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Über die Lehrsätze in unseren Herzen

Von Barbara Krausnick

Erläuterung zum Studium für den Monat Juli

„Deshalb müssen Sie rasch die Lehrsätze, die Sie in Ihrem Herzen hegen, verändern und das eine Wahre Fahrzeug annehmen, die einzig gute Lehre vom Lotos-Sutra. Wenn Sie das tun, dann wird die gesamte dreifache Welt zum Buddha-Land werden, und wie könnte ein Buddha-Land jemals untergehen? Die Regionen in den zehn Richtungen werden alle zu Schatzreichen, und wie könnte ein Schatzreich jemals Schaden nehmen? Wenn Sie in einem Land leben, das weder Untergang noch Verschlechterung kennt, weder Schaden noch Spaltung, wird Ihr Körper Frieden und Sicherheit finden, und Ihr Herz wird ruhig und sorglos sein. Sie müssen meinen Worten glauben und ihnen Beachtung schenken!“

Der zitierte Abschnitt stammt aus dem berühmten Brief Nichiren Daishonins „Über die Errichtung des Wahren Gesetzes für Frieden im Land“ (Rissho Ankoku Ron), den er aus Sorge um das Wohlergehen des japanischen Volkes am 16. Juli 1260 an die damalige Kamakura-Regierung richtete. In seiner klaren Sprache und poetischen Ausdruckskraft enthält er eine Aussage von zeitloser und undogmatischer Gültigkeit: Eine grundlegende gesellschaftliche Erneuerung kann einzig durch die Veränderung der Lehrsätze in den Herzen der Menschen erreicht werden!

Bemerkenswerterweise sagt Nichiren nicht, dass rasch die Gesetze geändert werden müssen, damit im Land wieder Frieden und Sicherheit einkehren können, obwohl das in einem offiziellen Schreiben an die Regierung nahe liegend wäre. Er fordert auch nicht dazu auf, die Lehre vom Lotos-Sutra über die Köpfe bzw. Herzen der Menschen hinweg als neue Staatsreligion auszurufen. Ganz im Gegenteil richtet sich sein eindringlicher Appell an jeden einzelnen Menschen persönlich, gleichgültig ob Regierungsoberhaupt oder einfacher Volksangehöriger, sich von innen her, durch die Korrektur der Lehrsätze des Herzens, zu verändern. Nichiren war zutiefst überzeugt von der Mündigkeit und Freiheit der Menschen und gab ihnen daher die volle Selbstverantwortung für ihr Leben zurück. Selbst aus der untersten Schicht der damaligen Gesellschaft kommend, stand er fest an der Seite der einfachen Menschen und setzte sich mit all seiner Kraft dafür ein, die Reformbewegung, die er für die Sicherung der Zukunft des Landes für unumgänglich hielt, durch stetige Dialoge in den Gedanken und Herzen eben dieser einfachen Menschen zu verankern.

Wenn Nichiren das Herz als Ursprungs- und Bewahrungsort unserer Glaubenssätze bezeichnet und nicht unseren Kopf, den Sitz von Wissen, Verstand und Bewusstsein, dann wohl deshalb, weil das Herz als Symbol des Lebens in seiner Gesamtheit gilt und daher auch das Unbewusste, unsere Gefühle, karmischen Tendenzen und unseren Lebenszustand einschließt. Die Leitsätze und damit den Glauben unseres Herzens zu erneuern, bedeutet in Nichirens Verständnis eine wirklich umfassende Erneuerung, die auf allen Ebenen unseres Menschseins stattfindet. Um die Tiefe und Nachhaltigkeit eines solchen Prozesses zu beschreiben, sprechen wir heute in der SGI auch von der „Menschlichen Revolution“.

Die Frage, die sich uns nach Nichirens Aufforderung zunächst einmal stellen sollte, ist die, welchen Lehrsätzen wir überhaupt in unserem Leben Folge leisten. Ich glaube, eine ehrliche Antwort auf diese Frage ist gar nicht leicht, wenn wir nicht sehr bewusst eine religiöse, ethische oder ideologische Überzeugung leben und daher auf einen inneren

Maßstab für unsere Handlungen zurückgreifen können. Aber selbst wenn es einen solchen Maßstab gibt, zeigen die jüngsten Beispiele der Radikalisierung von Religion und politischen Machtinteressen, wie gefährlich auch solche Leitsätze werden können, die ursprünglich der Gerechtigkeit und den Menschenrechten verpflichtet waren. im Bündnis mit der Macht dienen sie dann nicht mehr den Menschen, sondern die Menschen sollen ihnen, den Leitsätzen, dienstbar gemacht werden) Damit werden sie ihrer eigentlichen Absicht entfremdet und in ihr komplettes Gegenteil verkehrt - ein fatales, doch leider häufig zu beobachtendes Phänomen.

Aber selbst dann, wenn wir uns unserer Lehrsätze nicht bewusst sind, existieren sie doch in unserem Innersten und treiben uns an, bestimmte Dinge zu tun und andere zu lassen. Wir übernehmen viele Trends unreflektiert von den Medien und der Werbung, erkennen dies oft aber erst dann, wenn sich unsere so erworbenen „Glaubensüberzeugungen“ negativ auf unser Leben auswirken und uns immer tiefer in eine Spirale des Leidens hineinführen.

Als ich, angeregt durch das Schreiben dieses Artikels, darüber nachgedacht habe, welche Lehrsätze ich selbst in meinem Herzen trage, ist mir eine Situation vor etwa zwanzig Jahren eingefallen, als ich Studentin und Anfang zwanzig war. Damals hatte ich auf einem Seminar ein intensives und langes Gespräch mit einem Studenten einer anderen Fakultät. Im Laufe dieses Gespräches fragte er mich, welches Motto ich meinem Leben gäbe, wenn ich es in einem Satz zusammenfassen müsste. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich bei dieser Frage gestutzt und erst nach einer Zeit des Nachdenkens gesagt habe, mein Motto laute:

„Es geht immer weiter“. Kaum hatte ich es ausgesprochen, als ich merkte, wie passiv und kraftlos das klang, erst recht, als der junge Mann erwiderte, sein Motto sei anders, es heiße: „Niemals aufgeben!“ Ich habe dieses Gespräch nie vergessen, weil ich damals selbst überrascht und sogar erschrocken war, wie wenig Kampfgeist sich in meinem Motto ausdrückte. Zugleich erkannte ich aber auch, dass es meiner ganzen damaligen Situation und in dieser Zeit resignativen inneren Haltung entsprach. Heute, nach kämpferischen 16 Jahren buddhistischer Praxis, fiele mein Motto, sollte ich es auf den Punkt bringen, viel aktiver und ganz im Sinne dieses Studenten von damals aus. Nicht nur durch gelebte 20 Jahre, sondern vor allem durch die Annahme und Ausübung der buddhistischen Lebensphilosophie haben sich also die Lehrsätze meines Herzens und damit auch mein Bild von mir selbst und meinen Möglichkeiten stark gewandelt. Auch wenn es nur ein kleines Beispiel aus meinem persönlichen Leben ist, so zeigt es doch die Beziehung zwischen unseren

Wir können uns also nur dann grundlegend revolutionieren, wenn wir immer wieder bereit sind, unsere Überzeugungen zu überprüfen und an einem tragfähigen religiösen, philosophischen, ethischen Maßstab zu messen. Wenn wir damit bei uns selbst anfangen, werden sich auf natürliche Weise auch unsere nähere und fernere Umgebung sowie deren nähere und fernere Umgebung und wiederum deren Umgebung und so fort - in einer sich immer weiter fortpflanzenden Bewegung - revolutionieren. Wir haben tatsächlich eine große Freiheit, nämlich die Freiheit, uns immer wieder neu zu entschließen! „Hon‘in myo“ heißt es im Japanischen - von jetzt an neu beginnen, von jetzt an in die Zukunft starten. Ohne Vergangenes leugnen zu müssen, haben wir die Fähigkeit, unser Leben durch einen tiefen Entschluss in nur einem Augenblick geradezu eruptiv umzuwälzen. Die Lehre Nichirens, die uns zu den tiefgründigen Einsichten des Lotos-Sutras zurückführen will, besteht nicht in einer kleinkrämerhaften Aneinanderreihung von guten Taten und Bemühungen, sondern sie ist eine Lehre des großen Wurfes, der spirituellen Tiefe des Augenblicks, den es zu ergreifen und zu nutzen gilt.

„Die einzig gute Lehre des Lotos-Sutras“, von Nichiren als Nam-Myoho-Renge-Kyo benannt, manifestiert sich daher auch in dem mystischen Prinzip der „Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung“, das all diesen ungeahnten Möglichkeiten unseres Lebens zugrunde liegt. Daisaku Ikeda erläutert dazu: „Durch die Aussage im Buddhismus Nichirens, dass die „wahre Ursache“ und „wahre Wirkung“ in einem Augenblick existieren, erhält eine bestimmte Art zu leben große Bedeutung. Nichiren lehrt, wie wir beginnen können, frisch und optimistisch voranzugehen, indem wir immer wieder zum Ausgangspunkt des Lebens zurückkehren. Unser Leben ist eine Folge von Augenblicken, in denen wir Glück, Trauer, Leiden und Freude erfahren. Was wir in der Gegenwart erfahren, ist die Wirkung von Ursachen, die wir in der Vergangenheit gesetzt haben. Das ist nicht schwer zu verstehen. Gleichzeitig aber setzen wir in der Gegenwart die Ursachen für zukünftige Wirkungen. Obwohl das theoretisch sehr natürlich erscheint, ist es schwer, mit diesem Bewusstsein zu leben: Es hängt von diesem gegenwärtigen Augenblick ab, was in der Zukunft geschieht.“ (aus Vorlesungen über das Lotus Sutra, S. 195)

Auf unsere Textstelle übertragen bedeutet dieses Prinzip, dass die Änderung der Lehrsätze in unseren Herzen und die Annahme des „Wahren Gesetzes“ bereits in dem Moment, in dem wir uns dazu entschließen, eine entsprechende Wirkung hervorrufen. Da dies aber mystisch ist, können wir die Ergebnisse mit unserem begrenzten Verstand vielleicht nicht immer sofort erkennen. Dennoch ist bereits in dem Moment, in dem wir die Leitsätze in unseren Herzen erneuert haben, unsere „gesamte dreifache Welt zum Buddha-Land“, d. h. unsere reale Welt voller Leiden und Konflikte zu einer Quelle tiefer Lebensfreude geworden. Das mag sehr theoretisch klingen, aber in Wirklichkeit ist es eine Erfahrung des täglichen Lebens. Stellen wir uns vor, wir geben einem guten Freund oder einer guten Freundin, die sich in einer schweren Lebenssituation befinden, ein aufrichtiges Versprechen, ihn/sie mit unserer ganzen Kraft zu unterstützen und nicht allein zu lassen. In dem Moment, in dem wir dieses Versprechen mit all unserer Ernsthaftigkeit ausdrücken, wird sich die andere Person schon erleichtert fühlen und neuen Mut schöpfen. Mit der Ursache des Versprechens ist also bereits die Wirkung, die Schwere der Situation zu erleichtern, eingetreten, auch wenn es natürlich die weitere Aufgabe bleibt, das Versprechen immer wieder zu erneuern und den einmal eingeschlagenen Weg auch tatsächlich zu Ende zu gehen.

Zur Verdeutlichung möchte ich noch einen kleinen Exkurs auf die Geschichte nehmen. Einer der prominentesten historischen Vertreter einer Menschlichen Revolution durch die Änderung der Lehrsätze im eigenen Herzen war König Ashoka in Indien. Er lebte im dritten Jahrhundert vor Christus und war ursprünglich ein grausamer Tyrann, der auf Kosten unzähliger Menschenleben den größten Teil des damaligen indischen Subkontinents eroberte. Obwohl er zum Buddhismus konvertierte, wütete er noch weitere zwei Jahre als erbarmungsloser Kriegsherr, bis er - möglicherweise durch seine neue Glaubensausübung berührbarer geworden - das entsetzliche Elend der von ihm unterworfenen und gedemütigten Völker erkannte. Er bereute seine Taten zutiefst und entschloss sich, seine künftige Regierungszeit ganz nach dem Geist der buddhistischen Lehre auszurichten. Er verzichtete nicht nur auf jegliche Gewalt, sondern errichtete Krankenhäuser und Schulen, sorgte für den Wohlstand und die Rechtssicherheit seines Volkes und vertrat eine Haltung aktiver Toleranz allen anderen Religionen gegenüber. So sehr seine Untertanen und Kriegsgegner zuvor von ihm in Blut und Tränen geschlagen worden waren, so sehr entwickelte sich Indien unter seiner späteren Herrschaft zu einem blühenden, sozialen und humanitären Land. Da Ashoka der damals mächtigste Mann Indiens war und alle Schaltstellen der Macht unter seinem Einfluss standen, konnte er die Änderung der Lehrsätze in seinem Herzen natürlich unmittelbar und zum offensichtlichen Wohle seines Volkes umsetzen. Nach seinem Tod jedoch erfuhren die von ihm geschaffene Blütezeit und seine humanitäre Staatsführung einen raschen Niedergang. Ich erinnere mich, vor Jahren dazu einmal einen Kommentar von Daisaku Ikeda gelesen zu haben, der diesen Sachverhalt folgendermaßen interpretierte: Ashokas Werk habe vermutlich deshalb keine Fortsetzung gefunden, weil er keine Nachfolger im Glauben und in seiner auf den humanitären Prinzipien des Buddhismus aufbauenden Politik gehabt bzw. erzogen habe. Die glücklichen Untertanen seiner friedlichen Regierungsperiode hätten zwar die Segnungen seiner späteren Güte und Menschlichkeit genießen können, doch nur in Abhängigkeit von ihm, dem Verantwortlichen und Urheber. Insofern sei es eine Beziehung zwischen Ungleichen geblieben. Das Meister-Schüler-Prinzip hingegen befähigt die Schüler, dem Meister über eine tiefe Identifikation mit dessen Wünschen und Zielen vollkommen ebenbürtig zu werden, ihm nachzufolgen und ihn in der Fortführung der gemeinsamen Vision sogar noch zu übertreffen.

Insofern ist es Ashoka offenbar nicht gelungen, die Leitsätze des Buddhismus, die die Kraft hatten, ihn - einen rücksichtslosen und machthungrigen Gewaltherrscher - zur Umkehr zu bewegen, so in die Herzen seiner Mitmenschen einzupflanzen, dass seine humanitäre Staatsführung auch über seinen Tod hinaus hätte weiter existieren können. Diese kritische Anmerkung soll Ashokas Verdienst und die durch seine Person bewiesene Kraft der buddhistischen Ausübung keinesfalls schmälern - sie soll jedoch die Ermahnung Nichirens verständlicher machen, weshalb er sich eben nicht nur den Mächtigen und Großen der Welt zuwandte, nicht nur die Gesetze ändern und seiner Lehre zu staatlicher Anerkennung verhelfen, sondern die Herzen der einzelnen Menschen erreichen wollte.

Nun sind wir aber alle keine Ashokas, wir besitzen kein Königreich und können auch nicht sogleich alle Hebel der Macht in Bewegung setzen, nur weil wir in eben diesem Augenblick einen tiefen Entschluss für unser Leben gefasst haben. Wir können aber auf Nichiren vertrauen, der uns ein inneres Königreich und die „Schatzreiche in den zehn Richtungen“ der Welt verspricht, als Metapher für einen Lebenszustand tiefen und unzerstörbaren Glücks. Einen solchen Zustand können wir dann in uns öffnen, wenn wir unser Leben dem „einzig Guten“ widmen, das der Buddhismus kennt, der unparteiischen Wertschätzung allen Lebens, und uns entschließen, diese Einsicht zum tiefsten Lehrsatz unserer Herzen zu machen. Wir brauchen das nicht einfach blind zu glauben, sondern können und sollen sogar die Richtigkeit von Nichirens Aussage überprüfen, indem wir sie durch konkrete Anwendung, sprich tägliche Praxis, unserer eigenen Erfahrung unterziehen. Denn die Wahrheit des „Wahren Gesetzes“, des „einen Wahren Fahrzeugs“, wovon im Text die Rede ist, ist kein absoluter, für sich allein existierender Wert. Sie wird überhaupt erst zu einem Wert in der Wechselbeziehung mit den Menschen, die dieses Gesetz in sich lebendig und wahr werden lassen, die nach seinen Lehrsätzen leben und handeln und damit tatsächlich zu Frieden und Sicherheit in ihrem Land beitragen.

Quelle: FORUM Juli/August 2003

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