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Soll ich ans M e e r fahren oder lieber ins\ G e b i r g e
In einem alten Buch über die Geschichte Chinas heißt es, dass der König Wu von Chou mit nur 800 Soldaten das Heer des Königs Chou von Yin schlug, der mehr als 700 000 Soldaten befehligte. Nichiren Daishonin berichtet in der Gosho „Itai Doshin“^1^: „Dennoch verlor die Armee König Chous wegen ihrer Uneinigkeit, während die Männer König Wus wegen ihrer vollkommenen Einigkeit siegten.“^2^
Die Geschichte liefert uns Stoff für einen interessanten Gedanken: jede Gruppe von Menschen ist ein Makrokosmos, in dem sich die Handlungen der einzelnen Gruppenmitglieder multiplizieren. In der Gosho heißt es weiter: „Selbst ein einzelner Mensch mit sich widersprechenden Zielen wird am Ende gewiss versagen.“^3^
Der einzelne Mensch stellt also einen Mikrokosmos dar, dem es nur dann gelingt, seine eigenen Ziele zu verwirklichen, wenn er in Harmonie mit sich selbst ist. Doch wie oft schicken wir unsere „inneren Heere“ erst in die eine Richtung und schon im nächsten Augenblick in die genau entgegengesetzte? In der Theorie ist der Grundsatz, klare Gedanken zu haben, um ein Ziel zu erreichen, ja ganz einleuchtend, aber in der Praxis? „Jeden Tag biege ich um die Ecken der Straßen und jedes Mal, wenn ich an eine Sache denke, denke ich schon wieder an eine andere“, schreibt Fernando Pessoa.^4^ Eine Art zu leben, die viele von uns kennen. Und wie der Daishonin zeigt, ist genau die Tatsache, zu haben, eindeutig die Ursache sowohl für individuellen als auch für kollektiven Misserfolg.
Wenn man zum Gohonzon chantet, um zu erkennen, welche Studienrichtung für einen am geeignetsten ist, aber gleichzeitig versucht, sich vor Misserfolgen zu schützen, indem man daran denkt, welche Arbeit man suchen könnte, anstatt zu studieren - dann hat man ein Beispiel für solche widersprüchlichen Gedanken.
Sie widersprechen sich nicht vom praktischen Standpunkt aus: natürlich kann man gleichzeitig arbeiten und studieren. Doch diese Gedanken genügen, die eigenen inneren Kräfte zu „untergraben“, welche so nötig sind, dass man sein Ziel erreicht. Es ist, als ob man sich immer ein Hintertürchen offen ließe. Eine solche Einstellung wird nur schwache Ergebnisse erzielen.
Es gibt noch eine andere, eine subtilere Art, gegensätzliche Ziele zu haben. Man entschließt sich, etwas Bestimmtes zu verwirklichen, man chantet dafür und handelt auch in der entsprechenden Richtung. Aber tief im Inneren ist man von der eigenen Fähigkeit, das Ziel wirklich erreichen zu können, nicht überzeugt. Oder vielleicht hat man auch Angst vor dem, was sich tatsächlich ändern könnte. Manchmal bekämpft man in Gedanken bereits die möglichen Feinde, die auftauchen könnten, falls man sein Ziel erreicht haben sollte …
Angst hat also großen Einfluss auf unsere Entscheidungen - besonders auch auf die nicht getroffenen. Diese Angst, die uns hemmt, wohnt in der Achten Bewusstseinsstufe^5^, die „Lagerhaus des Karmas“ genannt wird und unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enthält. Doch das Sich-Ausstrecken nach einer anderen Zukunft, das Suchen nach einer Verbindung mit dem Universum, das Streben hin zum Unendlichen, all diese Impulse des Menschen entspringen der Neunten Bewusstseinsstufe: der Buddhaschaft.
Sich den Zielen anzuvertrauen, die sich mit Leichtigkeit entfalten und in den Himmel aufsteigen möchten wie bunte Ballons, ohne das Gewicht der Ängste, die sie herunterziehen und am Erdboden festbinden wollen, das ist möglich. Aber nur, wenn man zu dieser tiefen Einheit findet. Vor kurzem fand in Chianciano Terme ein Kurs mit Mitsuhiro Kaneda statt, dem Generaldirektor der SGI Italien. Dort wurde erläutert, was man tun kann, um einen starken Glauben zu entwickeln. Jeder muss natürlich seinen eigenen, persönlichen Weg dorthin entdecken, doch uns wurden folgende Punkte als besonders wichtig ans Herz gelegt: „Spontan einen Entschluss fassen“, „Das Ziel abklären“, „Aufrichtig zum Gohonzon chanten“.
An erster Stelle steht also die Notwendigkeit, sich die eigenen Ziele klarzumachen. Das heißt, die Fähigkeit zu erlangen, herauszufinden, was für uns am geeignetsten ist und welchen Weg wir dazu begehen müssen - kurz: welche Wahl wir treffen sollten, um größtmögliche Freude zu erlangen. Das soll nicht heißen, dass wir dem Zweifel und der Unsicherheit die Tür weisen sollten, aber es soll heißen, dass wir ihnen nicht erlauben sollten, sich häuslich bei uns niederzulassen.
Es gibt sehr viele Arten von Überlegungen, von Zweifeln. Aber ist es nicht vielleicht nötig, in dem Moment, in dem wir eine Entscheidung fällen müssen, Glauben und gesunden Menschenverstand zu vereinen? Dies war eine der Fragen, die Richard Causton, dem (mittlerweile verstorbenen, Anmerkung der Übersetzerinnen) Verantwortlichen der SGI in Großbritannien, während eines Kurses der Jugendabteilung in Montecatini gestellt wurden.
Seine Antwort lautete: „Der Gohonzon ist kein Orakel, das man befragen kann, um zu entscheiden, was man tun soll. Wenn wir Daimoku chanten, lauschen wir unserer Buddha-Natur. Im Gohonzon gibt es nichts Magisches, sondern er ist wie ein Spiegel unseres Lebens, der das reflektiert, was in uns existiert.“
Nichiren Daishonin, so Causton weiter, erklärt diesen Glaubensgrundsatz in vielen Goshos sehr deutlich: wenn wir denken, dass der Gohonzon außerhalb unserer selbst liegt, praktizieren wir nicht den Buddhismus. Wir sollten stattdessen mit unserer ganzen Kraft Daimoku chanten, um die Buddhaschaft in unserem Leben wachzurütteln. Anstatt den Gohonzon zu fragen „Soll ich dies oder jenes tun?“ oder zu betteln „Hilf mir, Gohonzon!“ sollten wir uns selbst sagen: „Ich muss unbedingt meine ganze Weisheit hervorbringen, um die richtige Entscheidung zu treffen.“
Richard Causton fuhr fort: „Allerdings schaffen wir es nicht unbedingt, diese Einstellung zu haben, wenn wir Daimoku chanten. Das Chanten ist tatsächlich die wesentliche Ursache, auch wenn die Wirkung vielleicht erst später erscheint, morgen oder in der Zukunft. Ich persönlich glaube, dass es wichtig ist, sich anzustrengen, die Entschlossenheit und die Weisheit aufzubringen, um das Problem zu lösen - sei es sofort, morgen oder in einem Monat. Wenn wir auf diese Weise fortfahren, Gongyo zu machen und möglichst viel Daimoku zu chanten, wird unser starkes Gebet eine klare Antwort auf unser Problem erhalten.“
„Manchmal ist es möglich“, meinte Richard Causton weiter, „das Daimoku auf zwei oder mehr Problemlösungen zu richten. Sagen wir, wir haben zwei Möglichkeiten, A und B. Wenn man nicht weiß, welche für unser Glück die bessere ist, können wir A ausprobieren, um zu sehen, ob es die richtige Lösung ist. Wenn wir mit dem klaren Entschluss Daimoku für die Variante A chanten, werden wir binnen kurzem feststellen, ob wir auf dem richtigen Weg sind oder ob diese Lösung unannehmbar ist.“
In anderen Fällen, erläuterte Richard Causton, könne man die Alternative B wählen und sich mit einem „einzigen Gedanken“ auf sie konzentrieren, um mit Sicherheit sagen zu können: „Ja, das ist die richtige Möglichkeit“ oder „Nein, die andere Variante ist besser.“
SGI-Präsident Ikeda versichert uns: „Was für Kosen-rufu ist, ist immer für euer Glück, und was für euer Glück ist, ist immer auch für Kosen-rufu.“ Das sind Worte großer Ermutigung, die zeigen, wie wichtig es ist, große Ideale zu haben. Man kann das Glück anderer Menschen nur dann fördern, wenn man selbst einen hohen Lebenszustand besitzt. Mit anderen Worten: das eigene Glück ruft das Glück anderer hervor.
Ein Beispiel: Man ist unzufrieden mit seiner Arbeit. Und obwohl, wie der Buddhismus erklärt, die Ursache dafür in unserem eigenen Leben liegt, gibt man der Arbeit die Schuld am eigenen Unglücklichsein. Doch in dem Moment, in dem man beschließt, sich selbst bestmöglich anzustrengen, wird auch klar, was die wirklichen Ursachen des eigenen Unglücks sind: Angst, Fehler zu machen; Furcht vor dem Vorgesetzten; die eigene Trägheit - auch wenn sie gut versteckt in uns liegt - und so weiter.
Hat man einmal die grundlegende Ursache des Leidens entdeckt, ist es einfacher, etwas zu tun, um diese Einstellung zu ändern. Nachdem man sich hundertprozentig auf diese „Putzarbeit“ eingelassen hat und einige der eigenen Schwachpunkte überwunden hat, fällt es bestimmt auch leichter zu erkennen, ob diese oder jene Arbeit die richtige ist oder nicht. Diese Methode kann uns - zumindest auf lange Sicht - helfen, unsere Unentschlossenheit zu bewältigen und klare Antworten zu finden.
Man könnte das Ganze so zusammenfassen: Schwache Ursachen, ohne große Überzeugung gesetzt, rufen ebensolche Wirkungen hervor. Doch wenn wir mit tiefer Überzeugung starke Ursachen setzen, indem wir mit einem „einzigen Gedanken in unserem Geist“ Daimoku chanten und mutig handeln, dann können wir auf unsere Fragen, welche Richtung wir unserem Leben geben sollen, eindeutige Antworten finden. Diese Haltung unterscheidet sich völlig von der Einstellung: „Egal, was ich tue, es wird schon richtig sein“ oder gar „Allein schon deshalb, weil ich den Lehren Nichiren Daishonins folge, wird sich alles irgendwie von selbst ergeben. Eine solche Einstellung könnte etwas von der Schicksalsergebenheit enthalten, die Professor Johan Galtung^6^ in seinem Buch ‚Buddhism: A Quest for Unity and Peace‘ bei einigen buddhistischen Schulen als negativ ausgemacht hat: „Die Idee des Kreislaufs, die den linearen Abläufen entgegengesetzt wird, begünstigt ein Übermaß an Fatalismus: die Niederlagen werden mir Leichtigkeit angenommen, auch wenn man innerlich noch gar nicht kapituliert hat. Gemäß dem Konzept des Kreislaufs ist die Abwärtsbewegung unvermeidlich. Daher ist keine Bemühung nötig, denn im richtigen Moment wird es ja wieder eine Aufwärtsbewegung geben.“
Stellen wir uns einmal vor wir lebten auf einem Planeten, der von nur zwei Menschen-Typen bevölkert wird: die erste Kategorie nimmt alles, was geschieht, ergeben an; die zweite Kategorie dagegen schwankt nie, wenn es darum geht, angesichts der tausend Scheidewege des Lebens Entscheidungen zu treffen. Zwei extreme Verhaltensweisen, die von einer irrigen Auffassung der buddhistischen Lehren herrühren könnten. Glücklicherweise leben wir nicht auf diesem Planeten, und zum Glück besteht das Leben aus den verschiedenen Nuancen zwischen diesen beiden Extremen.
Die Möglichkeit und die Fähigkeit, eine Wahl zwischen verschiedenen Alternativen zu treffen, ist ein Privileg aller freien Menschen. Aber es gibt Gegebenheiten, die man nicht mit bloßem Auge erkennen kann und die dennoch Menschen daran hindern, ihre Wahl effektiv und in völliger Freiheit zu treffen. Wenn unsere karmische Tendenz uns immer zu einer ganz bestimmten Art von Entscheidung drängt, ist es notwendig, auf einer tieferen Bewusstseinsstufe zu handeln, die diese Gegebenheiten überwindet.
„Nichiren Daishonin erklärt“ ‚ so schreibt Daisaku Ikeda, ‚was es bedeutet, sein eigenes Leben zu betrachten.“ In der Gosho „Das wahre Objekt der Verehrung“ heißt es: „Nur wenn man in einen klaren Spiegel blickt, sieht man zum erstenmal, dass man mit allen sechs Sinnesorganen ausgestattet ist.“^7^ Das eigene Leben zu betrachten bedeutet, zu erfassen, dass es die Zehn Welten^8^ enthält, vor allem auch die Welt der Buddhaschaft. Um jedem zu ermöglichen, dies zu tun, hat Nichiren Daishonin der Menschheit den Gohonzon des „Betrachtens des eigenen Herzens“ (japanisch: Kanjin) geschenkt. In seiner Auslegung der Gosho „Das wahre Objekt der Verehrung“ erklärt der 26. Hohepriester Nichikan Shonin: „Das wahre Objekt der Verehrung kann mit einem wundervollen Spiegel verglichen werden.“
In den „Ongi Kuden“ („Mündlich überlieferte Lehren“) sagt Nichiren Daishonin: „Die fünf Silben von Myoho-Renge-Kyo spiegeln alle Dinge ohne Ausnahme wider. Der Gohonzon ist der reinste aller Spiegel. Er spiegelt das gesamte Universum genau so wider, wie es ist.“
Präsident Ikeda sagt: „Wenn ihr Daimoku zum Gohonzon chantet, könnt ihr das wahre Wesen eures Lebens wahrnehmen und die unerschöpfliche Lebenskraft der Buddhaschaft anzapfen. (...) Die Einstellung im Glauben ist extrem wichtig. Sie hat einen tiefgehenden und weitreichenden Einfluss. So kommt es zum Beispiel vor dass man Gongyo ungern macht oder an den Aktivitäten für Kosen-rufu nur widerwillig teilnimmt.
Diese Geisteshaltung reflektiert sich genau so, wie sie ist, im ganzen Universum, wie auf der Oberfläche eines klaren Spiegels. Die himmlischen Kräfte werden ihren Teil zu dieser Lustlosigkeit beitragen, und selbst-verständlich werden sie ihre beschützende Funktion nicht voll ausüben.“
Wenn Sie dagegen Gongyo mit Freude machen“, fährt Präsident Ikeda fort, „und sieh bei Aktivitäten mit dem Entschluss engagieren, noch größeres Glück in Ihrem Leben anzusammeln dann werden die himmlischen Kräfte glücklich sein und eifrig ihre Aufgabe erfüllen. Wenn Sie also ohnehin handeln müssen, kann es nur zu Ihrem Vorteil sein, spontan und mir Freude zu handeln. (...) Es gibt ein russisches Sprichwort, das lautet: „Es nutzt nichts, den Spiegel zu beschimpfen, wenn das Gesicht schief ist.“
Kanjin zu realisieren dient dazu, die Wurzeln unserer Vorurteile und anderer Erfahrungen freizulegen, die wir auf der Basis unseres Karmas angesammelt haben. Kanjin zu verwirklichen macht auch klar, dass man nicht auf voneinander getrennten Ebenen leben kann: man kann sieh nicht einerseits bedanken und andererseits mir den Zähnen knirschen oder mir einem Teil des Selbst täglich brav im Büro arbeiten, während der andere Teil einen ausgedehnten Urlaub verbringt. Kanjin dient außerdem dazu, das Eins-Sein wiederzufinden, das die Basis des universellen Lebens ist. Wir und das Universum, so lehrt der Buddhismus, sind eins.
\ Dieser Artikel von Erica Galligani erschien erstmals im Dezember 1996 in der italienischen SGI-Zeitschrift „Il Nuovo Rinascimento“.
^1^ Der buddhistische Begriff Itai doshin bedeutet „verschiedene Körper, ein Geist“. Gemeint ist, dass Menschen trotz ihrer unterschiedlichen Gestalt, Herkunft, Erziehung etc. auf das gemeinsame Ziel Kosen-rufu hinarbeiten (Details siehe FORUM Oktober 1994).
Im vorliegenden Artikel geht es uns das Phänomen, dass auch in einem einzigen Körper sich widersprechende Gedanken manifestieren können, das Ziel Kosen-rufu mithin schwierig zu erreichen ist.
^2^ Deutsche Gosho Bd. 1, S. 24
^3^ ebd.
^4^ Fernando Pessoa (1888-1935):
portugiesischer Schriftsteller und Lyriker
^5^ Nähere Ausführungen über die Neun Bewusstseinsstufen, ein wichtiges Prinzip im Buddhismus Nichiren Daishonins, siehe FORUM Mai 1993
^6^ Der Norweger Johan Galtung ist nicht nur Autor zahlreicher Bücher über Friedensforschung (z.B. über „Strukturelle Gewalt“), sondern auch Gründer des „International Peace Research Institute“. Derzeit arbeitet er als Professor für Friedensforschung an der Universität von Hawaii. Das im Text erwähnte Buch „Buddhism: A Quest for Unity and Peace“ erschien im Jahr 1988 in Honolulu im Verlag Dae Won Sa Pagoda sowie 1993 in Colombo im Verlag Sarvodaya.
^7^ Deutsche Gosho Bd. 1, S. 215
^8^ Details über die Zehn Welten siehe FORUM Juli/August 1990.
Quelle: FORUM März 1997
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