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Inhalt

Vorwort 2

Neue Menschliche Revolution - Essay 14 3

Neue Menschliche Revolution - Das große Licht 7

Neue Menschliche Revolution - Den Weg bereiten 27

Bei allen Texten handelt es sich um vorläufige Übersetzungen der entsprechenden Ausgaben der SGI Newsletter.

 SGI-Deutschland 2001

Vorwort

Liebe Jugendliche,

herzlichen Glückwunsch und viel Erfolg für die Veranstaltungen zum 16. März 2001!

Die Vorbereitungen laufen auf vollen Touren und gleichzeitig werden viele von uns durch ihren starken Entschluß für das Glück anderer Menschen auch mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Vielleicht sind diese Probleme so groß, daß wir keinen Ausweg mehr wissen und am liebsten aufgeben möchten oder uns fragen, warum alles schlimmer wird anstatt besser. Zu so einer Situation sagte Präsident Ikeda: "Jeder Mensch kommt irgendwann im Leben in eine ausweglose Situation. (...) Dennoch ist die Kraft des Gohonsons grenzenlos, unermeßlich wie das Universum selbst und auch unser Leben besitzt unendliches Potential. Deshalb hängt alles davon ab, ob wir selbst in unserer inneren Entschlossenheit nachlassen oder nicht. Wenn wir uns dessen wirklich bewußt werden, ist der Weg zum Sieg schon offen." (NMR II, S. 69)

Präsident Ikeda hat uns Jugendliche in Deutschland neulich sehr dafür gelobt, daß wir uns mit mutigen Zielen zum 16. März herausfordern. Seine Nachricht zeigt, daß er mit seinem Herzen bei uns ist und sich wirklich wünscht, daß wir in diesem Jahr des vollständigen Sieges erfolgreiche Versammlungen abhalten, indem wir mit unserem Leben die Kraft des Gohonsons beweisen. Wenn man die Vision des Meisters teilt, wenn man eins ist mit seinem Meister, wird vieles im Leben einfacher und freudvoller. In dem beiligenden Material berichtet Sensei über seinen Besuch in Deutschland und über seine Einstellung zum 16. März. Wenn wir diese Berichte während der Vorbereitung für den 16. März studieren, werden wir mit Sicherheit ein besseres Verständnis seiner Vision für die Jugend und für Deutschland bekommen können.

Ich hoffe und chante dafür, daß wir alle diese Aktivität zu einem entscheidenden Schritt in unserem eigenen Leben machen werden und vielen Jugendlichen neue Hoffnung und neue Perspektiven für ihr Leben aufzeigen können.

Herzlichen Grüße

Carola de Decker

Neue Menschliche Revolution - Essay 14

"Ich habe mein Versprechen von Meister und Schüler erfüllt "

Erinnerung an die große Zeremonie vom 16. März

Ich habe das Versprechen der Meister-Schüler Beziehung erfüllt. Ich habe das Versprechen der Freunde von gleichem Geist erfüllt. Ich habe das Ziel meiner Überzeugung erreicht.

Seit jenem Tag, an dem alle sich am Fuß des Berges Fuji versammelten, hat die neue Wende für kosen-rufu angefangen. Dieser Tag war kalt. Der wunderschöne Berg Fuji blickte majestätisch auf uns. Die Zeremonie an diesem 16. März war sehr heiter.

Mentor Toda deklarierte, daß er die Stafette dem kosen-rufu- Bewegung an die Jugend weitergegeben habe. Die Herzen der Jungen Schüler glühten. Ihre Aufgabe loderte wie eine Flamme hoch auf. An diesem Tag im Jahre 1958 scharten sich 6.000 junge Schüler um unseren Mentor Josei Toda, der nur noch wenige Tage zu leben hatte Alle feierten voller leben diesen Tag. Junge Leute. die aus ganz Japan zusammengekommen waren, begrüßten sich und sprachen fröhlich miteinander, sangen und tanzten, Die Szene wirkte, als ob sie die Stege der Zukunft bereits errungen hätten. Alle sahen es voller Freude. Von dem Tag an strömte der Fluß der unvergänglichen 40-jährigen Geschichte.

Im gleichen Jahr im März fanden einen Monat lang mehrere Veranstaltungen statt. Der Höhepunkt der Bemühungen des Mentors Ende Februar war, daß er selbst kam. Seine körperliche Kondition war äußerst schlecht. Mehrmals mußten wir einen Arzt rufen. Aber die Stimme des Mentors. der sich für kosen-rufu absolut entschlossen hatte, war klar und stark. „Daisaku, du darfst dich niemals von mir entfernen. Hast du verstanden? 24 Stunden am Tag nicht von mir weggehen.“

Wenn ich mich zurückerinnere, sagte mein Mentor immer: „Wo ich bin, ist das Hauptquartier.“ Von frühmorgens bis Mitternacht rief er mich zu sich. Manchmal auch nachts um drei. Ich eilte stets zu ihm. Er sagte: „Daisaku, du bist wie ein Falke.“ Dieses Wort benutzte er.

Um ihn zu beschützen, blieb ich rastlos ohne Schlaf. Ein Jahr vorher, im November, als er zusammenbrach, rief er mich: „Ist Daisaku da?“ Danach überwand er seine Krankheit. Drei Monate später, am 11. Februar, seinem

  1. Geburtstag, feierte er seine Genesung. Der Arzt war selbst überrascht über die unerklärliche Heilung. Er zeigte den großen Beweis des Mystischen Gesetzes. Aber das Lebenslicht des Mentors war schon fast ganz niedergebrannt; er marschierte seinem Ende entgegen. Das wußte er selbst, und ich, sein wahrer Schüler, wußte es auch.

Am 1. März sagte er zu mir: „Daisaku, nach mir kommst du. Mach weiter!“ Danach schlug er vor: „Am 16. März wollen wir einen Festakt zur Vorbereitung von kosen-rufu veranstalten !“ Er verstand, daß er nicht mehr gesund werden würde und nicht mehr der Anführer für kosen-rufu sein konnte. Der Daishonin sagt; „Das Leben ist begrenzt. Man darf es nicht aufsparen. Was wir letztendlich wünschen. Ist das Buddhaland. (Jap. Gosho, S. 955).“

Die Zeremonie cm 16. März war genauso, wie es Nichiren Daishonins Aussage entsprach, sein Leben nicht aufzusparen, und es war ein Tag, der seinen Geist auf ewig weitergeben würde. Auch war es eine Meister-Schüler-Zeremonie für zwei, mit der vom Mentor die kosen-rufu Bewegung an mich weitergereicht wurde. Ich habe, mit dem Bewußtsein dieser tiefen Bedeutung, alle Verantwortung übernommen, und mit all meinen Kräften habe ich die große Zeremonie vorbereitet.

Sein Körper wurde von Tag zu Tag schwächer. Aber er kämpfte mit allen Kräften gegen den Teufel des Todes, bis er mir und der Jugend alles perfekt übertragen hatte. Er rief mich öfters, um wichtige Zukunftsvisionen der Verbreitung zu erzählen. Seine Worte waren für mich sein Testament. Alles war eine Ouverture der großen Zeremonie der Nachfolge.

Bei dieser Zeremonie sollte ein Politiker anwesend sein und Taisekiji besichtigen. Damals gab es noch den reinen Strom bei der Priesterschaft. Aber jetzt hat sich dieser Strom in ein vollkommen trübes Rinnsal verwandelt. Der Politiker und Mentor Toda waren befreundet. An jenem Morgen sagte der Politiker telefonisch ab, weil irgendjemand interveniert hatte. Mentor Tode schimpfte heftig und schrie an Telefon in hartem Ton: „Möchtest du etwa dein Versprechen an die Jugend brechen?“ Nach dem Anruf sagte er: „Politiker machen letztendlich Kompromisse, und jetzt übt er Verrat. Das Ist das Wesen der japanischen Politiker.“

Obwohl Lob und Tadel der Gesellschaft üblich sind, gibt es dennoch so viele Leute, die Ihr Leben nur nach Gerüchten richten, sich in den Mittelpunkt stellen und nur für Ihren Gewinn handeln. Sie haben kein Ziel und keine Überzeugung, geschweige denn einen einzigen Gedanken daran, anderen zu dienen. Wie klar liegt das zu Tage! Man zieht dem anderen die Beine weg und akzeptiert andere nicht, die fähig sind. Sie gaukeln sich selbst vor, klug zu sein, und leben auf keinen Inseln, ohne die Bewegung der Welt zu bemerken, ertrunken in niedriger Selbstzufriedenheit. - Präsident Toda hat das Wesen der Politiker ganz und gar durchschaut und links liegen lassen. Für den Mentor war es keineswegs eine Enttäuschung. Wenn niemand kommt, wollen wir eine große Zeremonie mit den Jugendlichen machen. - Wenn der wahre, junge Nachfolger da ist, ist es schon gut. Das war sein tiefster Gedanke.

Bevor wir noch den Termin der Zeremonie wußten, machte sich sein Kopf schon Gedanken, wie er die Jugend ermutigen könnte. Für diejenigen jungen Leute, die schon sehr früh angekommen würden, ließ er Suppe mit Schweinefleisch vorbereiten. Damals schlachteten wir drei Schweine, aber der Mentor wies uns an, die Haut aufzuheben. Nach seinem Tod habe ich aus diesem Schweinsleder Behälter für Füllfederhalter fertigen lassen und an 107 Repräsentanten der Jugend verschenkt mit dem Wunsch, daß sie niemals das Herz des verstorbenen Mentor vergessen dürften und lebenslang studieren und lebenslang weiterkämpfen sollten.

„Ich werde das Ganze auf alle Fälle dirigieren.“ - Das sagte er. Doch sein Körper war äußerst schwach. Selbst das Gehen fiel ihm schwer. Um Sensei zu transportieren, bat ich einige meiner Vertrauten unter den jungen Leuten. Ihm eine Sänfte, eine shaga zu bauen. Er sagte: „Sie ist zu groß und paßt nicht zu einem realistischen Kampf.“ So tadelt. er mich. Bis zum Ende seines Lebens hat er seine lieben Schüler mit seinem ganzen Leben trainiert. Ich habe innerlich vor Dankbarkeit geweint.

Er antwortete auf das aufrichtige Herz der Schüler. Er stieg in die Sänfte ein und leitete alles mit großer Gelassenheit. Die Gesichtet derjenigen, die die Sänfte trugen, waren voller Freude, und auf ihrer Stirn glänzte goldener Schweiß. Hier möchte ich ihre Namen hinterlassen:

Yoshizo Abe, Noando Izaki, Takeshi Ishii, Yoshiaki Endo, Takaaki Okayasu. Shinichiro Ogama, Akira Kuroyanagi, Saburo Gunji, Akira Kobayashi, Hiroshi Kobayashi, Shinichi Kondo, Kazuo Sawada, Yoshio Shintani, Shosuke Takahashi, Naoma Takahashi, Soichi Tateoka. Yasuo Tsuboi, Kazuyuki Nishikata, Hideyo Hachiya, Yoshihiko Yabunaka, Ichiro Watabe.

Auf der Bühne der Zeremonie deklarierte Mentor Toda: „Die Soka Gakkai ist der König der religiösen Welt.“ Ich habe dieses Brüllen des Löwen in mein Herzen eingraviert. Ich muß unbedingt König werden. Das habe ich tief in meinem Herzen versprochen. „König der religiösen Welt“ bedeutet König der Welt der Philosophie und der Wissenschaft. Für das Schriftzeichen „König“ zieht man drei waagrechte Linien und stellt das japanische Zeichen für „1“ senkrecht. So verbindet es sich mit dem 16. März, dessen Schriftzeichen ebenfalls aus drei waagrechten Linien und der „1“ bestehen. „6“ wiederum heißt, „6.000 junge Leute, die die Aufgabe (der Verbreitung. Anm. d, Übers.) haben, Freunde der Bodhisattvas der Erde von 60.000 gogasha.“ Die große Zeremonie des 16. März war wie eine Zeremonie auf dem Adlergipfel, die immer noch nicht aufgelöst war. So sah es aus.

Nach dem Festakt sagte ich den jungen Leuten, die mit dein Bus keimkehrten, zusammen mit der Musikgruppe von ganzem Herzen Lebewohl. Bald mußte auch diese Gruppe den Heimweg antreten. Vorher kamen sie zu mir, um sich zu verabschieden. Da bat ich den Leiter der Gruppe: „Ich habe eine Bitte. Könnt ihr noch ein Lied spielen? Im 2. Stock liegt Mentor Toda. Bitte noch ein Lied zum Abschied.“

Alle packten gerne nochmals ihre Taschen aus und spielten voller Inbrunst. Das Stück war das erinnerungsträchtige Stück von Bansui Doi: „Auf dem Gojo-Feld glänzen die Sterne, und der Herbstwind weht“:

Im traurigen Herbst von Kizan weht der Wind.

Über dem Gojo-Feld dunkeln die Wolken.

Ich höre den Regen fallen,

Und die Blätter sinken zu Boden.

Bei diesem Lied stiegen Erinnerungen empor, und ich schrie in meinem Herzen auf: „Mentor, höre bitte! Deine jungen Schüler sind voller Leben und gesund. Sei beruhigt“

Ein paar Tage nach der großen Zeremonie spürte der Mentor die verdorbene Atmosphäre der Priesterschaft und sagte strikt: „Man darf beim Nachjagen nicht lockerlassen.“ Der Mentor sagte klar voraus, daß die Priesterschaft mit Sicherheit zu einem brackigen Tümpel würde. Und dieses Wort wurde sein Testament.

Durch die Widmung des Lebens des Mentors entstand der prachtvolle daikodo (Versammlungsgebäude In Taisekiji. Anm. d. Übers). Wenn der aufrichtige Geist Nichiren Daishonins, weitergetragen von den jungen Nachfolgern aus der Soka Gakkai, dort ist, kann der daikodo ein Ort der Ausübung des Buddhismus sein. Aber sonst nicht.

Die verdorbenen, degenerierten Priester legen nur die Maske der Priesterschaft an. Es Ist ein Ort tierischer, böser Intrige geworden, ein Platz erfüllt von Verwesungsgestank, ein Ort, um den Buddhismus zu zerstören und die Gesellschaft zu vernichten.

Deshalb beklagte der Daishonin den verdorbenen Zustand der Priester, und bevor man mehrere zehntausende Gebete spricht soll man das Böse stoppen. Wenn man die Ruhe des Volkes und seinen Frieden wünscht, soll man das Böse beseitigen, das die Gesellschaft vergiften will. Dies war die Forderung des Daishonin.

17 Tage nach der Zeremonie, am 2. April, schloß sich der Vorhang des großartigen Lebens meines Mentors. Am 16. März fand der Abschied vom Mentor und die Zeremonie der Stafettenübergabe statt.

Nach den Tod des Mentors wurde von der Gesellschaft brutal prophezeit, daß die Gakkai sich in Luft auflösen würde. ‘Ich will die Worte des Mentors nicht zu einem leeren Spruch machen. Ich halte die Stafette des Geistes der Untrennbarkeit von Meister und Schüler fest!‘ Ich bin gerannt und gerannt.

Seit diesem Tag sind 40 sommerliche Sternenzelte und 40 Winterfröste vorübergezogen. Die Soka Gakkai ist als König der Welt der Wissenschaft und als König der Menschenrechte und als König des Friedens himmelhoch aufgestiegen. 4o Jahre haben die Menschen sehr strikt voneinander geschieden.

Diejenigen, die fortgegangen sind, sind fort, und sie sind im schmutzigen Sumpf der Reue versunken. Diejenigen, die Verrat geübt haben, werden nach den Worten des Daishonin ihrem Urteil nicht entgehen können. „Am Anfang sieht es so aus, als würde nichts passieren. Aber zum Schluß werden sie zugrunde gehen. (Jap. Gosho. S. 1190)

Die Freunde, die mit mir gekämpft haben, erleben den Triumph des Lebens. Diese würdevollen Freunde möchte ich für alle Ewigkeit preisen. Wenn man die Lehre des Meisters umsetzt, ist man sein Schüler. Wenn man sein Vorsprechen erfüllt hat, ist man Schüler. Dort habe ich meinen höchsten und größten Stolz.

Nichiren Daishonin sagt: „Wenn man die Wirkung der Zukunft wissen möchte, sollte

man die Ursachen In der Gegenwart betrachten.“ (Jap. Gosho, 5. 231) Das Ichinen in einem Augenblick der Entschlossenheit und die Handlung der Gegenwart bestimmen die Zukunft. Der 16. März heißt: der Tag für die Ewigkeit, der Ausgangspunkt der Wahren Ursache, wenn die Schüler aufstehen.

Für mich war jeder Tag ein neuer Start der Entschlossenheit, und jeder Tag war der 16 März.

\ Neue Menschliche Revolution - Das große Licht\

13.

(...) Am folgenden Morgen reiste die Gruppe von Kopenhagen nach Düsseldorf in Westdeutschland ab. Der Flug dauerte zwei Stunden.

Das Wetter in Kopenhagen war freundlich gewesen, aber als sich ihr Flugzeug Düsseldorf näherte, zogen Wolken auf und wurden dichter. Shin‘ichi und die anderen begannen sich zu sorgen, ob das Flugzeug am Düsseldorfer Flughafen würde landen können. Sie hatten gehört, daß es in dieser Gegend nicht ungewöhnlich war, wenn ein Flugzeug wegen schlechten Wetters umkehren mußte.

Schließlich begann ihr Flugzeug jedoch mit der Landung. Die regennassen Straßen unter ihnen glänzten. Während der Landung bemerkten sie, daß der Regen aufgehört hatte und die Sonne zwischen den Wolken hervorstrahlte. Shirt‘ichi war für das günstige Wetter sehr dankbar.

Am Flughafen wurden sie von mehreren Menschen empfangen: Die Tochter von Kiyoshi Ozawa, einem Juristen und Freund Josei Todas, und ihr Mann waren zur Begrüßung gekommen. Das Ehepaar lebte in Deutschland, da der Ehemann von seiner Firma dorthin versetzt worden war. Auch eine Japanerin und ihr deutscher Ehemann, die in Mannheim lebten, waren da, um sie zu empfangen. Sie war der Soka Gakkai erst drei Monate zuvor beigetreten. Außerdem war lchiro Karasawa gekommen, ein Angestellter eines japanischen Elektrounternehmens, der beruflich in Düsseldorf war.

14.

Der Westen Deutschlands war auf eindrucksvolle Weise dabei, sich von den Zerstörungen des Krieges zu erholen. Überall in Düsseldorf wurde gebaut, und die Menschen wirkten lebendig und entschlossen. Auf einer Versammlung der Suiko-kai (einer Trainingsgruppe der Jungen Männer) hatte Josei Toda einmal gesagt: “Seht Euch nur den Wiederaufbau von Westdeutschland an. Japan kann von Westdeutschland viel lernen.“ In Anbetracht der Tatsache, daß das Land erst sechzehn Jahre zuvor den Krieg verloren hatte, hatte es sich beachtlich erholt.

Shin‘ichi lud Ichiro Karasawa und das Ehepaar aus Mannheim zu sich ins Hotel ein. Die Rolle der Ehefrau als erstes Mitglied der Soka Gakkai in Deutschland betrachtete Shin‘ichi als besonders wichtig. Er schenkte ihr ein besonderes fukusa-Tuch[^1] und hörte aufmerksam zu, was sie zu sagen haue. Er ermutigte sie aus der Tiefe seines Herzens in dem Bewußtsein, jede Begegnung als eine besondere Gelegenheit zu schätzen, die vielleicht nie wieder käme.

“Ich weiß, wie einsam und verlassen Sie sich ohne andere Mitglieder in ihrer Nähe fühlen müssen. Aber nun, da Sie diesen Buddhismus praktizieren, sollten Sie es zu Ihrer persönlichen Aufgabe machen, an der Verwirklichung von kosen-rufu mitzuwirken und die Zahl der hiesigen Mitglieder beständig zu vergrößern, sei es auch nur um eines oder zwei.“

Shin‘ichi fuhr fort, sie mit größter Aufrichtigkeit zu unterstützen. Sie war erst seit kurzem Mitglied der Soka Gakkai, wenn sie aber aufstehen und die Initiative ergreifen könnte, würden ihre Bemühungen den Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft bahnen. Natürlich bewirkt selbst die ernsthafteste Ermutigung nicht immer, daß ein Mensch sich der Herausforderung stellt. In Wirklichkeit ist es sogar recht selten, daß sich jemand tatsächlich so begeistern und entwickeln kann, wie man es vielleicht hofft. Trotzdem liegt es in der Verantwortung eines Leiters, die Überzeugung beizubehalten, daß jedes Mitglied ein Bodhisattva aus der Erde ist, jemand mit einem großen Potential, und diesen Menschen unbedingt zu ermutigen. Eine solche konsequente und wiederholte Bemühung führt zum Wachstum wirklich fähiger Menschen.

Als ihre Gäste abgereist waren, machten Shin‘ichi und seine Begleiter sich auf, um sich die Stadt anzusehen. Als Fremdenführer und Dolmetscher diente ihnen ein Japaner mittleren Alters, der bei einer japanischen Firma angestellt war, in Westdeutschland lebte und ihnen durch ein anderes Mitglied vorgestellt worden war.

Düsseldorf, das entlang des Rheins liegt, war das Handelszentrum der nordwestlichen Region Westdeutschlands. Dahinter lag das große Ruhrgebiet. Der deutsche Dichter Heine wurde in Düsseldorf geboren, und die Komponisten Brahms, Schumann und Mendelssohn waren dort aufgewachsen. Die herrlichen Straßen waren mit Platanen und Kastanienbäumen gesäumt, was den besonderen kulturellen “Duft“ dieser Stadt verstärkte. Auf dem viereckigen Marktplatz neben dem Rathaus stand die Bronzestatue eines Mannes auf einem Pferd. Der Fremdenführer erklärte: “Dies ist eine Statue aus dem frühen 18. Jahrhundert, die Johann Wilhelm zeigt, einen Lehnsherren, der diese Gegend einst regierte. Die Menschen hier nennen ihn liebevoll ‘Jan WeIlem‘.“

15.

Johann Wilhelm war ein Lehnsherr, der gütig regierte und ausgezeichnete politische Maßnahmen ergriff. Er war ein pfälzischer Kurfürst - ein führender weltlicher Fürst des Heiligen Römischen Reiches, der berechtigt war, an der Wahl des Kaisers teilzunehmen. Wilhelm ließ ein Opernhaus bauen, unterstützte Künstler und Musiker an seinem Hof und förderte die Künste. Außerdem veröffentlichte er eine regelmäßige Zeitung und führte in dieser Region die Straßenbeleuchtung ein. Es heißt, er habe mehr Straßenlaternen aufstellen lassen als es damals in Paris gab.

Die Überlieferung sagt, er sei so um die Nähe zu seinen Untertanen besorgt gewesen, daß er sich oftmals unter sie gemischt, sich fröhlich mit ihnen unterhalten und mit ihnen getrunken habe.

Die Bronzestatue auf dem Marktplatz war vom Kurfürsten selbst in Auftrag gegeben worden, und zwar bei Gabriel de Grupello, einem bekannten Bildhauer jener Zeit.[^2]

Der Fremdenführer sah zu ihr hinüber und sagte: “Ich möchte Ihnen eine interessante Geschichte über diese Statue erzählen: Als sie gegossen werden sollte, reichte die Bronze nicht ganz. Als die Bewohner der Stadt das hörten, holten sie die bronzenen Gegenstände, die sie besaßen, aus ihren Häusern, und spendeten sie mit Freuden für die Vollendung der Statue. Sie waren sehr stolz auf Johann Wilhelm, und sie liebten ihn innig.

Die Leute waren aufgeregt und freuten sich, als die Statue fertiggestellt war, und viele bewunderten sie, wie sie da in der Sonne glänzte. Aber es gab auch einige, die die Statue überhaupt nicht mochten, nämlich diejenigen, die gehofft hatten, selbst mit dem Bau der Statue beauftragt zu werden, und eifersüchtig auf Grupellos Werk waren. Voller Neid und Selbstsucht begannen sie, die Statue anzugreifen, indem sie sagten: ‘Das Pferd sieht nicht kraftvoll genug aus, ‘ oder ‘Die Form von Johann Wilhelms Nase ist nicht richtig‘ oder ‘Die Stiefel sind verkehrt‘.

Obwohl die meisten nicht sagen konnten, ob diese Kritik berechtigt war, wurde sie doch mit solchem Nachdruck geäußert, daß die Bewunderung für die Statue ganz und gar aufhörte. Daraufhin errichtete Grupello zusammen mit seinen Gehilfen eine Bretterwand um die Statue und verschwand dahinter, und für einige Zeit waren die Geräusche von Hammer und Meißel zu hören, so daß der Eindruck entstand, die Arbeit sei in vollem Gange. Einige Wochen später wurde die Wand entfernt. Dieses Mal gab es keine Kritik. Diejenigen, die zuvor über die Statue geschimpft hatten, schlossen sich nun dem Lob aller anderen Einwohner an.

Wilhelm fragte Grupello: “Welchen Teil der Statue haben Sie verändert?“ Grupello erwiderte: “Es ist unmöglich, Änderungen an einer bereits gegossenen Statue vorzunehmen. Sie ist genau so, wie sie vorher war. Ich bin sicher, Sie können sich nun vorstellen, welche Beweggründe diejenigen hatten, die die Statue anfangs bemängelten.“

16.

Als er das hörte, sagte Shin‘ichi Yamamoto: “Das ist eine sehr gute Geschichte. Wenn die Gesellschaft Dinge bewertet, tut sie das oft nach diesem Muster. Auch die Soka Gakkai war und ist häufig der unbegründeten, erbitterten Kritik ausgesetzt. Natürlich wurde diese Kritik absichtlich von denjenigen verbreitet, die die Entwicklung unserer Organisation mit Neid oder Angst beobachten. Wenn aber ein Bereich der Medien beginnt, die Soka Gakkai zu kritisieren, neigen die anderen dazu, sich anzuschließen, ohne die Stichhaltigkeit der Geschichte zu überprüfen. Selbst diejenigen, die die Soka Gakkai gut kennen und sehr schätzen, trauen sich unter solchen Umständen oft nicht, ihre positive Meinung zu äußern.

Man kann nichts Wesentliches vollbringen, wenn man sich durch solche Kritik beeinflussen läßt, die so wechselhaft ist wie Rauch, der im Wind seine Richtung ändert. Ich bin davon überzeugt, daß der wahre Wert der Soka Gakkai in hundert oder zweihundert Jahren erkannt werden wird. Die Geschichte wird dies beweisen.“

Die Gruppe ging vom Marktplatz hinunter zum Rheinufer. Dort sammelte Shin‘ichi einige Kieselsteine. Um die weltweite Verbreitung des Buddhismus Nichiren Daishonins zu symbolisieren, sollten kleine Steine aus allen Teilen der Welt in das Betonfundament der Hauptsäulen, die die Große Empfangshalle am Haupttempel stützen würden, eingegossen werden. Nachdem sie genügend Steine gesammelt hatten, standen sie noch eine Weile am Flußufer.

Jemand aus der Gruppe, Akira Kuroki, ein Leiter aus der Junge-Männer-Abteilung, sagte zu Shin‘ichi: “Dieser Blick auf den Rhein erinnert einen an das Lied der ‘Lorelei‘ von Heine, nicht?“[^3] Kuroki war ein sonnengebräunter, starker, athletischer junger Mann, aber er war auch ein gebildeter Mann, ein Absolvent der Universität Waseda in Englischer Literatur, und er beherrschte die englische Sprache.

Shin‘ichi nickte und antwortete: “Ja, mich auch. Der Schauplatz der ‘Lorelei‘ liegt zwar weiter oben am Rhein, aber der Fluß weckt wirklich den Sinn für Poesie. Irgendwann möchte ich sehr gerne den Ort der Legende von der Lorelei besuchen - auch wenn wir auf dieser Reise keine Zeit haben. Übrigens, wußten Sie, daß in der Zeit des Hitlerregimes das Lorelei-Lied unter ‘Autor unbekannt‘ geführt wurde?“ Verwundert entgegnete Kuroki: “Was? Ein so berühmtes Lied? Aber warum?“

“Weil Heine jüdischer Abstammung war. Die Nationalsozialisten verboten alles, was mit den Juden oder dem Judentum zu tun haue, einschließlich aller jüdischen Werke der Literatur und der Kunst. Natürlich war das Lorelei-Lied zu bekannt, um es auslöschen zu können. Aber sie löschten Heines Namen in dem Bemühen, sein Werk für immer zu verbergen.“

17.

Das Licht der untergehenden Sonne schimmerte auf der Wasseroberfläche des Rheins.

Mit ernstem Gesicht sagte Shin‘ichi nachdrücklich: “Daß der Name des Autors der ‘Lorelei‘ gelöscht wurde, war nur eine klitzekleine Episode in der Verfolgung der Juden durch die Nazionalsozialisten. In einer Hinsicht war Hitlers Krieg ein Krieg gegen die Juden. Es heißt daß etwa sechs Millionen Juden m Deutschland und in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten umgebracht wurden.“ Angespannt hörten alle zu, und ihre Gesichter waren plötzlich ernst geworden, als das Gespräch unerwartet auf die Verfolgung der Juden durch die Nazionalsozialisten kam.

Vom Anfang seiner politischen Laufbahn bis zum Ende hegte Hitler einen brodelnden Haß gegen die Juden.

1919 schrieb er in seiner ersten politischen Erklärung: “Das unveränderliche Ziel des Antisemitismus muß das vollständige Ausmerzen der Juden sein.“[^4]

Auch in seiner Autobiographie Mein Kampf verdammte er die Juden ganz offen, indem er sagte: “...wir sehen uns dieser Frage [dem Judenproblem ] gegenüber, ohne deren Lösung jeder Versuch, Deutschland zu erwecken oder wiederzubeleben, absolut sinnlos und unmöglich ist und bleibt.“[^5]

Selbst im April 1945 noch, als die Niederlage Deutschlands nahe bevorstand, rühmte Hitler sich für den Völkermord: “Der Nationalsozialismus kann mit Recht Anspruch erheben auf die ewige Dankbarkeit des Volkes, da er den Juden in Deutschland und Mitteleuropa ausgerottet hat.“[^6] Er, der mehrere Millionen unschuldiger Menschen in dem höllischen Blutbad, das als Holocaust bekannt ist, ermordet hatte, gab diese schamlose Erklärung ohne ein Zeichen von Gewissensqual oder Reue. Adolf Hitler wurde im April 1889 in Österreich als Sohn eines kleinen Zollbeamten geboren. Sein Vater starb, als er dreizehn war, und seine Mutter, als er achtzehn war. In der Hoffnung Künstler zu werden, ging er nach Wien, scheiterte aber mit diesem Wunsch. Um dem Militärdienst zu entgehen, wanderte er 1913 nach München aus, meldete sich aber später freiwillig, um mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges beim deutschen Militär zu dienen. Nach dem Krieg trat er der Deutschen Arbeiterpartei, einer kleinen, reaktionären politischen Partei in München bei. Hitler stellte sich als talentierter Agitator heraus, der gekonnt die Unzufriedenheit der Menschen ausnutzte und in seiner Partei rasch an Macht gewann, während er ihre Größe und ihren Einfluß erweiterte. Er fuhr fort, seinen Stand und seinen Einfluß in der Partei zu stärken, benannte sie bald in ‘Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei‘, NSDAP (aus den ersten beiden Silben des Wortes Nationalsozialist entstand der Ausdruck ‘Nazi‘) um und erlangte schließlich uneingeschränkte Autorität als ihr ‘Führer‘.

18.

Hitler wurde im Juli 1921 Vorsitzender der NSDAP. Nur elfeinhalb Jahre später, am 30. Januar 1933, wurde er zum Kanzler Deutschlands ernannt, ein Ereignis, das den Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft kennzeichnete.

Als einen Monat später ein Feuer den Reichstag. das deutsche Parlamentsgebäude in Berlin, verschlang, nutzen die Nazionalsozialisten die Angst und die Besorgnis der Menschen aus, um einer kommunistischen Verschwörung die Schuld zu geben. Die ausgedehnte Verfolgung der Kommunisten und anderer Gruppen, die für regimefeindlich gehalten wurden, begann. Indem die Nazionalsozialisten geschickt die öffentliche Meinung manipulierten, um die Deutschen davon zu überzeugen, daß sie die einzige Macht seien, die mit der nationalen Krise umgehen könne, gewann die Partei die Reichstagswahlen. Umgehend zwang sie die Regierung, ein Gesetz zu verabschieden, das Adolf Hitler die gesamte Macht verlieh. Sobald er im Amt war, ließ Hitler sofort alle anderen Parteien auflösen und verbieten. Im August des folgenden Jahres wurde er feierlich zum ‘Führer‘ bzw. Obersten Befehlshaber ernannt, eine Position, die die Machtbefugnisse des Kanzlers und des Präsidenten vereinte. So begann das Dritte Reich, das dunkle Zeitalter der Hitlerdiktatur.

Shin‘ichi schilderte den anderen diese Einzelheiten - der Weg, auf dem Hitler an die Macht gekommen war - in Kürze.

Etwas verwirrt fragte Akira Kuroki: “Warum hat Deutschland Hitlers Diktatur geschehen lassen? Hatten die Deutschen damals nicht die Weimarer Verfassung, eine der demokratischsten Verfassungen der Welt?“

“Doch, die hatten sie. Das ist ein sehr wichtiger Punkt.“ Shin‘ichi fuhr fort, die Hintergründe zu erläutern.

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges brach in Deutschland eine Revolution aus, und Kaiser Wilhelm der Zweite war gezwungen, ins Ausland zu fliehen. Nach dem Zusammenbruch der Reichsherrschaft und der Niederlage des Landes im Krieg brach in Deutschland die Zeit der demokratischen Regierung unter der Weimarer Verfassung an (sie wurde so genannt, weil sie in der Stadt Weimar angenommen worden war).

Die langen Jahre feudalistischer Regierung und die geringe Erfahrung als moderne demokratische Nation jedoch brachten mit sich, daß die alten patriarchalischen Verhältnisse des Feudalsystems tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt blieben, im Gegensatz zu den Idealen, die die Weimarer Verfassung verkörperte. Mit anderen Worten, was die Idee der Demokratie betraf, hinkten die Menschen im Herzen und im Verstand der Zeit hinterher.

Der Versailler Vertrag legte außerdem hohe Reparationszahlungen fest, die Deutschland zu leisten hatte. Dies belastete die Wirtschaft des Landes so stark, daß eine Wirtschaftskrise mit lähmenden Auswirkungen auf das Leben der Menschen ausgelöst wurde. Das Jahr 1923 brachte einen katastrophalen Wertverlust der Deutschen Mark. Im August betrug der Wert der Mark weniger als ein Millionstel ihres Wertes vor dem Krieg. Im Oktober fiel er auf ein Sechsbillionstel seines ursprünglichen Wertes. Die Situation war so elend, daß ein Arbeiter zwei Tage arbeiten mußte, um genug Geld für ein Pfund Butter zu verdienen. Der Zusammenbruch der Wirtschaft verursachte große Not und außerordentliches Leid.

19.

Inmitten des furchtbaren Elends, das das Wirtschaftschaos über das Land gebracht hatte, fanden sowohl konservative Kräfte als auch die Massen ein Ventil für ihren Groll, indem sie ihre Wut und ihre Kritik gegen die Juden richteten. Die jüdische Bevölkerung, knapp über eine halbe Million, machte damals etwa ein Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung aus.

Obwohl es über so viele Jahrhunderte hinweg gezwungen war, eine nomadische Existenz zu führen, hatte das jüdische Volk immer seine religiöse Gemeinschaft bewahrt. In der christlichen Gesellschaft jedoch wurden die Juden als andersartig und fremd betrachtet, und verschiedene Rechte, die für andere Bürger selbstverständlich waren, wurden ihnen verweigert. Sie wurden in nahezu allen Lebensbereichen diskriminiert: in der Höhe der Steuern, die sie zu zahlen hatten, in ihrem Besitz und ihren Berufen, und in der Wahl ihrer Ehepartner. Auch waren sie gezwungen, in besonders abgegrenzten Gebieten, sogenannten Gettos, zu wohnen.

Schon im Mittelalter gab es unerbittliche Angriffe gegen die Juden: Wenn irgendwo eine Epidemie ausbrach, wurden die Juden beschuldigt, die Brunnen vergiftet zu haben, und dafür umgebracht. Oder wenn die Lüge verbreitet wurde, im Judentum würden Säuglinge als Opfergaben erschlagen, wurden die Juden verfolgt.

Und im Angesicht dieser erbarmungslosen Angriffe konnten die Juden nichts tun als vor sich hin zu murmeln, “So tief wie das Meer ist auch das Leid des jüdischen Volkes.“

Erst um die Zeit der Französischen Revolution erlangten die Juden erstmals Bürgerrechte. In Deutschland jedoch, das dem Aufbau einer bürgerlichen Gesellschaft hinterherhinkte, konnten die Juden erst viel später, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, bürgerliche Grundrechte erwerben. Aber selbst diese waren ihnen nicht sicher. Antisemiten betrachteten die auf ihrer Religion beruhende Gemeinschaft der Juden als “ein Staat im Staate“. Ihre Ansicht war: Da die Juden ausschließlich ihrem “Staat im Staate“ gegenüber loyal waren, konnten sie dem christlichen Staat gegenüber nicht loyal sein.

Die Juden vereinte in der Tat eine starke Gemeinschaft; trotzdem strebten sie mit all ihrer Kraft danach, das Land als deutsche Bürger zu unterstützen.

Die Nazionalsozialisten propagierten außerdem, die Juden, die gezwungenermaßen über die ganze Welt verstreut lebten, trachteten nach einer internationalen Gemeinde, die über den Staat hinausginge und die Juden überall verbände, und so eine gefährliche Bedrohung für den deutschen Staat darstellte.

Unbegründete Gerüchte gegen die Juden begannen auch, als die deutsche Wirtschaft an den Rand des Ruins gelangte, denn unter den obersten Financiers des Landes befanden sich auch einige Juden. “Die Juden haben den Krieg begonnen, um Geld daran zu verdienen“, lauteten die Gerüchte. “Die Deutschen kämpfen an der Front, während die Juden hinter den Kulissen die Gesellschaft beherrschen und den Löwenanteil des Profits einstreichen.“

Mehr als 100.000 Juden aber, etwa zwanzig Prozent der damaligen jüdischen Gesamtbevölkerung in Deutschland, hatten im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft, und 12.000 von ihnen waren im Kampf gefallen.

20.

Der bittere Groll gegen die Juden war also in Deutschland bereits geschürt worden, als Hitler die politische Bühne betrat.

Hitler behauptete, die arischen Völker, und an der Spitze die Deutschen, seien jeder anderen Rasse der Erde überlegen. Er forderte die Zurücknahme des Versailler Vertrags, da dieser, wie er sagte, das deutsche Volk zu Sklaven machte, und die Ausdehnung der deutschen Gebiete, um ausreichenden ‘Lebensraum‘ für alle Deutschen zu sichern. Zugleich hielt Hitler die Behauptung aufrecht, die Juden, die er als niedere Rasse verdammte, deren Heirat mit Ariern die arische Reinheit des Blutes zerstörte seien für den Untergang Deutschlands verantwortlich, und drängte auf ihre vollständige Vertreibung.

Im Gegensatz zu Hitlers Behauptungen aber gibt es keine so klar festgelegten Rassen wie “Juden“ oder “Arier“. Hitlers Antisemitismus war einfach eine offensichtliche Völkerdiskriminierung mit einer politischen Zielsetzung.

Heute definiert das israelische Rückführungsgesetz als Juden jemanden, dessen Mutter Jüdin ist oder der zum Judentum konvertiert ist. In gewissem Sinne sind Juden diejenigen, die einen gemeinsamen Inhalt religiöser und kultureller Traditionen annehmen, der auf dem Judentum basiert.

Hitler aber bestand darauf, die Juden seien keine Glaubensgemeinschaft sondern eine Rasse, und er erfand alle möglichen Lügen über sie. Ein typisches Beispiel war, die Juden versuchten, sich der deutschen Nation zu bemächtigen und sie zu regieren. Hitler zufolge war die jüdische Religion nur eine Tarnung für düstere politische Absichten, und er rechtfertigte sein scharfes Vorgehen gegen sie mit der Zerstörung dieser Absichten. Die Juden, behauptete Hitler, seien “Parasiten“, die, ohne selber zu arbeiten, durch ihre Finanzkraft hohe Gewinne einstrichen; sie seien “Blutsauger“, die sich vom lebensnotwendigen Blut des deutschen Volkes ernährten. Selbst nur mit weltlichem Profit beschäftigt, beschuldigte er die Juden, sie seien einzig und allein auf Geld und Macht aus und würden dafür vor nichts zurückschrecken. Er sagte den Deutschen, die Juden seien die Ursache all ihren Leidens, und wenn sie nicht vertrieben würden, verschlängen sie Deutschland so, wie Parasiten ihren Wirt verschlingen.

Hitler beteuerte, eine gefährliche Situation habe sich entwickelt, ohne vom deutschen Volk bemerkt worden zu sein. Der Jude, sagte er, habe sich in jeden Bereich der Gesellschaft eingeschlichen- in Politik, Wirtschaft, Staatsdienst und Universitäten-und habe hinter den Kulissen eigentlich schon alles unter seiner Kontrolle. Hitler zufolge waren die Weimarer Regierung und der Reichstag bloß Schachfiguren, Werkzeuge der Juden.

All diese Behauptungen waren nichts als bösartige Lügen und glatte Erfindung. Aber ihre fortwährende Wiederholung inmitten der herrschenden antisemitischen Stimmung hatte auf viele Menschen einen starken Einfluß, ganz wie das Sprichwort “Eine Lüge, oft genug wiederholt, wird in den Köpfen der Menschen zur Wahrheit“ sagt.

21.

Hitler selbst war zu einem Sklaven der teuflischen Verlockung der Macht geworden; er strebte nicht nur danach, ganz Deutschland, sondern die ganze Welt zu beherrschen. Die Juden waren es aber, denen er eine solche Absicht unterstellte. Dies ist eine verbreitete List unter skrupellosen Machthabern, die diejenigen, die ihnen im Weg stehen, vernichten wollen: sie beschuldigen den Feind eines Verbrechens, dessen sie selbst schuldig sind.

Wie aber halten Hitlers Behauptungen der Wirklichkeit stand?

Während der vierzehn Jahre, die zu Hitlers Herrschaft führten, waren nur fünf der fast 400 Kabinettsmitglieder der Weimarer Regierung, die Hitler als Marionette der Juden verurteilt hatte, selbst Juden, und keiner von ihnen blieb mehr als eine kurze Zeit im Amt. Die Behauptung, die Juden kontrollierten die Regierung, entbehrte also jeglicher Grundlage.

Es stimmte, daß einige Juden einen beträchtlichen Einfluß in Finanzkreisen ausübten, aber das hatte seinen Ursprung in der Geschichte. Im Mittelalter war es den Christen verboten, das Verleihen von Geld zu ihrem Beruf zu machen. Als Folge wurde diese Art Beschäftigung an die Juden verwiesen, die damals von der Gesellschaft diskriminiert wurden und keine Arbeit finden konnten. Sie waren weder absichtlich in den Bereich des Geldes eingestiegen, noch hegten sie irgendeine Absicht, die Gesellschaft zu beherrschen.

Auch konnte niemand leugnen, daß die Juden viele herausragende Gelehrte und Künstler hervorgebracht hatten. Unter den 38 deutschen Nobelpreisträgern, die in der Zeit von der Entstehung dieses Preises bis zum Beginn des Hitlerregimes ausgezeichnet worden waren, waren elf-fast ein Drittel - Juden. Einer von ihnen war Albert Einstein, der umjubelte Physiker und Begründer der Relativitätstheorie.

Dies war das Ergebnis der jüdischen Tradition, der Erziehung einen hohen Wert beizumessen. Für die Verfolgten und Vertriebenen war ein hoher Bildungsstand die Sicherheit, ein Auskommen zu haben, wohin sie auch gehen mußten. Das Jüdische Volk nutzte den erbarmungslosen Ansturm von Schicksalsschlägen als Anlaß, sich beharrlich und entschlossen um Bildung und die eigene Entwicklung zu bemühen.

Diese Tradition, die Erziehung hoch zu schätzen, bildete den Boden, aus dem Menschen mit großen Fähigkeiten erwuchsen, und der nicht nur das Leben des jüdischen Volkes, sondern auch das der deutschen Gesellschaft und darüber hinaus die ganze Menschheit bereicherte. Hitlers engstirniger Judenhaß bedeutete die Ablehnung und das Leugnen dieses geistigen Erbes.

Darüber hinaus berief Hitler sich auf eine gefälschte Abhandlung mit dem Titel Die Protokolle der Weisen von Zion, von der es hieß, sie dokumentiere die jüdische Verschwörung. Sobald die Protokolle bekannt geworden waren, benutzte er sie, um die Juden der “Verschwörung zur Errichtung der Weltherrschaft“ zu beschuldigen. Vorwürfe, die durch das Auftauchen von Dokumenten mysteriöser oder unbekannter Herkunft ermöglicht werden dies ist ein weiteres übliches Mittel, das Machthaber anwenden, um ungerechte Unterdrückung zu rechtfertigen.

Hitler besaß sogar die Dreistigkeit zu erklären, die Tatsache, daß die Juden die Protokolle eisern zurückwiesen, sei selbst ein Beweis Für die Gültigkeit des Dokuments.

22.

Die Presse diente zum größten Teil als Hitlers Sprachrohr, indem sie eine Flut sensationslüsterner Artikel produzierte, die das Feuer des Antisemitismus schüren sollten. Diese Artikel waren von der Wahrheit natürlich weit entfernt. Es gab sogar einen makaberen Scherz, der damals kursierte und den herrschenden Stand der Dinge bezeugte: Ein Jude sitzt da und liest zufrieden eine nationalsozialistische Zeitung. Ein anderer Jude kommt vorbei und fragt, “Warum liest Du eine solche Zeitung?“, worauf der erste antwortet, “Weil die jüdischen Zeitungen nur davon berichten, wie die Juden verfolgt werden. Diese Zeitung schreibt, wir sind das reichste Volk von allen und beherrschen nun die Welt!“

Hitler brachte alles, was er verabscheute oder verachtete, mit den Juden in Verbindung. Demokratie, Parlamentarismus, Liberalismus, Internationalismus und Menschenrechte, die den Menschen größere Freiheit und Gleichheit zusicherten-in seinen Augen waren das alles ‘Werkzeuge‘, die die Juden erfunden hatten, um die arische Rasse zu unterwerfen.

Aber wo genau waren denn diese mächtigen jüdischen Herrscher? Im Grunde existierten sie nur in Hitlers Vorstellung. Aber sein Wahn, durchtränkt mit Fanatismus und Vorurteilen, wurde selbst zur Triebkraft. So wurde die ‘Judenfrage‘ erfunden und die Vertreibung aller Juden als ihre ‘Endlösung‘ propagiert. die in dem Plan gipfelte, eine Massenausrottung der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas in Todeslagern wie Auschwitz vorzunehmen. Es war vollkommener Wahnsinn. Ein Greuel beispiellosen Umfangs.

Der Physiker Albert Einstein widersetzte sich Hitlers Regime und emigrierte in die Vereinigten Staaten. In einer scharfen Analyse der geistigen Prozesse des Diktators schrieb er:„...Daher der Judenhaß derer, die Grund genug haben, die Aufklärung des Volkes zu vermeiden. Mehr als alles andere auf der Welt fürchten sie den Einfluß geistig unabhängiger Menschen.... Sie sehen die Juden als ein nicht anzupassendes Element, das nicht zur kritiklosen Übernahme von Dogmen gezwungen werden kann und deshalb - solange es überhaupt existiert - ihre Autorität bedroht, da es hartnäckig die öffentliche Aufklärung der Massen fordert.“[^7]

Wie Einstein betont, fürchten Despoten nichts mehr als die Aufklärung der Menschen, denn sie wissen, daß sie dann nicht mehr tun und lassen können, was sie wollen. Folglich versuchen die Machtausübenden jegliche Religion oder Bewegung auszulöschen, die zum Ziel hat die Menschen aufzuwecken und sie unabhängig zu machen. Dieses Muster unverändert

23.

Als hatte er darauf gewartet, entfesselte Hitler, sobald er an die Macht kam, einen Sturm gewalttätiger Verfolgungen gegen die Juden. Natürlich riefen diese Unterdrückungsmaßnahmen eine heftige internationale Ablehnung hervor, die schließlich zum Boykott deutscher Güter führte. Sofort erklärten die Nazionalsozialisten die Juden dafür verantwortlich und riefen als Strafe zum Boykott jüdischer Produkte und Dienste in ganz Deutschland auf. Anti-jüdische Gesetzesentwürfe Wurden einer nach dem anderen in das Gesetz aufgenommen. Mit den Juden als Zielscheibe für die Unterdrückung verdrehten die Nationalsozialisten das Recht, traten die demokratische Verfassung des Landes mit Füßen und produzierten eine im hohen Maße sträfliche Gesetzgebung. In den ersten fünf Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft wurden mehr als tausend solcher Gesetze verabschiedet.

Ganz offen beschnitten die Nationalsozialisten die Rechte jüdischer Menschen auf ihr Leben als deutsche Bürger, sogar als menschliche Wesen überhaupt, indem sie ihnen ihre Freiheit entzogen. Sie beabsichtigten außerdem, die Juden ihres Vermögens zu berauben und ihre finanzielle Macht in Deutschland zu zerstören. 1938 zwang die Gesetzgebung die Juden, ihren Vermögensstand und ihren Besitz registrieren zu lassen. Daraufhin begannen die Nationalsozialisten, systematisch und erbarmungslos jüdisches Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen.

Wer war es, der in Wirklichkeit vom lebensnotwendigen Blut der Menschen lebte? Die Antwort lag auf der Hand.

Die Nürnberger Gesetze von 1935 gehörten zu den berüchtigtsten Geschützen anti-jüdischer Gesetzgebung, die je eingeführt wurden, und sollten das Schicksal der Juden in Deutschland entscheidend beeinflussen. Durch diese Gesetze wurden alle Juden rechtlich als Mitglieder einer getrennten, dem deutschen Volk unterlegenen Rasse eingestuft; die Juden erhielten den Status von Bürgern zweiter Klasse und die Bürgerrechte wurden ihnen entzogen. Die Nationalsozialisten definierten als Juden damals jeden, der einen Großelternteil jüdischen Glaubens besaß. Auch dies zeigt deutlich die Lüge in der Behauptung der Nazionalsozialisten, die Juden seien eine Rasse. Im Grunde beinhaltete die Judenverfolgung durch die Nazionalsozialisten die legale Diskriminierung deutscher Bürger, die an eine bestimmte Religion glaubten. Die Ermordung eines deutschen Gesandten durch einen jüdischen Jugendlichen im November 1938 löste eine ungeheure Welle der Gewalt gegen Juden in ganz Deutschland aus. Im Schutze der Dunkelheit wurden jüdische Geschäfte und Synagogen zerstört und fast einhundert Juden getötet. Weitere zwanzig- bis dreißigtausend wurden verhaftet und in Konzentrationslager geschickt. Die Masse zerbrochenen Glases, die dieser Sturm der Zerstörung jüdischen Eigentums zurückließ, gab diesem Vorfall den Namen “Kristallnacht“. Sie war eines der bei Weitem schlimmsten Progrome die gegen das jüdische Volk verübt wurden.

All diese Ereignisse fanden vor dem 1. September 1939 statt, dem Tag, an dem Deutschland mit seinem plötzlichen Einmarsch in Polen den Zweiten Weltkrieg entzündete.

24.

Nachdem er Hitlers Verfolgung der Juden beschrieben hatte, fügte Shin‘ichi entschlossen hinzu: “Wir dürfen niemals vergessen, daß Hitler, während er sich den Anschein gab, die Demokratie zu verteidigen, heimtückisch die öffentliche Meinung aufrührte und mißbrauchte, um seine persönlichen. Ziele zu erreichen. Die Menschen schluckten die Propaganda und versäumten, die wahre Natur dieses Diktators zu erkennen, der die dämonische Seite der Macht verkörperte. Die Folge war, daß die Weimarer Verfassung Deutschlands, die als eine der demokratischsten auf der Welt angesehen war, nur auf dem Papier existierte. Diese Zerrüttung der Demokratie erteilt uns eine wichtige historische Lehre.“

Aufgebracht murmelte Kiyoshi Jujo, “Gab es denn keinen Widerstand gegen diese Greueltaten ?“ “Natürlich gab es Widerstand. Aber als endlich eine ernsthafte Opposition entstand, waren die Nazionalsozialisten bereits zu einer gewaltigen Macht geworden, die ganz Deutschland in der Hand hatte. Da war es allerdings zu spät, eine bedeutende Opposition aufzustellen. Die meisten Deutschen sahen stillschweigend zu, wie die Nazionalsozialisten die Juden verfolgten. Ihnen blieb kaum etwas übrig, als Gleichgültigkeit vorzutäuschen. Tatsächlich aber duldeten sie damit die verdrehte Logik der Nationalsozialisten.

“Herr Makiguchi sagte oft, ‘Es zu versäumen, Gutes zu tun, hat die gleiche Wirkung, wie etwas Schlechtes zu tun.‘ Im Angesicht schweren Übels stillzuschweigen ist in Wirklichkeit das gleiche, wie an diesem Übel mitzuwirken.“

Während z.B. die christlichen Kirchen in Deutschland zum Schluß eine starke Widerstandsbewegung gegen die Nazionalsozialisten in Gang setzten, waren es zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft gerade die Kirchen, die kooperierten.

Martin Niemöller[^8] war eine deutscher evangelischer Pastor, der zu einem zentralen Anführer im Widerstand gegen die Nationalsozialisten wurde. Ein deutscher Intellektueller erinnert sich an die Reaktion des Kirchenmannes auf die wachsende Tyrannei der Nationalsozialisten wie folgt:

“Er [Niemöller]...... sagte, als die Nationalsozialisten die Kommunisten angriffen, habe er sich nicht ganz wohl in seiner Haut gefühlt, aber schließlich war er kein Kommunist, und so unternahm er nichts; dann griffen sie die Sozialisten an, und er fühlte sich noch etwas weniger wohl in seiner Haut, aber schließlich war er kein Sozialist, und er unternahm nichts; dann waren die Schulen, die Presse, die Juden und so weiter an der Reihe, und er fühlte sich immer unwohler, aber er unternahm immer noch nichts. Und dann griffen sie die Kirche an, und er war ein Mann der Kirche, und er unternahm etwas - aber da war es zu spät.“[^9]

Diejenigen, die diese tragische Zeit überlebt hatten, spürten mit tiefer Bitterkeit die Wahrheit der Sprichwörter: “Wehret den Anfängen“ und “Bedenke das Ende“.[^10]

25.

Das Wasser des Rheins färbte sich von golden in ein tiefes Violett und begann, die Lichter der Stadt zu reflektieren. Mit sanfter Stimme fuhr Shin‘ichi fort: “Für die Juden, die von Anfang an das Ziel der Unterdrückung durch die Nationalsozialisten waren, muß die wahre Natur der Nationalsozialisten kristallklar gewesen sein. Für den durchschnittlichen Deutschen aber waren diese Verbrechen wie ein Feuer, das am anderen Ufer des Flusses brennt: Solange keine Funken ihre eigene Seite erreichten, schien keine Gefahr zu drohen. Eine solche Einstellung und Wahrnehmung der Ereignisse ermöglichte die Eskalation des Bösen.“

Shoichi Tanida schien von dem, was er gehört hatte, zutiefst erschüttert; er sagte: “Anscheinend sind die Menschen unfähig zu erkennen, daß die Verfolgung, die anderen widerfährt, sich irgendwann auch gegen sie selbst richten kann.“

“Das mag stimmen“, pflichtete Shin‘ichi ihm bei. “Aber im selben Maße, wie Voreingenommenheit und Feindseligkeit gegen die Juden wuchsen, wuchs auch die Kluft zwischen den Juden und den durchschnittlichen Deutschen in der Wahrnehmung und dem Bewußtsein dessen, was vor sich ging. Das machte es den Nationalsozialisten leichter und bequemer, die Juden zu kontrollieren und ihre Verfolgung durchzuführen.

Das Problem lag gewissermaßen im Bewußtsein der Menschen selbst. Sie machten sich die Gefahr die von einer tyrannischen nationalen Befehlsgewalt aufgeht, nicht bewußt, und das war einer der Gründe, warum diese Gewaltherrschaft Fuß fassen konnte.

Eines der Ziele der Soka Gakkai ist es, ein dichtes Netz aufrichtiger Verständigung und Aufmerksamkeit unter gewöhnlichen Menschen zu schaffen, so dies nie wieder passiert.“ Tanida nickte und sagte: “Was Sie gerade gesagt haben, berührt einen sehr wichtigen Punkt, finde ich. Obwohl Japan in der Gegenwart eine gute Verfassung hat, die auf den Idealen von Frieden und Demokratie beruht, ist es doch möglich, daß auch sie in der Zukunft mit Füßen getreten und untergraben wird.“

“Genau“, antwortete Shin‘ichi. “Selbst die Meiji-Verfassung von 1889 sicherte einen gewissen Grad religiöser Freiheit, wenn auch mit bestimmten Bedingungen verknüpft. Warum ist die Religionsfreiheit dann in der jüngeren Vergangenheit aus Japan verschwunden? Die Regierung behauptete, Shinto sei keine Religion und stellte den Shintoismus unter den Schutz des Staates, mit dem Effekt, daß der Shintoismus zur Staatsreligion wurde. Schließlich beschränkte die Regierung mit Hilfe des repressiven ‘Gesetzes zur Erhaltung des Friedens‘ die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung, und stellte dann durch das ‘Gesetz für Religiöse Vereinigungen‘ Vorschriften zur Kontrolle der Religionen auf. Noch ehe sich das japanische Volk dessen bewußt wurde, sah es sich plötzlich nicht nur seiner religiösen Freiheit, sondern aller Freiheit beraubt. Es war wie ein kleines Rinnsal, das den Zusammenbruch eines Dammes herbeiführt, dessen gesamte Struktur von den gewaltigen Wassermassen weggeschwemmt wird.

Wir können die Möglichkeit nicht verleugnen, daß eine solche Situation in der Zukunft wieder entsteht. Böse neigt dazu, sein unbarmherziges Wesen zunächst zu verbergen und sich a1s Güte und Gerechtigkeit zu präsentieren. Darum müssen wir ohne zu zögern Stellung beziehen, sobald wir ein Unrecht bemerken. Dies ist etwas, was wir Japaner auch niemals vergessen dürfen.“

26.

Ein kühler Wind blies über den Rhein, als die Gruppe nach Sonnenuntergang einen Spaziergang am Flußufer machte.

“Hitlers Barbarei hinterließ am Ende Millionen toter Menschen und unglaubliche Verwüstung“, bemerkte Shin‘ichi. “Der Gedanke an all jene, die ihr Leben verloren, schmerzt mich zutiefst. Aber wenn die Juden, die das furchtbarste Leiden von allen erfuhren, nicht glücklich werden können, wo gibt es dann Gerechtigkeit in dieser Welt?“ Später aß die Gruppe in einem Restaurant am Flußufer zu Abend. Dort erkundigte sich Shin‘ichi bei ihrem japanischen Reiseführer, der sie am nächsten Tag nach Berlin begleiten sollte, nach der Situation in dieser deutschen Stadt.

“Sind Sie sicher, daß sie nach Berlin fahren wollen, Herr Yamamoto?“ fragte der Mann nachdrücklich und mit ernsthafter Besorgnis.

“Ja“, antwortete Shin‘ichi. “Es ist eines meiner Hauptziele auf meiner Reise durch Europa.“ Der Reiseführer beugte sich vor und sagte: “Ehrlich gesagt, ich würde es nicht empfehlen. Es ist im Moment zu gefährlich. Die Zeitungen berichten fast täglich von Schießereien an der Grenze zwischen Ost- und Westberlin. Menschen, die in den Westen fliehen wollen, werden von ostdeutschen Soldaten erschossen. Auch das Gebiet rundherum wird streng bewacht; wenn man nur ein Foto ohne polizeiliche Genehmigung macht, kann das üble Folgen haben. Ich möchte Sie lieber nicht an einen solchen Ort bringen. Das ist meine ehrliche Meinung.“

Shin‘ichi lächelte, aber antwortete leidenschaftlich: “Ich verstehe Ihren Standpunkt, und ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen. Aber als Buddhist ist es meine Aufgabe, den Leidenden zu helfen und am Entstehen eines dauerhaften Friedens in dieser Welt mitzuwirken. Ich will vor der Berliner Mauer stehen und die tragische Wirklichkeit eines geteilten Deutschlands unauslöschlich in mein Leben einprägen. Ich werden von ganzem Herzen nicht nur für die Wiedervereinigung Deutschlands beten, sondern auch für ein Ende des Kalten Krieges, der mittlerweile die ganze Welt einschließt. Mit diesem Geist will ich meine Reise, und die Reise der Soka Gakkai, für den Frieden antreten. Ich weiß, daß ich Sie einer Menge Unannehmlichkeiten aussetzen werde, aber ich hoffe, Sie verstehen und akzeptieren meine Bitte.“ Damit verbeugte er sich tief vor dem Reiseführer, der ihn erstaunt ansah.

“Ich verstehe Sie“, sagte der Mann. “Ich werde Sie dorthin bringen.“

Shin‘ichi sah sich unter den Mitgliedern der Reisegruppe um und sagte: “Lassen Sie uns morgen den Vorhang zu einem neuen Abschnitt in unserem Kampf für den Weltfrieden öffnen!“

27.

Am folgenden Tag, dem 8. Oktober, um 11.25 Uhr morgens verließ das Flugzeug der Reisegruppe Düsseldorf mit dem Ziel Westberlin. Während des Fluges sann Shin‘ichi über die Geschichte nach, die zur Teilung Deutschlands und seiner früheren Hauptstadt Berlin geführt hatte.

Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg fiel Deutschland unter die Aufsicht der vier Alliierten Mächte: Sowjetunion, Vereinigte Staaten, Großbritannien und Frankreich. Die Sowjetunion besetzte die Ostzone, die fast die Hälfte Deutschlands umfaßte, Großbritannien das nordwestliche Gebiet, die Vereinigten Staaten den Südwesten und Frankreich den mittleren Westen. Deutschland war also in vier verschiedenen Regierungen aufgeteilt.

Berlin, die deutsche Hauptstadt, wurde ebenfalls in vier Sektoren aufgeteilt, ungefähr auf die gleiche Art wie Deutschland selbst. Der östliche Sektor der Stadt war von der Sowjetunion besetzt, während die westliche Hälfte in drei Teile geteilt und, im Norden angefangen, jeweils von Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten verwaltet wurde. Ein gemeinsamer Verwaltungsrat, der sich aus militärischen Befehlshabern der vier Besatzungsmächte zusammensetzte, war für Verwaltungsangelegenheiten zuständig, die ganz Berlin betrafen.

Da Berlin sich praktisch im Mittelpunkt des ostdeutschen Gebiets befand, sahen die Sowjets sich einer Enklave in der Sowjetischen Zone gegenüber, die von den drei Westmächten regiert und von den Truppen dieser Mächte besetzt war. Dieser Umstand erschwerte die Probleme im Nachkriegsdeutschland. Die Sowjets führten in dem von ihnen verwalteten Teil Deutschlands Landreformen durch und verstaatlichten große Betriebe in Überleitung zum Kommunismus. Währenddessen war in den von den Alliierten verwalteten Gebieten die wirtschaftliche Wiederbelebung durch den Marshall-Plan im Gange, und es gab eine Bewegung zur Vereinigung der Zonen. Diese Unterschiede im Vorgehen der Besatzungsmächte führten nur zur Verbreiterung der Kluft zwischen Ost- und Westzone und beschleunigten die Entwicklung Deutschlands hin zu einer Spaltung von Westen und Osten. Das Muster einer Welt, geteilt in rivalisierende Blöcke im Westen und im Osten, wurde nun genau im Beispiel der Situation Deutschlands widergespiegelt.

Im März 1948 kamen die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich zusammen mit den Benelux-Ländern - Belgien, Niederlande und Luxemburg-überein, die westdeutschen Gebiete als volles Mitglied in das westliche Bündnis aufzunehmen. Die drei Westzonen verfolgten das Ziel der wirtschaftlichen Vereinigung und führten in Juni die Deutsche Mark als ihre neue gemeinsame Währung ein. Die Sowjetunion reagierte mit eigenen Währungsreformen und dann mit einer Blockade, die alle Straßen, Schienen- und Wasserwege, die vom Westen Deutschlands durch die Sowjetisch besetzte Zone nach Berlin führten, versperrte. Diese Blockade schnitt die Hauptversorgungswege der Westmächte für Nahrungsmittel und andere lebensnotwendige Güter nach Berlin ab.

28.

Eine dunkle Wolke der Verzweiflung hing über Westberlin, wo die Spannungen des Kalten Krieges zwischen Ost und West nahe daran schienen, sich in einem “heißen Krieg“ zu entladen. Da alle Landwege nach Berlin durch die Sowjetische Blockade versperrt waren, richteten die Alliierten eine feste Luftbrücke für Nahrung und andere wesentliche Versorgungsgüter nach Westberlin ein. Die Sowjetunion widerrief ihre Blockade, die nun wirkungslos geworden war, aber das verringerte die Angst der Westberliner nicht.

Es war der aufrichtige Wunsch der Menschen, ihr Heimatland als ein vereinigtes Deutschland wiederaufzubauen. Aber das sollte nicht der Fall sein.

1949 wurde Deutschland offiziell in die Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) und die Deutsche Demokratische Republik (Ostdeutschland) aufgeteilt. Ostberlin wurde die Hauptstadt der DDR.

In Berlin war es allerdings immer noch möglich, verhältnismäßig frei zwischen dem West- und dem Ostteil der Stadt zu reisen. Manche Einwohner Ostberlins arbeiteten in Westberlin und umgekehrt. Aus diesem Grund sahen die westlichen Alliierten Westberlin als wichtiges Fenster, durch das den Bürgern des kommunistischen Ostblocks die liberale Demokratie propagiert werden konnte. Für die Sowjetunion aber war das eine unhaltbare Lage. Sie hatte Ostdeutschland als sozialistischen Staat gegründet, aber hier, mitten in Sowjetisch regiertem Gebiet, gab es einen Schaukasten der kapitalistischen Demokratie und, noch viel schlimmer, einen Stützpunkt für westlich Truppen. Außerdem flohen immer mehr Menschen aus Ostdeutschland in den Westen. Zwischen 2,5 und 3,5 Millionen Menschen verließen Ostdeutschland von 1949 bis 1961, um in den Westen zu gehen. Fast die Hälfte von ihnen waren junge Leute unter 25 Jahren, was zu einem ernsthaften Mangel an Arbeitskräften in Ostdeutschland führte. Überdies flohen die meisten über Westberlin, wo sie bei einer Regierungsstelle um Asyl ersuchten und nach Westdeutschland gebracht wurden.

Im November 1958 stellte der Sowjetische Premierminister Nikita Chruschtschow dem Westen das Ultimatum, auf die Regierungsmacht in Berlin zu verzichten und binnen sechs Monaten alle militärischen Kräfte abzuziehen, um Berlin zu einer entmilitarisierten freien Stadt zu machen. Das letztendliche Ziel aber, das die Alliierten dahinter vermuteten, war der Anschluß Westberlins an Ostdeutschland, sobald die Alliierten Kräfte ihre Streitkräfte abgezogen haben würden.

29.

Im Juni trafen der Sowjetische Premierminister Chruschtschow und der U.S.-Präsident John F. Kennedy zu einer Konferenz in Wien zusammen. Chruschtschow forderte erneut, Berlin solle zu einer freien, entmilitarisierten Stadt werden. Letzten Endes sorgten grundlegende Unterschiede in der Position beider Staatsmänner dafür, daß es in der Frage Berlins keinen Fortschritt gab. In einer Rede, die Kennedy am 25. Juli hielt, forderte er die Erhaltung der Besatzungsrechte der drei Westmächte in Berlin und erklärte seine Absicht, Westberlin gegen die Bedrohung durch die Sowjets mit allen Mitteln zu verteidigen, denn, so erklärte er, das Gebiet sei für die westlichen Alliierten von viel größerer Bedeutung als ein bloßes Schaufenster der Freiheit und ein Fluchtweg der Ostdeutschen vor der kommunistischen Regierung. Auf einer Zusammenkunft in Moskau am 3. August, etwas über eine Woche später, beschlossen die Anführer der Länder des Warschauer Paktes, die Grenze zwischen Ost- und Westberlin zu schließen, genauso, wie sie die Landesgrenzen geschlossen hatten. Das öffnete den Weg für den Bau der Berliner Mauer.

Am Sonntag, dem 13. August 1961 versammelten sich noch vor Morgengrauen Scharen von Truppen der ostdeutschen Armee und der Polizei in einer Kolonne von Panzern, bewaffneten Autos und LKWs an der Ostseite der Grenze zwischen den beiden Sektoren Berlins. Im Schutze der Dunkelheit begannen sie rasch mit der Errichtung eines Stacheldrahtzaunes entlang der Grenze. Sie blockierten auch alle U-Bahn-Linien, Zugstrecken und Straßen, die Ostberlin mit dem Westsektor verbanden.

Ost- und Westberlin waren nun vollkommen getrennt. U-Bahn-Züge konnten nur bis zur Grenze fahren; Autos und Fußgänger durften die Grenzen nur an 13 Übergängen passieren, an denen Überwachungsstellen eingerichtet worden waren, darunter das Brandenburger Tor. Von den Einwohnern Ostdeutschlands oder Ostberlins wurden jetzt ein Visum der DDR-Regierung verlangt, und Ostberlinern war es plötzlich untersagt, im Westsektor zu arbeiten.

Die Westberliner durften den Ostsektor immer noch betreten, wenn sie am Grenzübergang ihren Personalausweis vorzeigten, aber Westdeutsche, die nicht in Westberlin wohnten und nach Ostberlin fahren wollten, mußten nun ein Visum der ostdeutschen Regierung beantragen, das, wenn es gewährt wurde, nur einen Tag gültig war.

Die schlimmste, furchterregendste Seite der Macht hatte ihr häßliches Haupt erhoben. Es herrschten Arroganz, Heuchelei und Extremismus der totalitären Staatsführung.

Die Einwohner Berlins waren schockiert, verwirrt und empört als sie erfuhren, daß die Grenze zwischen dem Sowjet- und dem Westsektor verschlossen worden war. Etwa 5.000 Westberliner versammelten sich aus Protest vor dem Brandenburger Tor, und ihre Empörung war so heftig, daß sie von der Polizei Westberlins eingesperrt werden mußten. Auch in der Straßen auf der Ostseite der Grenze fand sich eine wütende Menge zusammen, die lautstark protestierte, und das Ergebnis waren viele Verhaftungen.

30.

Man hatte über Nacht einen unverrückbaren Keil zwischen die Bevölkerung Berlins getrieben, die lange als Nachbarn zusammen gelebt hatte. Die Staatsmacht hatte auf barbarische Weise wertvolle menschliche Bande zerrissen, denn die Mauer trennte nun plötzlich Freunde, Liebende und Familien. Shin‘ichi empfand einen tiefen Schmerz, als er an das Leid dachte, das diese erzwungene Teilung für die Deutschen bedeutet haben mußte.

Das heitere Wetter am Flughafen in Düsseldorf machte einer dichten Wolkendecke Platz, als das Flugzeug sich dem Osten Deutschlands näherte. Shin‘ichi schien es, als spiegelten die Wolken das Leid und den Schmerz der Menschen in Berlin wider.

Das Flugzeug landete kurz vor 10.00 Uhr am Westberliner Flughafen Tempelhof. Es regnete, als sie zu ihrem Hotel fuhren. Nachdem sie sich kurz getroffen hatten, um einen Zeitplan zu vereinbaren, machten sie eine Stadtrundfahrt.

Der Himmel war düster und es nieselte, als sie eine Einkaufsstraße erreichten, die die Berliner als Ku‘damm kennen. Er summte vor Leben und Kraft, da Scharen von Menschen fröhlich einkauften und herumstöberten. Ein kleines Stück weiter fuhren Shin‘ichi und seine Reisegruppe an einer neoklassizistischen Kirche vorbei, deren Turm teilweise in Trümmern lag. Es war die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, die im Bombardement durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg beschädigt worden war und in ihrem damaligen Zustand als Mahnmal des Schreckens und der Zerstörungskraft des Krieges erhalten wurde.

Wenig später kam die Reisegruppe an eine breite Hauptverkehrsstraße namens “Straße des 17. Juni“, auf deren gegenüberliegender Seite sie ein steinernes Tor im Stil eines altgriechischen Tempels sahen. Es war das Brandenburger Tor, das über der Grenze zwischen Ost- und Westberlin emporragte. Ober auf dem Tor konnten sie schemenhaft die Rückseite einer Statue erkennen, die die Göttin des Friedens auf einem römischen Triumphwagen darstellte, der von vier Pferden gezogen wurde. Das Brandenburger Tor, das Ende des 18. Jahrhunderts als Tor des Friedens erbaut worden war, war nun zu einem Symbol der Teilung durch den Kalten Krieg geworden.

Als sie bis auf vier- oder fünfhundert Meter an das Tor herangefahren waren, kamen sie an eine Straßensperre. Ein feiner Nieselregen umwirbelte sie, obwohl der Himmel aufzuklaren begann. Sie erfuhren, daß es Fußgängern nicht erlaubt war, weiter als bis zu diesem Punkt zu gehen, aber daß ausländische Besucher sich dem Tor bis auf zweihundert Meter nähern durften, aber nur, wenn sie mit dem Auto fuhren und im Fahrzeug sitzen blieben.

31.

Hier an der Grenze herrschte keine friedliche Stimmung. Bewaffnete britische Fahrzeuge, die mit Maschinengewehren ausgerüstet waren, donnerten die Straße auf und ab, und westdeutsche Polizisten standen an bestimmten Punkten Wache. Jenseits des Brandenburger Tors konnten Shin‘ichi und die anderen die Umrisse ostdeutscher Soldaten ausmachen. Eine gespannte Atmosphäre beherrschte den Ort. Die Touristen, die dort versammelt waren, senkten die Stimme und sprachen und nur im Flüsterton miteinander.

Shin‘ichi und seine Begleiter beschlossen, so nah wie möglich mit dem Auto an das Tor heranzufahren. Zur Linken des Tors stand ein Monument, das an den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg erinnerte, und daneben war der Panzer ausgestellt der den Berichten nach als erster in Berlin eingefahren war. Die Tatsache, daß dieses Denkmal des sowjetischen Sieges im Westen lag, unterstrich nur die verworrene Lage, in der sich die geteilte Stadt befand. In einem nahe gelegenen Wäldchen waren außerdem die Zelte des britischen Armeelagers zu sehen.

Als sie näher an das Brandenburger Tor herankamen, fanden sie sich plötzlich von Zäunen und Stacheldraht umgeben. Die Atmosphäre wurde immer angespannter. Von dort aus konnten sie deutlich die Umrisse waffentragender ostdeutscher Soldaten auf der anderen Seite des Tors erkennen. Ihr Reiseführer zeigte auf ein Zeichen auf der Straße, das auf Deutsch verfaßt war, und sagte: “Dort steht:‘Achtung! Sie verlassen nun Westberlin‘.“

In der Zeit davor hatte kein Einwohner der einen oder der anderen Seite der Stadt diesem Schild eine besondere Bedeutung beigemessen‘ als er die Grenze auf dem Hin - oder Rückweg überschritt. Aber jetzt war die Warnung vor Gefahr Wirklichkeit geworden. Shin‘ichi wünschte, er könnte das Auto verlassen und direkt unter das Brandenburger Tor treten. Aber das war nicht erlaubt.

Vom Brandenburger Tor aus fuhr die Gruppe direkt in die Bernauer Straße, die im französischen Verwaltungsbereich Westberlins lag und an der Grenze entlang verlief. Die Gebäude auf der einen Straßenseite gehörten zu Ostberlin, aber der Bürgersteig direkt davor gehörte zu Westberlin. Die Fenster der oberen Stockwerke dieser Gebäude waren wie vorher geblieben, aber die Haustüren und Fenster der ersten und zweiten Etage waren mit Ziegelsteinen zugemauert worden. Vor einer dieser vermauerten Hauseingänge lag ein großer Blumenstrauß. Shin‘ichi erfuhr von ihrem Fahrer, daß dort eine alte Frau gestorben war, nachdem sie aus einem Fenster im vierten Stock gesprungen war, um nach Westberlin zu fliehen. Etwa hundert Meter weiter sahen sie noch einen Blumenstrauß auf der Straße liegen. Fünf oder sechs Menschen standen um ihn herum, den Blick auf die Häuser der Ostseite Berlins gerichtet.

32.

Der Fahrer hielt den Wagen an und berichtete den Reisenden auf Deutsch: “Vor einigen Tagen versuchte ein Ostberliner nach Westberlin zu fliehen; er wehrte die ostdeutschen Polizisten auf dem Dach dieses Hauses ab und sprang. Die Polizei aus Westberlin eilte ihm zur Hilfe, aber er war schon tot. Seit die Mauer errichtet wurde, sind solche Vorfälle erschreckend häufig passiert

Eine Frau hob, als die Wache ihr den Rücken zuwandte, ihr Baby über den Stacheldrahtzaun und reichte es ihrem Mann in Westberlin. Obgleich sie nun von ihrem Mann und ihrem Kind getrennt ist und in Ostberlin bleiben muß, ist sie eine von denen, die mehr Glück hatten - wenigstens ihr Kind konnte sie unverletzt und sicher in den Westen bringen.

Eine andere Frau floh aus einem Fenster im dritten Stock, indem sie an einem Seil hinunterkletterte. Als sie den Boden erreichte, waren ihre Hände und Füße abgeschürft und bluteten, weil sie sie auf dem Weg nach unten an der Hauswand aufgeschrammt hatte. Und ein Mann zog sich auf der Flucht eine schwere Knöchelstauchung zu. Aber beide hatten Glück, denn sie wurden nicht erschossen.

Sehen Sie sich den Pfeiler dort an der Ecke an, Sie werden ein Einschußloch finden. Menschen, die in den Westen zu fliehen versuchen, werden abgeschossen wie Vieh.“

Shin‘ichis Herz zog sich vor Schmerz zusammen, während er dem Fahrer mit Hilfe des Dolmetschers zuhörte.

Der Fahrer fuhr fort: „Zugegeben, Deutschland hat den Krieg verloren und wir sind ein besiegtes Land, aber die Deutschen - Familien und Verwandte

„Haben Sie Verwandte in Ostberlin ?“ fragte Shin‘ichi.

„Ich habe dort eine Tante. Mittlerweile ist sie schon etwas älter. Sie ist meine Lieblingstante...“, antwortete er bewegt. Der Fahrer wischte die Tränen aus seinen Augen, nahm eine Zigarette aus seiner Jackentasche und zündete sie an.

Shin‘ichi und die anderen beschlossen, aus dem Auto zu steigen und sich umzusehen. Wie der Fahrer gesagt hatte, im Betonpfeiler an der Straßenecke war ein Einschußloch, mit weißer Kreide gekennzeichnet, deutlich zu sehen. Ein Polizist, der in der Nähe war, zeigte es ihnen. Als Shin‘ichi zu dein Einschußloch aufsah, ergriff ihn ein Gefühl, als sei ihm selbst in die Brust geschossen worden. “Wie unmenschlich!“ murmelte er zu sich selbst.

33.

Nachdem sie ein kurzes Stück gelaufen waren, kamen sie an eine Backsteinmauer, über die man nach Ostberlin schauen konnte. Etwa 20 oder 34 Menschen hatten sich dort versammelt. Ab und zu winkten sie in Richtung des Ostsektors. Als Shin‘ichi ihren Blick verfolgte, konnte er in einiger Entfernung Menschen an den Fenstern ihrer Häuser sehen. Sie mußten Freunde oder Verwandte derer gewesen sein, die sich dort versammelt hatte. Einen ‘Moment lang winkten die entfernten Gestalten mit aller Kraft zurück, im nächsten Moment verschwanden sie und waren nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie Angst, von den ostdeutschen Wachen gesehen zu werden. Wurden sie erwischt, so konnten sie angeklagt werden, Informationen nach Westberlin signalisiert zu haben. Die Wirklichkeit der Teilung Deutschlands hinterließ einen tiefen Eindruck bei Shin‘ichi und seinen Begleitern und raubte ihnen die Worte.

An einem Grenzübergang in der Nähe der Bernauer Straße wurden sie Zeugen, wie einige Westberliner einen ostdeutschen Polizisten boten, einer alten Frau, die einsam jenseits der Grenze stand, eine Nachricht zu überbringen. Der junge Polizist erfüllte ihre Bitte und gab der alten Frau die Nachricht.

Sie schaute zum Westen hinüber und rückte immer wieder. Dann ging ein ostdeutscher Soldat, der in der Nähe gestanden und diese Szene beobachtet hatte, zu der alten Frau hinüber send befahl ihr, zu gehen, während er sie wegscheuchte, als wäre sie ein Hund. Die Westberliner winkten mit Händen und Schirmen noch lange Zeit - bis die alte Frau nicht mehr zu sehen war. Es war eine traurige und herzzereißende Szene.

Danach fuhren Shin‘ichi und seine Begleiter mit den, Auto an der Grenze entlang. Die Mauer aus Backstein und Beton zog sich unendlich hin. Hier und da standen Menschen davor. Die Mauer, die ihnen den Weg versperrte, war nur drei oder vier Meter hoch; sie hätte ziemlich leicht eingerissen und weggeschafft werden können, Zugleich aber raubte diese Mauer den Menschen die Freiheit, riß menschliche Bindungen, Familien und Mitbürger auseinander. Wie entsetzlich ist das Karma der Menschen! „Wofür werden die Menschen geboren?“ klagte Shin‘ichi leise, und starke Empörung loderte in ihm auf. Er dachte: ‘Den Menschen ist das Recht verwehrt, miteinander zu leben und sich auszutauschen; dies zu tun, wird als strafbare Handlung angesehen. Das kommt einem Befehl an die Menschen gleich, nicht menschlich zu sein. Niemand hat dieses Recht. Aber die Mauer wurde trotzdem errichtet - und niemand anders als Menschen haben sie gebaut. Wir mögen vielleicht von einem Ost-West-Konflikt sprechen, letztendlich aber ist sie das Ergebnis der teuflischen Natur der Macht, die in den Heizen der Menschen entsteht lind das Verhängnis einer solchen Teilung ist nicht nur über Deutschland gekommen, sondern auch über die koreanische Halbinsel und Vietnam. Und damit hört es noch nicht auf. Der Holocaust und der Krieg in all seinen Formen genau wie die Atomwaffen - sie alle sind Produkte der üblen Natur der Macht. ‘

34.

Shin‘ ichi erinnerte sich lebhaft an die Erklärung zur Vernichtung Atomarer Waffen, die einer der bedeutendsten Grundsätze des spirituellen Erbes Josei Todas war.

„Der Geist dieser Erklärung“, so überlegte er im Stillen, „war es, ‘dem teuflischen Wesen, das im menschlichen Leben vorhanden ist, die Krallen auszureißen‘. Die einzige Kraft, die dieses Übel besiegen kann, ist die Buddhanatur, die dem Leben eines jeden Menschen innewohnt. Die Buddhanatur ist wie eine unerschöpfliche Quelle des Mitgefühls; sie ist die treibende Kraft für die Erschaffung des Friedens, indem sie von der Zerstörung zum Aufbau und von der Teilung zur Vereinigung führt. Kosen-rufu kann man als ein Unternehmen bezeichnen, das die Sonne dieser Buddhaschaft in den Herzen der Menschen aufgehen läßt, die Dunkelheit der teuflischen Natur zerstreut und Einigkeit unter den Menschen herstellt.“

Shin‘ichi und seine Reisegruppe fahren zu dem Abschnitt der Mauer zurück, von dem aus sie das Brandenburger Tor sehen konnten. Noch einmal stieg Shin‘ichi aus dem Wagen.\ Der Regen hatte aufgehört, der Himmel hatte jetzt die wundervollen Farben des Sonnenuntergangs angenommen. Es war wirklich herrlich. Die Sonne erstrahlte in liefern Rot, und ein goldener Farbton erhellte den Himmel. Ein Moment der Erholung und der Ruhe kam über die Menschen dieser spannungsgeladenen und geplagten Stadt. Als die Reisegruppe so dastand und den Zauber des Sonnenuntergangs in sich aufnahm, sagte der Fahrer, der sich zu ihnen gesellt haue, mit einem Lächeln: “Wenn wir einen so wunderschönen Sonnenuntergang haben, sagen wir, die Engel sind vom Himmel herabgestiegen.“

Die nahen Türme und Häuser, die gesperrte Straße und das Brandenburger Tor - alles war in das strahlende, goldene Licht der untergehenden Sonne getaucht. “Sobald die Sonne aufgeht und die Wolken sich heben“, dacht Shin‘ichi still, “wird alles von einem goldenen Licht erfüllt. Schiene die Sonne des Lebens in den Herzen der Menschen, würde die Welt zweifellos in das Licht des Friedens getaucht und ein prächtiger Regenbogen der Freundschaft würde über der Menschheit erscheinen.“

Er sah zum Brandenburger Tor auf und sagte mit starker Überzeugung zu seinen Begleitern: “Ich bin sicher, daß diese Mauer in dreißig Jahren nicht mehr steht.“\ Er machte nicht einfach eine Vorhersage oder brachte seine Wunschvorstellung zum Ausdruck. Er äußerte diese Worte auf der Basis seines unerschütterlichen Vertrauens, daß das Bewußtsein, die Weisheit und der Mut der Menschen, die sich der Verwirklichung des Friedens widmeten, siegen würden. Es war auch ein Ausdruck seiner festen Entschlossenheit, der Verwirklichung des Weltfriedens sein Leben zu widmen, notfalls sogar dafür zu sterben. Der Buddhismus lehrt, daß der tiefe innere Entschluß eines Menschen das gesamte Universum durchdringen kann.

In seinem Herzen versprach er: “Ich werde dafür kämpfen, daß ich den Fall dieser Mauer sehe. Ich werde für den Frieden kämpfen. Dieser Kampf wird mit sich bringen, daß der gleiche Funke oder die gleiche Entschlossenheit sich in anderen entzündet und daß der Dialog fortgesetzt wird, um die Menschen zu ihrer inneren Menschlichkeit zu erwecken. Ich werde dieser Bemühung mein Leben widmen.“

Zum Brandenburger Tor gewandt chantete Shin‘ichi dreimal Daimoku: “Nam-myoho-renge-kyo ...“. Erfüllt von seinem tiefen Versprechen und seiner Entschlossenheit erklang seine Stimme im Abendrot über Berlin.

Neue Menschliche Revolution - Den Weg bereiten

1.

Die Sonne stieg am fernen Horizont empor. Doch vor ihnen lag ein kaltes, unfruchtba­res Ödland, voller Mißtrauen und Haß. Der zu bahnende Weg war lang und schwierig. Doch er hatte sich in diese Ödnis aufge­macht, war einen Schritt nach dem anderen vorwärts gegangen und bahnte sich den Weg durch das ungastliche, unberührte Gelände. Shin‘ichi Yamamotos Besuch in Europa war eine wegbereitende Reise, die die Tür zum Frieden öffnen und die Saat des Humanismus ausstreuen sollte.

Am Abend des 8. Oktober 1961, dem Tag, an dem er an der Berliner Mauer gestanden hatte, machten Shin‘ichi und die anderen in seinem Hotelzimmer zusammen ein feierli­ches Gongyo. Shin‘ichis Gebet war erfüllt vor dem festen Versprechen, Deutsch­lands Wiedervereinigung zu erleben und den Weltfrieden zu erschaffen. „Ganz bestimmt müssen wir Berlin, das jetzt ein Symbol für die Teilung durch den Kalten Krieg ist, in eine Ikone des Friedens verwandeln.“ Das war Shin‘ichis leiden­schaftlicher Entschluß.

All die Tragöden der modernen Welt waren letztlich durch Menschen verursacht wor­den. Die Menschen waren es daher, die sich ändern mußten. Shin‘ichi war mit ei­nem starken Verantwortungsgefühl für die Zukunft des Planeten Erde zu diesem Kampf für den Frieden aufgebrochen. Als er mit dem Chanten aufhörte, standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Nach dem Gongyo redeten Shin‘ichi und die anderen Leiter miteinander. Sie haften aus erster Hand die tragische Lage in Berlin erlebt und waren daher in einen Wust von Ge­danken und Gefühlen verstrickt. Einer von ihnen, der etwas betroffen war, sprach mit ihnen über seine Bestürzung angesichts des Leidens der Berliner. Ein anderer äu­ßerte sich pessimistisch über die Zukunft der Stadt. Ein Leiter fragte Shin‘ichi: „Als Sie heute vor dem Brandenburger Tor standen, äußerten Sie ihre Überzeugung, daß die Berliner Mauer in 30 Jahren nicht mehr stehen wird. Haben Sie einen be­stimmten Plan, um das zu erreichen?“ Shin‘ichi lächelte und antwortete: „Nein, ich habe kein Spezialrezept. Aber um die eisige Mauer des Kalten Krieges zum Schmelzen zu bringen, habe ich mich ent­schlossen, einen Kurs des Dialogs zu ver­folgen. Ich habe das Gefühl, daß es wichtig ist mit führenden Persönlichkeiten beider Seiten, Ost wie West, als gewöhnliche Mitmenschen aufrichtige Gespräche zu führen. Sogar wer die größte Macht und Autorität in der Hand hält, ist doch imme~1~ noch bloß ein Mensch.“

Als die anderen das hörten, betrachteten sie die Oberflächlichkeit ihrer eigenen Sichtweise etwas beschämt. „Hat Präsi­dent Toda nicht oft gesagt daß der einzige Grund dafür, daß Menschen Probleme da­mit haben, mit Autoritätspersonen zu spre­chen, darin liegt, daß sie dazu neigen, die­se in bezug auf ihren Rang zu betrachten? In den Augen des Buddhismus ist jeder ein gewöhnlicher Menschen. Und in dem Ma­ße, daß sie menschlich sind, tragen sie alle den Wunsch nach Frieden in sich. Unsere Aufgabe ist es, diesen Wunsch anzuspre­chen und in ihnen zu erwecken. Warum starren der Ostblock und der We­sten einander feindlich an und verfolgen ein ständig eskalierendes nukleares Wett­rüsten? Einfach gesagt, weil sie Opfer des Mißtrauens geworden sind. Wir müssen gegenseitiges Mißtrauen in gegenseitiges Verständnis verwandeln. Es ist entschei­dend, daß wir uns zu diesem Zweck auf einen Kurs des Dialogs begeben und ein Band des Vertrauens unter den Menschen schaffen.“

2.

Die anderen Leiter hörten Shin‘ichi aufrich­tig zu. Er fuhr fort und sah dabei jeden di­rekt an: „Wichtig ist auch, wie man unter Menschen verschiedener Länder Bezie­hungen von Herz zu Herz pflegen kann. Menschen sind die Basis jedes Gesell­schaftssystems oder Staates. Die dauer­hafteste Grundlage für den Frieden kann man legen, wenn Vertrauen und Verständ­nis, die ideologische und nationale Schranken übersteigen, unter den Men­schen genährt werden. Um das zu errei­chen, ist der kulturelle Austausch auf Ge­bieten wie Bildung und Kunst unschätzbar wertvoll. Über Musik, Tanz und Traditionen anderer Länder und Kulturen etwas zu ler­nen hilft dabei, ein besseres Verständnis und engere Bindungen unter den Men­schen zu pflegen. Von ihrem Wesen her hat die Kultur keine Grenzen.

Von jetzt an beabsichtige ich, nicht nur viele internationale führende Persönlich­keiten verschiedener Bereiche zu treffen, sondern ich bin entschlossen, durch die Förderung des kulturellen Austausches den Weg für den Frieden zu öffnen.“

Als Shoichi Tanida, der Leiter der Junge-Männer-Abteilung, das hörte, fragte er: „Ist es wirklich möglich, daß wir als Privatleute und nicht als Politiker diese Dinge errei­chen?“ „Sie machen sich Sorgen, daß die Staatsmänner der Nationen sich weigern werden, mit uns zusammenzukommen, nicht wahr?“ fragte Shin‘ichi. „Ja“, gab Tanida etwas widerwillig zu. „Nun, ich ver­sichere Ihnen, daß Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen“, entgegnete Shin‘ichi, und seine Stimme war voller Zu­versicht. „Sobald sie wissen, daß zahllose gewöhnliche Menschen durch den Beitritt zur Soka Gakkai ihr Leben erneuert haben und daß unsere Organisation zu einer gro­ßen konstruktiven Kraft in der Gesellschaft geworden ist, werden scharfsichtige Füh­rungspersönlichkeiten bestimmt ein gro­ßes Interesse zeigen. In der Tat sind sie wahrscheinlich schon interessiert.

Deshalb ist es nur natürlich, wenn wir an­nehmen, daß Weltführer sich gerne mit Vertretern der Gakkai treffen und hören würden, was wir zu sagen haben. Ich denke auch, daß die Tatsache, daß wir Privatleute sind, es uns erlauben wird, mit solchen Würdenträgern sehr offen zu sprechen, ohne daß sie sich Sorgen um ihre politi­sche Position oder den Schutz ihrer natio­nalen Interessen machen müssen. Mein Ziel ist es, freundliche und offene Dialoge zu führen, als Freunde und Mitmenschen, und gemeinsam nach einem Weg zum Auf­bau einer besseren Zukunft zu suchen.

Wenn wir mit solchen Führungspersön­lichkeiten reden, die um das Glück der Menschen besorgt sind und sich nach Frieden sehnen, dann bin ich zuversicht­lich, daß wir Status oder Ideologie hinter uns lassen und gegenseitiges Verständnis erschaffen können.

Viele japanische Politiker würden dies als hoffnungslosen Idealismus abtun oder mich als naiven Romantiker lächerlich ma­chen. Aber sollen sie doch lachen, wenn ihnen danach ist. Wir werden niemals wis­sen, ob es geht, wenn wir es nicht versu­chen. Die Wahl, die wir treffen müssen, ist wichtig: entweder die feindlichen Bedin­gungen des Kalten Krieges endlos weiter herrschen und die Menschen ewig mit der Furcht vor nuklearer Vernichtung weiterle­ben zu lassen oder mit der Herausforde­rung, einen dauerhaften Frieden zu er­schaffen, ernst zu machen.“

3.

Die Nacht über Berlin vertiefte sich. Shin‘ichis kräftige Stimme, brennend mit dem Versprechen des Friedens, klang durch den Raum. „Ich werde es tun. Es wird ein langer Kampf sein, aber ich werde geduldig daran arbeiten, den Weg zu öff­nen, und auf 20 oder 30 Jahre in die Zu­kunft zielen. Die jungen Leute, die auf mei­nen Fußstapfen folgen, müssen diesen Weg des Friedens und der Freundschaft noch weiter bahnen, in alle Winkel der Er­de, und so das 21. Jahrhundert zu einem Zeitalter des menschlichen Triumphs ma­chen. Das ist meine Überzeugung.“

Jeder hörte schweigend zu. Ihre Gesichter verrieten ihre Überraschung angesichts seines leidenschaftlichen Entschlusses.

Kurze Zeit später kamen Sandwiches und Getränke, die sie beim Zimmerservice be­stellt hatten. Shin‘ichi entschied sich für ein Glas Orangensaft, bestand aber darauf, daß die anderen Bier nähmen, falls sie wollten. „Nun dann, trinken wir auf die Zu­kunft Berlins. Schließlich markiert der heu­tige Tag einen neuen Start in Richtung Frieden.“

Alle erhoben ihre Gläser, um diesen neuen Aufbruch zu feiern, doch vielleicht war es nur Shin‘ichi, der wirklich dessen Bedeu­tung erfaßte.

Die Unterhaltung wurde zusehends lebhaf­ter. Als Shin‘ichi auf seine Armbanduhr blickte, sah er, daß es schon ein Uhr mor­gens war, und er bemerkte: „Jetzt ist es neun Uhr morgens in Japan. Wäre einer von Ihnen so freundlich, die Gakkai­-Zentrale anzurufen und die Nachricht wei­terzugeben, daß wir heute vor der Berliner Mauer gestanden haben?“ Vizegeneraldirektor Kiyoshi Jujo hob den Telefonhörer ab und bat die Vermittlung um ein Auslandsgespräch. Als sie schließlich mit der Gakkai-Zentrale verbunden wa­ren, nahm jeder einmal den Hörer und teilte die letzten Aktivitäten der Gruppe mit. Nicht überraschend war, daß Shin‘ichi sich körperlich erschöpft fühlte und Dr. Eiji Ka­wasaki, der sie begleitete, bat, ihm eine Vitaminspritze zu geben.

Das letzte Mal, als Shin‘ichi solch eine Bit­te geäußert hatte - als sie in Kopenhagen waren —‚ hatte Kawasaki weder medizini­sche Ausrüstung noch Vitamine zum Sprit­zen dabei. Doch danach hatte er Wert dar­auf gelegt die nötigen Gegenstände zu kaufen, für den Fall, daß Shin‘ichi wieder danach fragen würde.

Shin‘ichi lag mit dem Rücken auf dem Bett und schrie vor Schmerz, als Kawasaki ihm die Injektion in den linken Arm gab. „Au! Die Spritze hat wirklich weh getan...“ „So sehr? Das ist eigenartig ...„‚ entgegnete Kawasaki, der verwirrt dreinschaute und sich offensichtlich fragte, was er falsch gemacht hatte. Shin‘ichi brach in Lachen aus. „Sie sind mir ein schöner Arzt! Es gibt sehr viele Krankenschwestern, die viel besser spritzen können als Sie. Selbstver­ständlich sind Ihre medizinischen Kennt­nisse umfassend, aber ich bin nicht sicher, ob Sie die einfachsten Dinge über die Gefühle der Menschen verstehen.“ “Nun ja, sehen Sie, ich habe mich mehr auf die Forschung als auf die klinische Medizin spezialisiert...“

4.

Shin‘ichi schalt Eiji Kawasaki sanft weiter: „Wenn man beispielsweise jemandem eine Spritze gibt, ist es üblich, etwas zu sagen wie: ‘Das kann ein bißchen weh tun. Ent­spannen Sie sich, es ist gleich vorüber‘ oder ‘Seien Sie einen Augenblick lang tap­fer. ‘ Das beruhigt die Leute und erlaubt ihnen, sich auf ein bißchen Schmerz gefaßt zu machen. Da Sie die Aufgabe erlangt haben, Leiter für Kosen-rufu in Europa zu sein, müssen Sie, Herr Kawasaki, von jetzt an ein hervor­ragender Arzt des Glaubens wie auch des Lebens sein, der sich dafür engagiert, das Leid der Menschen zu kurieren. Um das zu erreichen, ist es wichtig, ein Menschen-Experte zu werden und die größte Sensibi­lität für die Gefühle und Emotionen der Menschen zu zeigen. In der Welt des Glau­bens müssen Sie eher Klinik-Arzt als For­scher sein.

„Ein hervorragender Arzt des Glaubens? Das wird viel schwerer sein, als die kör­perlichen Krankheiten der Leute zu heilen“, murmelte Kawasaki und blickte ernst.

Seine liebenswerte Aufrichtigkeit ließ Shin‘ichi lächeln. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Da sowohl Medizin wie Buddhismus auf Mitgefühl basieren - das heißt, dem Geist das Leid der Menschen zu lindern und Seelenfrieden zu vermitteln - besitze ich große Zuversicht, daß Dr. Kawasaki“ - Shin‘ichi sagte das mit be­sonderer Betonung auf dem Wort Doktor - mit Glanz und Gloria bestehen wird. So­lange Sie eine feste Entschlossenheit be­sitzen und sich praktisch bemühen, wer­den Sie zu einem ausgezeichneten Arzt des Glaubens.“ Auch Kawasaki lächelte jetzt.

Bis alle Shin‘ichis Zimmer verlassen hat­ten, war es schon nach halb zwei. Kurz nach 6.30 Uhr am Margen verließ die Grup­pe das Hotel und nahm einen Flug zurück nach Düsseldorf. Von dort fuhren sie mit dem Auto etwa 35 Kilometer zum ge­schichtsträchtigen Köln am Rhein. Dort sollten sie die Fabrik der Klöckner­Humboldt-Deutz AG, eines führenden Her­stellers von Dieselmotoren und Maschinen mit Sitz in Köln, besuchen.

Das Wetter in Köln war schön und klar, ge­nau wie in Düsseldorf. Der strahlend blaue Himmel schien die Stadt, die sich am Westufer des Rheins ausdehnte, zu um­hüllen. Der Fabrikleiter begrüßte sie freundlich und führte sie persönlich durch die Anlagen. Als sie fertig waren, sagte er ihnen: „Hier arbeiten ungefähr 30.000 Men­schen, darunter etwa 1.200 Auszubildende aus Italien, Indien, Griechenland, Spanien, Afrika und Südamerika. Doch leider haben wir überhaupt niemanden aus Japan hier.“ Als Shin‘ichi das hörte, dachte er, daß es Zeit wäre, daß auch junge Leute aus Japan sich in alle Teile der Welt aufmachten.

5.

Shin‘ichi und die anderen haften nach dem Fabrikbesuch Zeit dafür eingeteilt, sich einige von Kölns historischen Bauwerken anzuschauen. Das eindrucksvollste unter ihnen war der Kölner Dom. Mit seinen hoch aufragenden Zwillingstürmen ist er als Meisterwerk der deutschen Gotik bekannt. Shin‘ichi plante bereits das nächste Bau­projekt der Soka Gakkai nach der Fertig­stellung der Großen Empfangshalle. Seine Gedanken konzentrierten sich darauf, den Traum seines Mentors Josei Toda zu reali­sieren und einen Großen Zentraltempel (Sho-Hondo) auf dem Gelände des Haupt-tempels zu erreichten. Dieser Bau würde schließlich den Dai-Gohonzon beherber­gen, den Nichiren Daishonin für das Glück der gesamten Menschheit eingeschrieben hafte. Durch Besuche und genauere Be­trachtung verschiedener Gebäude während seiner Reisen hatte Shin‘ichi gehofft, eini­ge Tips zur Architektur des Großen Zen­traltempels sammeln zu können, so daß dieser zu einem Bauwerk internationaler Berühmtheit werden könnte. Am Abend aß die Gruppe in einem chinesi­schen Restaurant in der Stadt, gemeinsam mit einigen Direktoren des Unternehmens, dessen Fabrik sie zuvor am selben Tag besucht haften. Shin‘ichi schenkte seinen Gastgebern englischsprachige Ausgaben des Buches “Die Soka Gakkai“, in dem die Aktivitäten und die grundlegende Philoso­phie der Organisation beschrieben waren. “Die Soka Gakkai“, erläuterte er, “ist eine Organisation, die für den Glauben an die wesentliche buddhistische Lehre, die als Buddhismus Nichiren Daishonins bekannst ist, eintritt. Wir engagieren uns für die Ver­wirklichung des Weltfriedens und das Glück der Menschen durch die Kultivierung des Reiches des menschlichen Herzens und das Leben selbst mittels der humani­stischen Philosophie des Buddhismus. Seit Kriegsende haben das deutsche und das japanische Volk hart gearbeitet, um ihr jeweiliges Land wiederaufzubauen, mit der Hoffnung, ein neues Zeitalter der Demokra­tie einzuläuten.

Was brauchen wir, um eine wirklich demo­kratische Ära zu erschaffen? Das ist eine Philosophie, die die innewohnende Würde und Gleichheit aller Menschen stützt. Wenn wir wirkliche bürgerliche und individuelle Freiheit sichern wollen, brauchen wir eine Philosophie, die die Menschen Selbstdis­ziplin lehrt, so daß sie nicht von Ihren eigenen Wünschen versklavt werden, und geistige Unabhängikeit, so daß sie nicht sanftmütig Tyrannen nachgehen. Wir verfolgen diese humanistische Philo­sophie, setzen sie in unserem Leben in die Tat um und teilen dies mit anderen in der Gesellschaft. In Japan haben wir schon zwei Millionen Familien, die als direktes Ergebnis dieser buddhistischen Lehren ein glückliches Leben führen. Sie tragen en­gagiert zur Gesellschaft bei, als Triebkraft zu Schaffung eines wahrhaft demokrati­schen Zeitalters.“ Die Direktoren hörten aufmerksam zu, of­fensichtlich überrascht. Als man sie wegen einer Delegation einer buddhistischen Or­ganisation namens Soka Gakkai angespro­chen hatte, die eine ihrer Fabriken besu­chen wollte, hatten sie sich vorgestellt, daß deren Mitglieder zurückgezogen in den Bergen lebten, irgendwo abseits der Ge­sellschaft, und ihre gesamte Zeit mit stiller Meditation verbrachten. Doch als die Direktoren die Delegierten persönlich trafen, fanden sie, daß sie sich dynamisch voll dafür engagierten, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Außerdem standen sie an der Spitze einer Bewegung, die von ungefähr zwei Millionen Familien in Japan unterstützt wurde. Die Wirklichkeit der Soka Gakkai, stellten die Direktoren des Unternehmens fest, war völlig anders als ihre Vorurteile darüber, wie eine bud­dhistische Gruppe wäre. Das schien sie um so mehr zu interessieren und ihre Neugier zu erregen. Als kurz darauf das Essen serviert wurde, bombardierten sie Shin‘ichi mit Fragen.

6.

“Was genau lehrt Ihr Buddhismus?“ fragte einer der Direktoren Shin‘ichi. “Sie alle, die Sie Deutsche sind, kennen wahrscheinlich die berühmte Szene in Goethes ‘Faust‘, in der Dr. Faust versucht, die Anfangsworte eines der Evangelien des Neuen\ Testa­ments aus dem ursprünglichen Griechisch zu übersetzen.

Sein erster Übersetzungsversuch lautet ‘Im Anfang war das Wort‘, aber das gefällt ihm nicht. Dann versucht er: ‘Im Anfang war der Sinn‘ und dann ‘Im Anfang war die Kraft‘, aber auch mit diesen Übersetzungen ist er nicht zufrieden. Schließlich, von einer plötzlichen Eingebung erleuchtet, über­setzt er den Absatz mit ‘Im Anfang war die Tat‘[^11], und damit schließlich ist er zufrieden.‘ Schließlich sind es Taten, die am meisten zählen.

Genau das ist es. was der Buddhismus lehrt - menschliches Verhalten, Taten und Handlungen oder wie Menschen leben soll­ten. Der Buddhismus ist eine Philosophie, die die Mittel darlegt mit denen Menschen glücklich werden und ein humaneres Le­ben führen können.“

Shin‘ichi hatte für seine deutschen Gast­geber „Faust“ zitiert, weil er dachte, daß es ihnen leicht fiele, die Essenz des Bud­dhismus mittels einer Geschichte, die ih­nen allen vertraut war, zu begreifen. Ein anderer Direktor fragte ihn: „Was ver­sucht die Soka Gakkai mit diesem Bud­dhismus zu erreichen?“ Shin‘ichi lächelte, nickte und antwortete sofort: „Unsere Be­wegung will jeden einzelnen erwecken, um eine tiefe innere Wandlung - eine „Menschliche Revolution“ - im Leben der Menschen zu erreichen. Menschen sind sehr kompliziert und unterschiedlich. Au­ßerdem verändert sich das menschliche Herz ständig. Im einen Augenblick befin­den wir uns auf der Höhe des Entzückens und im nächsten sind in der Tiefe des Lei­dens oder wir kochen vor Wut. Menschen können Liebe und Mitgefühl zeigen und werden sogar ihr Leben zur Rettung ande­rer einsetzen, und doch sind sie auch fähig zu Grausamkeit, Haß und Neid, zur Beherr­schung anderer und zum mutwilligen Tö­ten. Menschen sind die Verursacher von Kriegen und endloser Zerstörung, gleich­zeitig aber auch Architekten und Schöpfer des Friedens. Mit anderen Worten: Men­schen sind die Basis von allem. Sie sind die Grundlage gesellschaftlicher Entwick­lung.

Unsere Bewegung bemüht sich, das Leben jedes einzelnen zu erhellen und wertzu­schätzen, um Menschen dabei zu helfen, ihr innewohnendes Gutes zu entwickeln, ihre positive Kreativität hervorzubringen und ein unbeugsames Selbst zu gestalten, das nicht von Begierden oder der Umge­bung abhängt, ein Selbst, das durch nichts besiegt wird. Wir nennen diesen Prozeß „Menschliche Revolution.“

Shin‘ichi hatte kaum buddhistische Begrif­fe benutzt. Grund dafür war hauptsächlich die Rücksicht auf ihren Dolmetscher, einen in Deutschland lebenden Japaner, der buchstäblich kaum etwas über Buddhis­mus wußte. Außerdem glaubte Shin‘ichi, daß sie den Buddhismus des Daishonin nur dann weit auf der Welt verbreiten könn­ten, wenn sie dazu in der Lage wären, dar­über zu sprechen, ohne auf komplizierte Begriffe zurückzugreifen.

7.

Ein anderer Direktor fragte Shin‘ichi: „Sie haben gerade den Begriff ‘humanistische buddhistische Philosophie‘ verwandt. Aber auch Europa besitzt eine Tradition des Humanismus. Wodurch unterscheidet sich der buddhistische Humanismus?“

„Das ist eine sehr kluge Frage“, entgegne­te Shin‘ichi. „Sie sind in der Hinsicht gleich, daß sie beide den Menschen achten und wertschätzen. Doch ein Unterschied besteht darin, daß der Buddhismus Men­schen nicht als die Meister der Erde be­trachtet, welche dazu bestimmt sind, zu erobern und die Natur und alles andere Leben zu unterwerfen. Statt dessen be­trachtet er das Universums als ein einziges lebendes Wesen, von dem die Menschen nur einen kleinen Teil ausmachen - sozu­sagen einen Mikrokosmos innerhalb des Makrokosmos. Der Buddhismus begreift die Menschen und alles andere Leben so­wie die Umgebung und die sie umgeben­den Phänomene als in einem Gewebe ge­genseitig abhängiger und harmonischer Beziehungen miteinander verbunden. Sie alle dienen dazu, das Leben zu stützen und zu erhalten.

Was geschähe, wenn die Menschen aus ihrer Arroganz, sich selbst für die Herr­scher dieses Planeten zu halten, ihr riesi­ges technologisches Wissen dazu nutzten, all unsere Wälder zu vernichten, alle Tiere aussterben zu lassen, die Ozeane zu ver­schmutzen und unsere natürliche Umwelt zu zerstören? Dann wäre es für die Men­schen sehr schwer, ihre eigene Existenz aufrechtzuerhalten. Ein Charakteristikum des buddhistischen Humanismus ist es deshalb, daß er nicht versucht, Beziehun­gen in solchen Gegensatzpaaren wie „die anderen“ und „wir‘ oder Menschen gegen die Umwelt - wir gegen unsere Umwelt, alle anderen Tiere und Pflanzen einge­schlossen - zu polarisieren. Er betrachtet alles als gegenseitig abhängig und ver­sucht, menschliches Glück auf der Basis der Harmonisierung dieser Beziehungen zu erschaffen. In dieser Hinsicht könnte der Buddhismus vielleicht als eine Art kosmi­scher Humanismus bezeichnet werden.“ Von dieser Erklärung beeindruckt, sagte der Direktor, der die Frage gestellt hatte:

„Ich habe einen Freund, der Ökologe ist. Mir scheint, daß das, was Sie gerade über unsere Beziehung zur Natur gesagt haben, sehr den neueren Ergebnissen der ökolo­gischen Forschung ähnelt. Mein Freund vertritt ähnliche Ansichten wie Sie, Herr Präsident Yamamoto.“ „Tatsächlich? Ich denke, mit dem Fort schritt der Wissenschaft wird zunehmend die Richtigkeit buddhistischer Prinzipien bestätigt Buddhismus und Wissenschaft widersprechen einander in keiner Weise. Der Buddhismus ist höchstens dazu in der Lage, die Wissenschaft richtig zu lenken, so daß sie zum menschlichen Glück bei­tragen kann.“

Die freundliche und doch ernste Diskussi­on ging weiter und wandte sich Bildung und Kunst zu. Als das Thema ‘Musik‘ an die Reihe kam, sagte Shin‘ichi: „Es ist meine Überzeugung, daß Lieder sowohl die Wünsche der Menschen wie das Wesen der Zeit, in der sie leben, ausdrücken. Warum singen wir nicht eines unserer Lieder, um Ihnen das beherzte Engagement der Soka Gakkai für die Schaffung des Friedens zu vermitteln?“ Sein Vorschlag wurde mit be­geistertem Applaus begrüßt.

8.

Die Gruppe entschloß sich, ein Lieblingslied der Gakkai zu singen, das „Lied der Morgendämmerung“: Junges Blut pulsiert, nun ist die Morgendämmerung‘\ gekom­men... Als Sie endeten, erfüllter lauter Beifall den Raum. „Was für ein kraftvolles Lied! Nun singen wir etwas für Sie!“

Die Gruppe leitender Angestellter von Klöckner-Humboldt-Deutz sang dann ein deutsches Seemannslied. Danach erklärte einer von ihnen: „Wir haben ein Lied der deutschen Marine gesungen, aber es soll kein Kriegslied sein. Mit diesem Lied woll­ten wir unsere Hoffnung für den Wieder­aufbau unseres Landes kundtun. Bitte mißverstehen Sie das nicht.“ „Nein, das verstehe ich sehr gut“, versi­cherte ihm Shin‘ichi. „Ich kann Ihre Ent­schlossenheit, für den Frieden und den Wohlstand Deutschlands zu arbeiten, spü­ren.“ Bei diesen Worten lächelten alle An­wesenden.

Danach sang die Gruppe aus Japan „Mond über der Schloßruine“. Dann, als ob sie sich nicht geschlagen geben wollten, stan­den zwei der Deutschen auf und sangen „Heideröslein“ von Schubert. Es schien, als steckten sie mitten in einem Sänger­wettstreit zwischen Deutschland und Ja­pan. Sie sangen immer weiter, und beide Seiten fühlten sich wohl in Gegenwart der anderen. Eine freundliche Atmosphäre herrschte, als ob sie alle seit Ewigkeiten befreundet wären.

Nach dem Essen hielt der Fabrikdirektor im Namen der Direktoren des Unternehmens eine Rede: „Heute haben wir zum ersten­mal seit langem in Köln schönes Wetter. Wir haben nicht nur durch Präsident Ya­mamoto eine sinnvolle Erläuterung des Buddhismus gehört, wir haben auch einen Abend freundlich und freundschaftlich miteinander verbracht. Ich muß einfach glauben, daß Präsident Yamamoto den Sonnenschein mit nach Köln gebracht hat. Durch diese Begegnung habe ich nicht nur Mut und Hoffnung für die Zukunft erlangt, sondern auch ein besseres Verständnis Japans. Ich möchte auch mit Ihnen allen zusammenarbeiten, um den Austausch zwischen unseren beiden Ländern zu för­dern. Vielen Dank für alles heute.“

Die Hände wurden fest geschüttelt, und dann verließen Shin‘ichi und seine Kolle­gen Köln und fuhren zurück nach Düssel­dorf. Es war für Shin‘ichi die erste Gele­genheit, über den Buddhismus tieferge­hend mit Deutschen zu sprechen. Er spürte deutlich, daß sie aufrichtig dessen Lehren suchten. Er war jetzt fester davon über­zeugt, daß es für Menschen aller Rassen oder Nationalitäten möglich ist, diese Un­terschiede hinter sich zu lassen und ein­ander zu verstehen und Mitgefühl fürein­ander zu empfinden.

[^1]: Quadratisches Tuch zum Einschlagen wertvoller Dinge, wie z.B. einer Gongyokette.

[^2]: Die Statue wurde 1711 fertiggestellt

[^3]: Die Lorelei‘, ein Gedicht von Heinrich Heine aus dem Jahr 1824, wurde von zahlreichen Komponisten vertont. Die berühmteste Version. 1838 geschrieben, stammt von dem deutschen Komponisten Friedrich Silcher.Die Lorelei ist ein großer widerhallender Felsen im Rhein in der Nähe von St. Goarshausen in Rheinland-Pfalz, um den sich eine Legende rankte, die der deutsche Schriftsteller Clemens Brentano in seinem Roman C,odwi (1801) erschuf. Nach dieser Legende. die zu einem Bestandteil des deutschen Volksgut geworden ist, stürzte sich eine Jungfrau aus Verzweiflung über einen untreuen Geliebten in den Fluß und wurde in eine Sirene verwandelt, deren Lied die Schiffer in den Tod lockt.

[^4]: Aus: Werner Maser. Hitlers Briefe und Notizen: Sein Weltbild in handschriftlichen Dokumenten (Düsseldorf Econ

Verlag GmbH, 1973), S. 225.

[^5]: Aus dem Englischen übersetzt

[^6]: Aus dem Englischen übersetzt

[^7]: Aus dem Englischen übersetzt: Collier‘s: The NationaL Weekly,

  1. November 1938

[^8]: Martin Niemöller (1892-1984): Deutscher Theologe und Pfarrer. 1933 gründete er den Pfarrer-Notbund, um das Einmischen der Nazipartei in Kirchenangelegenheiten zu bekämpfen. Er wurde 1937 verhaftet und bis 1945 in Konzentrationslagern gefangen gehalten.

[^9]: Aus dem Englischen Ubersetzt Milton Mayer, Threy Thought They Were Free: The Germans 1933-45 (‘Sie dachten. sie wären frei: Die Deutschen 1933-45‘) (Chicago: University of Chicago Press, 1955), 5. 169.

[^10]: Lateinische Sprichwörter Principiis obsta und Finem respice.

[^11]: Faust 1, Studierzimmer, Verse 1224-1 237

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