten und nachhaltigen Weise mit

bestimmten Problemen zu befassen. Eine Stabilisierung der UN-Finanzen durch

eine zusätzliche Finanzierungsquelle würde helfen, diese Probleme zu

lindern.

In diesem Zusammenhang möchte ich die Schaffung eines Völkerfonds für die UN

vorschlagen. Dabei könnte man von den Vorbildern unabhängiger

Mittelbeschaffung lernen, wie sie beispielsweise von der UNICEF so

erfolgreich eingesetzt werden. Diese neue Organisation würde sich aktiv um

das Aufbringen von Geldern bemühen und Spenden von Einzelpersonen,

Organisationen und Verbänden annehmen. Die gesammelten Mittel würden in

erster Linie dafür verwendet werden, die humanitären Aktivitäten der UN zu

unterstützen.

Die Armut auslöschen, die Umwelt schützen

An dieser Stelle möchte ich über die dringenden globalen Aufgaben der

Armutsbekämpfung und des Umweltschutzes sprechen. Das sind Hauptprobleme,

die als Teil einer gemeinsamen Menschheitsanstrengung gelöst werden müssen.

Diese Anstrengung muss von den Menschen selbst und mit der UN als ihrer

Zentrale angeführt werden.

Die Ausrottung der Armut muss stärker und konzentrierter angepackt werden.

Dem Entwicklungsbericht der Weltbank des Jahres 2000/2001 zufolge leben 1,2

Milliarden Menschen - circa zwanzig Prozent der Weltbevölkerung - von

weniger als einem US-\$ pro Tag. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass sich

diese Zahl, wenn überhaupt, dann nach oben bewegt. (41)

Im letzten Jahr veröffentlichte die Weltbank einen wichtigen Bericht mit dem

Titel "Voices of the Poor" (Stimmen der Armen) [42]. Es ist das Ergebnis

einer zehnjährigen Anstrengung, die Originalstimmen von rund sechzigtausend

Menschen aus sechzig Ländern zusammenzutragen. Die Studie vermittelt die

tatsächliche Lebenswirklichkeit von armutsgeplagten Menschen und versucht zu

erhellen, was die grundsätzlichen Ursachen dieses Problems und die

Sehnsüchte der armen Menschen sind.

Die Weltbank drängt auf die Berücksichtigung der folgenden Punkte bei der

Umsetzung von Grundsatz- und Hilfsprogrammen: 1) Erweiterung der

wirtschaftlichen Möglichkeiten für die Armen, damit sie sich selbst aus der

Armut befreien können. 2) Die Menschen zu Entscheidungen befähigen, die ihr

Leben und ihre Arbeit betreffen. 3) Eine Grund-Infrastruktur und Programme

zur Erweiterung von Hilfsmaßnahmen in Katastrophen- und Notsituationen

entwickeln.

Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen vertritt

ebenfalls diese Ansicht. In seinem Buch "Development as Freedom"

(Entwicklung als Freiheit) behauptet er, dass die Menschen nicht nur als

Nutznießer von Entwicklungsprogrammen betrachtet werden sollten, sondern

dass "die Menschen bei adäquaten sozialen Möglichkeiten ihr eigenes

Schicksal effektiv formen und einander helfen können. Sie müssen nicht

hauptsächlich als passive Empfänger von Leistungen aus schlauen

Entwicklungsprogrammen betrachtet werden." (43)

Ich stimme mit Sen vollkommen überein, dass Menschen als die Macher von

Veränderungen gesehen werden sollten. Es ist entscheidend, von den Menschen

selbst herauszufinden, was benötigt wird und dies in Hilfs- und

Entwicklungsprogramme einfließen zu lassen, anstatt solche Programme in

einer "von-oben-herab-Manier" willkürlich zu planen. Das ist die wirkliche

Bedeutung von Demokratisierung.

Auf internationaler Ebene sollte es ein ständiges Forum geben, in dem die

Stimmen der an den Rand gedrängten Menschen gehört werden können.

Gegenwärtig haben nur die wohlhabenden Länder Möglichkeiten geschaffen wie

den OECD-Gipfel und die jährlichen Treffen des Weltwirtschaftsgipfels in

Davos, um sich zu treffen und gemeinsam die Richtung der internationalen

Politik und Wirtschaft zu diskutieren.

An dieser Stelle möchte ich etwas vorschlagen, das "Forum der Erde" genannt

werden könnte. Dieses Forum sollte als Brücke zwischen den Menschen der

Entwicklungsländer und jenen Zusammenkünften der Reichen dieser Welt

fungieren. Das könnte den Dialog und die Diskussion hin zu einer globalen

Gesellschaft vereinfachen, die wirklich gerecht und chancengleich ist.

Nach meiner Vorstellung sollte dieses Forum vor allem die Entwicklungsländer

durch ihre Regierungs- und Nichtregierungsvertreter involvieren, aber auch

Vertreter von internationalen Körperschaften, einschließlich des

UN-Generalsekretärs. Dort würden die Fehlschläge und die besten Methoden der

verschiedenen Länder und Organisationen ausgetauscht und von ihnen gelernt.

Es würde eine Globalisierungspolitik unterstützen, die die Ansichten der

Entwicklungsländer wirklich respektiert und eine Entwicklungshilfe

ermöglichen, die den wahren Bedürfnissen der Menschen gerecht werden würde.

Dieses Forum könnte zweimal pro Jahr zusammenkommen und Vertreter zu den

Gipfeltreffen und nach Davos entsenden, um seine Resultate und Forderungen

zu präsentieren. Dadurch würde sichergestellt, dass die Ansichten der

Entwicklungsländer in den Agenden dieser Konferenzen auf adäquatere Weise

beachtet würden.

Der G8-Gipfel 2000 in Kyushu, Okinawa (44) war der erste OECD-Gipfel, der

einen Dialog zwischen den Führern der entwickelten Länder und den

Entwicklungsländern beinhaltete. Auf dieser Erfahrung sollte aufgebaut

werden. Solch ein Dialog sollte ein integraler Bestandteil der andauernden

Gipfel-Vorbereitungen werden. Dieser Dialog ist entscheidend, um die

Menschen aller Völker im Kampf gegen die Armut - und gegen das

unaussprechliche Leid, das sie verursacht - zu vereinen.

Die andere Herausforderung, der wir begegnen müssen, ist der Schutz und die

Förderung der Umwelt auf globaler Ebene.

Die Rio-Umweltkonferenz 1992 hat das Bewusstsein dafür, wie dringend

notwendig es ist, auf globaler Ebene zu kooperieren, um die Umwelt zu

schützen, erheblich verstärkt. Daraus sind internationale Umweltabkommen wie

das "United Nations Framework on Climate Change" (UN-Rahmenwerk zum

Klimawechsel) entstanden.

Trotz dieser Bemühungen ist jedoch die Zerstörung der Umwelt weiterhin

stärker auf dem Vormarsch als alle Maßnahmen dagegen. Die Situation

verschlechtert sich weltweit. Wenn dieser Trend nicht umgekehrt wird, werden

wir uns garantiert einer Krise von verheerendem Ausmaß gegenübersehen. Der

einzige Weg, der uns bleibt, ist eine Revolution im Bewusstsein der

einzelnen Menschen und ganzer Gesellschaftsformen. Genau dies ist das Ziel

der "Earth Charter" Initiative (45), die von Michail Gorbatschow und anderen

unterstützt wird. Hierin liegt auch ihr großer Wert.

Seit einer ganzen Reihe von Jahren bemüht sich die SGI, durch vielfältige

Aktivitäten die Earth Charter Kampagne zu unterstützen. Auch hat das Boston

Research Center Konferenzen und Seminare veranstaltet, auf denen

vielschichtige Perspektiven und Anregungen für den Entwurf der Earth Charter

entwickelt wurden.

Der Text der Earth Charter wurde im März letzten Jahres fertiggestellt. Er

ist das Produkt von hartnäckigen Bemühungen, die Stimmen und Meinungen von

Menschen unterschiedlichster Herkunft weltweit zusammenzuführen.

In vier Kapiteln und sechzehn Abschnitten gibt die Charta eine verständliche

Sammlung ethischer Prinzipien bekannt, auf denen eine neue globale

Gesellschaft aufgebaut werden sollte. Schon in den Überschriften der

jeweiligen Kapitel zeigt sich klar die Reichweite und Tiefe dieses

Dokuments: 1) Respekt und Sorge für die Gemeinschaft des Lebens; 2)

Ökologische Integrität; 3) Soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit; 4)

Demokratie, Gewaltlosigkeit und Frieden.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Prinzipien der Earth Charter, die

sich aus einem globalen Dialog herauskristallisiert haben, als Grundlage für

ein Jahrhundert des Lebens dienen können.

Eines der Ziele der Earth Charter Initiative ist es, 2002 - dem zehnten

Jubiläum der Rio-Konferenz - von der UN-Generalversammlung anerkannt zu

werden. Es ist entscheidend, dass die Prinzipien der Earth Charter im Leben

jedes Einzelnen als fundamentale ethische Leitlinien verwurzelt werden. Sie

darf nicht nur zu einer Übereinkunft zwischen Regierungen werden.

Die SGI wird weiterhin die Earth Charter durch vielfältige Aktivitäten

unterstützen. Neue Ausstellungen werden dafür geplant, um die Menschen

darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig es ist, dass sie offiziell

verabschiedet wird und sie zum persönlichen Anliegen, zur persönlichen

Verpflichtung jeder einzelnen Person werden zu lassen.

Die zukünftigen Funktionen und Beiträge Chinas und Indiens

Ich möchte nun die regionalen Belange Asiens und Afrikas ansprechen, die so

wichtig sind bei der Erörterung der praktischen Schritte für eine Welt der

kreativen Koexistenz und der Autonomie.

In Asien möchte ich mich heute auf die Rollen Chinas und Indiens

konzentrieren. Beide Länder werden eine immer wichtigere Rolle einnehmen,

nicht nur kraft ihrer Einwohnerzahl, Größe und Bedeutung für die

internationale Sicherheit, sondern - weit entscheidender - wegen dem, was

man als "kulturelle Perspektive" bezeichnen könnte.

Ich erinnere mich voller Zuneigung an Arnold Toynbee, als er mit mir seine

Gedanken über China teilte: "Vielleicht ist es Chinas Schicksal, politische

Einigkeit und Frieden nicht nur der halben, sondern der ganzen Welt zu

geben." (46)

Seine Überzeugung, dass unsere Vision nicht von unmittelbaren Phänomenen

geblendet werden sollte, war ein beständiger Faktor in seiner großen

Geschichtstheorie. Diese Überzeugung ist auch in seinen gerade zitierten

Worten spürbar. Er war sich sicher, dass die Zukunft nur dann richtig

vorhergesehen werden kann, wenn man die tieferen, langsameren Bewegungen

sorgfältig betrachtet, die letzten Endes die bestimmenden Faktoren der

Geschichte sind.

In dieser Zeit rief ich dazu auf, die diplomatischen Beziehungen zwischen

Japan und China wieder herzustellen und China in die UN aufzunehmen.

Toynbees Einschätzung von Chinas Bedeutung traf auch meine eigenen Gefühle

genau. 1974 - ein Jahr nach meinen Gesprächen mit Toynbee in London -

verwirklichte sich mein langgehegter Wunsch, China zu besuchen.

Seit damals habe ich als Privatperson versucht, kulturellen und

pädagogischen Austausch zwischen China und Japan zu fördern, um die

freundschaftlichen Bande zu vertiefen. Durch diese Bemühungen wurden mir all

die Qualitäten intensiv bewusst, die Toynbee als das spirituelle Erbe der

chinesischen Zivilisation beschrieben hat. Diese Qualitäten sind auch heute

noch eine grundlegende Kraft für die gegenwärtige Gesellschaft, in die sie

einfließen und die sie dadurch verändern.

Dazu gehört die Weltanschauung, dass Harmonie die Priorität vor

Konfrontation hat und Einigkeit Priorität vor Zerstückelung. Eine andere

Qualität ist ein humanistisches Denken, das durch praktische Anwendung nach

der bestmöglichen Lösung sucht, statt strikt an Theorien anzuhaften.

Wo Harmonie so betont wird, liegt ein Ethos der kreativen Koexistenz in der

Tat nahe. Eine Weisheit, die über Jahrtausende gepflegt wurde und die in der

Datong-Utopie symbolisiert ist. Dieses Thema war zufällig Teil meiner Rede

an der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften 1992 (47). Die

Wirklichkeit auf der praktischen Ebene zu betrachten hat inzwischen auch zu

einer graduellen Reformmethodik geführt, die in dem kühnen Experiment einer

sozialen Marktwirtschaft erkennbar ist. Desgleichen ist die Idee "ein Land,

zwei Systeme", die nach der Rückkehr von Hongkong und Macao entstanden ist,

eine Erweiterung dieses Denkens.

Es ist höchst bedauerlich, dass einige Teile der japanischen Gesellschaft

immer noch die historische Realität des japanischen Aggressionskriegs gegen

China leugnen und dass diese Leugnung sogar in Schulbüchern Eingang gefunden

hat. 1995 drückte der damalige japanische Premierminister anlässlich des

fünfzigsten Jahrestags der Niederlage Japans tiefe Reue und eine von Herzen

kommende Entschuldigung aus. Wir können die Leugnung historischer Tatsachen

nicht länger tolerieren, denn sie stellen nicht nur die Aufrichtigkeit

dieser offiziellen Aussage in Frage, sondern diskreditieren Japan auch

innerhalb der internationalen Gemeinschaft, wo es als eine Nation mit

Gewissen gilt.

So wie in China, ist auch Indiens lange Geschichte voller tiefer

Spiritualität. Eine Linie von Persönlichkeiten, die von Shakyamuni Buddha,

über König Ashoka bis zu Mahatma Gandhi reicht, zeigt die volle Pracht des

menschlichen Geistes.

Auch wenn ich aus Platzgründen hier nicht detailliert darauf eingehen kann,

so bin ich doch sicher, dass in Indien so etwas wie ein "kosmischer

Humanismus" existiert. In ihm werden die Begrenzungen aufgehoben, die der

Humanismus der modernen wissenschaftlichen Rationalität aufbaut, der

verrückterweise die Menschen auf eine immer kleinere, unbedeutendere Präsenz

reduziert. Der kosmische Humanismus hat als höchstes Ziel eine kreative

Koexistenz, die auf gemeinsamen spirituellen Prinzipien beruht anstatt auf

Eroberung durch Gewalt. Er strebt danach, eine harmonische Gesellschaft zu

verwirklichen, in der Unterschiedlichkeit respektiert wird, und die nicht

die Spaltung fördert, die durch Diskriminierung und Ausschluss entsteht.

C. G. Jung sagte: "In Indien scheint es nichts zu geben, das nicht schon

hunderttausendmal gelebt hat." (48) Hierin finden sich die buddhistischen

Vorstellungen von Verbundenheit untereinander und Abhängigkeit voneinander

wieder.

In den letzten Jahren haben anscheinend nur bestimmte Aspekte von Indien und

China die Aufmerksamkeit der Welt auf sich gezogen, wie zum Beispiel ihre

nuklearen Kapazitäten oder ihr überragendes technisches Können. Aber ich

glaube, dass die Kraft der Spiritualität, die die Geschichte beider Länder

durchfließt, das Potential hat, um ein Zeitalter der "Soft Power" mit

einzuleiten.

Natürlich ist es nicht meine Absicht, die Vergangenheit dieser beiden Länder

zu glorifizieren und ich bin mir der vielfältigen Herausforderungen bewusst,

denen sie sich zur Zeit gegenübersehen. Nichtsdestotrotz zweifele ich nicht

daran, dass sie beide wichtige Beiträge in Asien und der ganzen Welt

leisten, wenn das spirituelle Erbe, das sie schon so lange pflegen,

weiterhin kreativ entwickelt und innerhalb des größeren Rahmens einer neuen

globalen Zivilisation zur Blüte gebracht wird.

Nord- und Südkorea: Dialog für den Frieden

Kein Land ist frei von einer negativen Vergangenheit oder aktuellen

Problemen. Es ist unproduktiv, sich nur auf die dunklen Kapitel eines Landes

oder einer Kultur zu konzentrieren. Für jede Kultur ist es weitaus

konstruktiver, wenn sie versucht, den größtmöglichen positiven Einfluss auf

andere Kulturen und die Welt an sich auszuüben. Dieser Gedanke lag auch dem

Vorschlag zugrunde, den ich erstmals 1998 vorgebracht habe: Der G8 Gipfel

sollte so erweitert werden, dass China und Indien einbezogen werden, da

diese Länder ebenfalls eine besondere Verantwortung für die Welt tragen.

Im zwanzigsten Jahrhundert gab es den schlimmsten je gesehenen Wettkampf um

Herrschaft. Im einundzwanzigsten Jahrhundert muss die Menschheit unbedingt

ihren Fokus verändern, das Streben nach hegemonialer Herrschaft ablegen und

in einen "humanitären Wettbewerb" treten, also eine Ära der kreativen

Koexistenz entstehen lassen, wo die inneren spirituellen und moralischen

Qualitäten jeder einzelnen Kultur und Tradition freigesetzt werden.

Der Schlüssel dafür, um das Wettrennen um Herrschaft endgültig hinter uns zu

lassen, ist der Dialog. Die führenden Persönlichkeiten der beiden Hälften

des geteilten Koreas hielten letztes Jahr Gespräche von wirklich

historischer Bedeutung ab, die uns den Wert und die Wichtigkeit des Dialogs

wieder vor Augen führen.

Zum ersten Mal überhaupt trafen sich die Staatschefs dieser beiden Länder -

Kim Dae-Jung, Präsident der Republik Korea und Kim Jong-II, Vorsitzender der

Demokratischen Volksrepublik Korea - in Pjöngjang, der Hauptstadt von

Nordkorea. Im Juni letzten Jahres diskutierten sie drei Tage lang über den

Frieden und die Zukunft der Halbinsel.

Seit fünfzehn Jahre habe ich wiederholt nach einem persönlichen Treffen der

Regierungsoberhäupter beider Koreas gerufen. In meinem Friedensvorschlag

2000 sagte ich, dass fünfzig Jahre nach dem Beginn des Koreakrieges die

Gelegenheit ergriffen werden müsse, den Kalten Krieg auf der koreanischen

Halbinsel zu beenden. Auch aus diesem Grund hat mich dieser Dialog sehr

bewegt.

Es ist entscheidend, dass dieses Gipfeltreffen fortgesetzt wird, damit die

langjährige Pattsituation entwirrt und die Spannungen auf der Halbinsel

wirklich gelockert werden können.

Ich hoffe zutiefst, dass ein geplanter Besuch des Vorsitzenden Kim Jong-II

in Seoul, wie es in der gemeinsamen Süd-Nord-Erklärung festgehalten wurde,

in der näheren Zukunft realisiert wird und dass regelmäßige Gipfelgespräche

etabliert werden können. Des weiteren wünsche ich mir zutiefst, die beiden

Koreas mögen den Prozess der Vertrauensbildung fortsetzen und die Drohung

eines Krieges auf der Halbinsel zunehmend beseitigen.

Afrika: Herausforderung und Versprechen

Afrika ist - gemeinsam mit Asien - eine Region von herausragender Bedeutung

für den Weltfrieden. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind verschiedene

regionale und interne Konflikte in verschiedenen Teilen Afrikas

ausgebrochen, die das Leben und die Lebensumstände der Menschen verwüstet

haben. Einem Gutachten zufolge hat es in den elf Jahren seit dem Ende des

Kalten Krieges 108 bewaffnete Konflikte gegeben, von denen jeder mehr als

eintausend Leben gefordert hat. Die überwiegende Mehrheit dieser tragischen

Konflikte haben in Asien und Afrika stattgefunden. (49)

Als Resultat der andauernden Konfliktsituationen leben zunehmend mehr

Afrikaner als Flüchtlinge. Stand im Januar 2000: 6,2 Millionen laut dem Büro

des UNHCR (Hoher Kommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen). (50)

Tragische Nebenprodukte von Konflikten sind oftmals Nahrungsmittelknappheit

und Hungersnot. "State of Food and Agriculture 2000" (Situation der

Nahrungsmittel und Landwirtschaft 2000) herausgegeben von der Food and

Agriculture Organisation FAO (51) berichtet, dass in neunzehn afrikanischen

Ländern Hungersnot herrscht, deren Hauptursache bewaffnete Konflikte sind.

Diese Fälle haben dramatischer zugenommen als jene, in denen die Hungersnot

durch Naturkatastrophen verursacht wurde.

Bisher wurden keine effektiven Gegenmaßnahmen für das Problem der

hartnäckigen Armut gefunden, und das hat zu einem unangebrachten Pessimismus

auf dem gesamten Kontinent geführt. Durch die sogenannte "Hilfsmüdigkeit"

der entwickelten Länder wird dies noch intensiviert. Die internationale

Sorge für Afrika nimmt fast in dem Maße ab, wie die Hilfsbedürftigkeit

zunimmt. Die AIDS-Problematik verschlimmert diesen Zustand.

Afrikas Krise ist jedoch eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen,

wenn wir Frieden in einer zunehmend globalisierten Welt realisieren wollen.

Und von einer grundlegend humanitären Perspektive aus betrachtet ist

Gleichgültigkeit unentschuldbar.

Die historischen Realitäten, die Afrika lange erdulden musste -

Kolonialherrschaft und willkürliche Aufteilung von Ländereien durch die

Großmächte - müssen zu den Ursachen für die gegenwärtige Krisensituation

gezählt werden. Daher ist es die gemeinsame Verantwortung der Menschheit,

sicherzustellen, dass dieses tragische Erbe nicht in die Zukunft übertragen

wird.

Afrika ist die Wiege der Menschheit. Es war ein Kontinent der Hoffnung. Von

Alters her ist dort eine reiche Vielfalt an Zivilisationen entstanden, die

der Menschheit großen Segen auf vielen Gebieten - einschließlich der

Philosophie und Wissenschaft - beschert hat.

Ich glaube schon lange fest daran, dass das einundzwanzigste Jahrhundert das

Jahrhundert Afrikas sein muss. Teilweise ist diese Überzeugung aus der

Erfahrung meines ersten Besuchs im UN-Hauptquartier 1960 entstanden, kurz

nachdem ich die Verantwortung übernommen hatte, der dritte Präsident der

Soka Gakkai zu werden. Dort sah ich die Energie und Vitalität der

afrikanischen Delegierten, die an der Generalversammlung und verschiedenen

Komiteesitzungen teilnahmen. Ich war davon tief beeindruckt. 1960 war in der

Tat ein ganz besonderes Jahr für Afrika: siebzehn afrikanische Nationen

gewannen ihre Unabhängigkeit.

Damals habe ich begonnen, Freundschaften mit politischen, kulturellen und

intellektuellen Häuptern verschiedener afrikanischer Länder zu entwickeln,

in der Hoffnung dazu beizutragen, dass ein Jahrhundert Afrikas Wirklichkeit

wird. Darüber hinaus habe ich mich als Gründer der Soka Universität (52) und

der Min-On Konzertagentur (53) aktiv dafür engagiert, dass ein

breitgefächerter pädagogischer und kultureller Austausch unter den Menschen

gefördert wird.

Die SGI hat sich besonders der Unterstützung von Aktivitäten der

Flüchtlingshilfe verpflichtet, die vom Büro des UNHCR durchgeführt wurden.

Auch in diesem Jahr, dem fünfzigsten Jubiläum der Flüchtlingskonvention,

werden wir unsere Kampagnen weiterführen, um Geldmittel zu sammeln und

Aufmerksamkeit für das UNHCR und andere Organisationen zu wecken.

Friedvolle Solidarität: Afrikas Aufgabe

Dauerhafter Friede in Afrika, das unser Nachbar in einer miteinander

verbundenen Welt ist, muss jedem von uns ein unmittelbares Anliegen sein.

Viele wichtige und konstruktive Visionen für Afrika sind über die Jahrzehnte

entwickelt worden. Ideen, die Nationen Afrikas in starker Solidarität und

einem gemeinsamen Streben nach Frieden und Wohlstand zusammenzubringen. Dazu

gehören die Vorschläge von Ghanas erstem Präsidenten Kwame Nkrumah (1909

1972) und anderer Führer der Pan-Afrikanischen Bewegung für die Vereinigten

Staaten von Afrika. Sie können nicht als bloße Überbleibsel des Aufschwungs

der postkolonialen Periode abgetan werden.

Die Vereinigten Staaten von Afrika waren eine Vision, die der nigerianische

Präsident Olusegun Obasanjo und ich bei unserem Gespräch vor zwei Jahren

diskutierten. Es gibt in der Tat ein wachsendes Bewusstsein unter den

afrikanischen Ländern dafür, wie wichtig es ist, die Pan-Afrikanische

Solidarität weiterzuentwickeln.

Beim Gipfeltreffen der Organization of African Unity OAU (Organisation für

die Einheit Afrikas) (54) im Juli 2000 in Lomé, Togo, unterzeichneten die

Führer von siebenundzwanzig Ländern einen Vorschlag für die Schaffung einer

afrikanischen Union. Abgeleitet von den Erfahrungen der europäischen

Integration soll diese Afrikanische Union ein afrikanisches Parlament, einen

Pan-Afrikanischen Gerichtshof und eine eigene Zentralbank für den Kontinent

haben.

Auch wenn keine Einigung über einen Zeitplan für dieses Projekt erzielt

werden konnte, ist es wirklich bedeutsam, dass die afrikanischen Länder sich

auf das gemeinsame Ziel einer Afrikanischen Union verständigen konnten.

In seiner langen Geschichte hat die OAU viel erreicht. Von der Einführung

der "Banjul Charter on Human and Peoples' Rights" (Banjul Charta über die

Rechte der Menschen und Völker) über das Abkommen, das Afrika zur

nuklearwaffenfreien Zone erklärt, bis hin zur jüngsten Vermittlung im

Äthiopien-Eritrea-Konflikt.

Die internationale Gemeinschaft hat die Verantwortung, großzügige

Unterstützung und Kooperation bei der Erschaffung der Afrikanischen Union

und der weiteren Stärkung der kontinentalen Einheit zu leisten.

Die Europäische Union hat ihre Errungenschaften des letzten halben

Jahrhunderts in einem Bericht über ihre strategischen Ziele für die Jahre

2000-2005 mit dem Titel "Shaping the New Europe" (Das neue Europa formen)

zusammengefasst: "Die Europäische Union erbringt den lebendigen Beweis

dafür, dass Frieden, Stabilität, Freiheit und Wohlstand auf einem Kontinent

erreicht werden können, der einst von Kriegen zerrissen war." (55) Wenn man

eine Zeitspanne von fünfzig bis einhundert Jahren ansetzt, gibt es keinen

Grund anzunehmen, dass das, was durch die EU erreicht worden ist, nicht auch

für Afrika möglich sein sollte.

Mit dem Bild der Vereinigten Staaten von Afrika vor Augen, sagte Präsident

Nkrumah von Ghana, dass sie "als eine große Macht hervortreten werden, deren

Größe unzerstörbar ist, weil sie nicht auf Furcht, Neid und Misstrauen

aufgebaut oder auf Kosten anderer erreicht wurde, sondern auf Hoffnung,

Vertrauen und Freundschaft gegründet und auf das Wohl der ganzen Menschheit

ausgerichtet ist." (56)

Diese Vision einer friedvollen Solidarität, die Präsident Nkrumah als

Afrikas Aufgabe definiert hat, sollte das leitende Prinzip der regionalen

Integration im einundzwanzigsten Jahrhundert sein. Wettbewerb, der aus

Feindseligkeit und Ausschluss, äußerem Druck und Zwang hervorgeht, führt nur

zu Furcht, Neid und Misstrauen. Die überbordende Vitalität des menschlichen

Geistes dagegen, der nach kreativer Koexistenz und Autonomie strebt,

kultiviert Hoffnung, Vertrauen und Freundschaft.

Dieses Jahr hat die UN zum "Internationalen Jahr der Bewegung gegen

Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und der damit

verbundenen Intoleranz" ausgerufen. Die Weltkonferenz zu diesem Thema findet

im September in Südafrika statt (57). Die SGI plant an NGO-Foren

teilzunehmen, die parallel zu den Konferenzen der Regierungen stattfinden

werden. Sie wird betonen wie wichtig die Erziehung in Menschenrechtsfragen

ist, um der Ignoranz zu begegnen, der Grundursache von Intoleranz.

Stärke, Weisheit, Solidarität

Die Zukunft von Afrika und der gesamten Menschheit im einundzwanzigsten

Jahrhundert hängt davon ab, inwieweit die einfachen Menschen ihre inneren

Kapazitäten für Stärke, Weisheit und Solidarität erwecken. Ich kann gar

nicht genug betonen, wie wertvoll der offene Dialog ist, damit diese

Qualitäten hervorgebracht werden.

Dialog hat die Kraft, unsere gemeinsame Menschlichkeit wiederherzustellen

und wiederzubeleben, indem er unsere innewohnende Kapazität für das Gute

freisetzt. Er ist eine unverzichtbare Kraft, durch die sich Menschen

vereinen und wo Vertrauen genährt wird. Das Versagen, den Dialog zur

Grundlage der menschlichen Gesellschaft zu machen, führte zu den bitteren

Tragödien des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das Jahr 2001 wurde zum "Jahr des Dialogs zwischen den Zivilisationen"

erklärt (58). Wir müssen den Geist des Dialogs verbreiten, um ihn zur

Hauptströmung des einundzwanzigsten Jahrhunderts - dem Jahrhundert des

Lebens - zu machen. Auf diese Weise können wir gemeinsam ein Zeitalter

erschaffen, in dem alle Menschen die Früchte des Friedens und des Glücks

genießen und ihre grenzenlose Würde und ihr Potential feiern.

Dialog kann zur Erschaffung einer neuen globalen Zivilisation führen. Die

Mitglieder der SGI werden als engagierte und verantwortliche Bürger in ihrer

jeweiligen Gesellschaft fortfahren, aufrichtigen Dialog zu führen, um eine

Solidarität des Volkes für Frieden und Menschlichkeit auf der ganzen Welt zu

errichten.

26. Januar 2001

Daisaku Ikeda

Präsident der Soka Gakkai International

Endnoten

Wenn die Quellenangabe in Englisch angegeben ist, so wurde das entsprechende

Zitat aus dem Englischen übersetzt. (Anmerkung der Übersetzer)

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(52) Soka University. 1971 als vierjähriges Geisteswissenschaftliches

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überwinden, hat es Austauschprogramme mit 73 Universitäten in 36 Ländern und

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(53) Min-On Concert Association. Gegründet 1963 von Daisaku Ikeda, hat sich

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(54) OAU. <http://www.oau-oua.org/>.

(55) EU. Strategic Objectives for 2000-2005: "Shaping the New Europe."

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(58) United Nations. Year of Dialogue Among Civilizations.

<http://www.un.org/Dialogue/>

Übersetzt von Monika Fieber, Inge Festesen, Ursula Steck und Armin Jäger

Endredaktion: Armin Jäger

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