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„Nun, lass mich die zivilisierten Staaten mit eigenen Augen sehen!“ sagte sich der junge Tolstoi und ging auf Reisen nach Europa.
Als Tolstoi, der nun 28 Jahre alt war, die prachtvolle Stadt Paris besuchte (1857), stach ihm die Guillotine ins Auge. Er sah direkt, wie die Todesstrafe öffentlich durch das Fallbeil vollzogen wurde. Der darauffolgende Schock saß so tief, dass er nachts von Alpträumen gequält wurde.
Dann reiste er in die Schweiz. Er hörte den Straßenmusikanten zu, wie sie Gitarre spielten und eine knappe Stunde lang Lieder sangen. Ihre anmutigen Stimmen bewunderte er. Aber niemand von den Touristen machte Anstalten, ihnen ein (Geld)Geschenk zu geben oder Dankeschön zu sagen. Im Gegenteil, sie lachten über sie und verhöhnten sie nur. Die meisten von ihnen waren Engländer.
Tolstoi kochte vor Wut. Zum Teufel, soll das denn heißen, dass die Menschen dieses „höchst zivilisierten Landes“ den Wert der Kunst nicht zu schätzen wissen!
Ich kann es niemals zulassen, dass ein Mensch auf einen anderen herabschaut oder ihn verschmäht! Von einem überaus unsagbaren Zorn getrieben, schrieb er über die Geschehnisse innerhalb von zehn Tagen einen Roman.
Entwickeln sich die Menschen wirklich?
Kann jenes arrogante Verhalten der Menschen, die ihren Mitmenschen gegenüber kein ehrliches Gefühl zeigen, als Zivilisation bezeichnet werden?
Ich kann mich an einen Dialog mit Dr. Arnold Toynbee (1889-1975) erinnern. Dieser bedeutendste Historiker des 20. Jahrhunderts stellte fest:
„Im Durchschnitt hat sich das Niveau der moralischen Handlungen der Menschheit bis heute nicht gebessert. Demzufolge gib es gar kein Argument, aus dem hervorgeht, dass die sogenannte zivilisierte Gesellschaft in rein moralischer Hinsicht besser dasteht als eine sogenannte primitive Gesellschaft.“
Ich werde nie vergessen, wie Dr. Toynbee mit ernstem Gesicht sagte:
„Es ist äußerst offenkundig, dass die Menschheit jetzt nach einem Weg suchen muss, um als eine große einheitliche Familie zusammenleben zu können. Denn unter den heutigen Gegebenheiten – atomare Energie dient militärischen Zwecken, Entfernungen werden immer kürzer – gibt es keinen anderen Weg als den, der die Menschheit daran hindert, ihren eigenen Massensuizid herbeizuführen.“
Zu Tolstois Zeiten wurden die Bauern in Russland als „Leibeigene“, nämlich als „Sklaven“ behandelt. Konnte er damit einverstanden sein?
Das war das zentrale Thema, das ganz Russland in einen Strudel riss. Tolstoi machte sich auch darüber Gedanken. Er betrachtete es aus einem spirituellen Blickwinkel.
„Das System der Leibeigenschaft ist ‚moralisch’ verwerflich“, dachte Tolstoi und schlussfolgerte: „deshalb müssen wir es abschaffen.“
Tolstoi, der selbst Gutsbesitzer war, machte sich viele Gedanken darüber, wie er „die Leibeigenschaft seiner Bauern aufheben könnte“ und setzte diese Idee vor der russischen Regierung in die Tat um.
Die ganze Welt steckte voller Diskriminierungen. Vorurteile waren unter den Menschen weit verbreitet. Aber Tolstoi begann Schritt für Schritt voranzugehen, um solch eine Gesellschaft zu errichten, in der alle Menschen ganz menschlich ihr Leben voll genießen konnten.
Tolstoi ging mitten unter die Menschen; er errichtete eine Schule für Bauernkinder, die man bislang nicht einmal wie Menschen behandelt hatte, und unterrichtete sie selbst. Während dieser Zeit schrieb er zahlreiche Anhandlungen über die Erziehung. Diese Schule wurde mit kleinen Unterbrechungen sein ganzes Leben lang betrieben.
Folgende Begebenheit trug sich zu:
Der Lehrer Tolstoi, mittlerweile 33 Jahre alt, fragte: „Nun, wer will ein Sprichwort zum Thema nehmen und darüber einen Aufsatz schreiben?“
„Schreib ihn doch selber!“ erwiderte einer der Schüler.
Tolstoi ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen und forderte die Kinder auf: „Wer von euch schreibt am schönsten? Macht jetzt mit mir einen Wettbewerb!“
Während die Kinder mit ihrem Aufsatz schnell fertig waren, schrieb Tolstoi noch immer.
„Willst du die Geschichte nicht lieber so fortsetzen?“ schlug ihm ein Schüler vor.
„Nein, besser so!“ so ein anderer.
Über ihre dichterische Fantasiekraft war Tolstoi völlig erstaunt.
Zusammen mit den zwei Schülern, die bis spät in die Nacht in der Schule blieben, beendete Tolstoi die Geschichte.
„Ich muss wohl zugeben, dass ich sie mit euch zusammen geschrieben habe, und möchte sie als unser Gemeinschaftswerk veröffentlichen!“
Wie groß war die Freude der beiden Kinder, als sie Tolstoi so reden hörten! Und er selbst war aufgeregt, denn er entdeckte in den Kindern einen glänzenden, strahlenden „Schatz“. Später schrieb er, dass die Erziehung einer „Schatzsuche“ gleiche.
In der pädagogischen Zeitschrift, die Tolstoi herausgab, ließ er ein Zitat von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) abdrucken:
„Du, der du denkst, andere zu erziehen, lässt dich doch vielmehr von ihnen erziehen.“
(aus „Faust“, sinngemäße Rückübersetzung)
Es dauerte nicht lange, bis die Militärpolizei es auf diese liberal betriebene Schule abgesehen hatte. Eines Tages drangen die Polizisten plötzlich in die Schule ein und zwangen Tolstoi, seine Schule zu schließen. Tolstoi war von Wut entbrannt.
„Das ist eine ungeheure Beleidigung!“
„Ich werde aber weder flüchten noch mich verstecken!“
(aus „Lev. N. Tolstoj, Biografija“, Birkukov, sinngemäße Rückübersetzung)
Es gibt Menschen, die unterdrücken andere Menschen.
Es gibt Menschen, die andere Menschen dazu anleiten, weiser, stärker und lebendiger zu werden.
Das war der Prolog für die Auseinandersetzung, für die Tolstoi sein ganzes Leben einsetzte. Er schrieb in einem Brief:
„Falls alle Menschen, die dich umgeben, böse sind, dann schließ dich nicht zu Hause ein. Genauso wenig sollst du versuchen, ihnen gegenüber ‚liebes Kind’ zu spielen.“
Auch jetzt gibt es Kräfte, die die Menschen unterdrücken, wie zum Beispiel die Verwaltungsgesellschaft, Mammonismus und Machtgier. Sie haben eine Eigenschaft, Menschen nach allen Kriterien einzuordnen, zu trennen und zu entkräftigen. Sie üben über die Menschen eine Macht aus, die ihnen die Kraft zum Leben raubt.
Nichtsdestotrotz wohnt allen Menschen ein grenzenloses Potenzial inne. Dieser unübertreffliche Schatz existiert in jedem Individuum.
Nichiren Daishonin schreibt an seinen Schüler Abutsu-bo einen Brief: „Demzufolge sind Sie, Abutsu-bo, identisch mit dem Schatzturm, und der Schatzturm ist identisch mit Abutsu-bo. Alle Erkenntnisse außer dieser sind nutzlos.“ (Gosho Band I, Seite 61; japanische Gosho, Seite 1304)
Der Daishonin lehrt uns darin eindeutig, dass jeder Mensch, der das Mystische Gesetz beibehält, selbst der „Schatzturm“ ist, und dass unser eigenes Leben selbst eine „Ansammlung vieler Schätze“ ist. Und er erklärt weiter, dass es uns eigentlich genügt, wenn wir uns dieser Erkenntnis bewusst sind. Der Buddhismus des Daishonin hat in sich eine Funktion, die unserem eigenen Leben innewohnenden grenzenlosen Schätze hervorzubringen.
Tolstois schöpferische Energie konnte erst ab dem Zeitpunkt in die Literatur einfließen, als er sich im Alter von 34 Jahren Sophia A. Behrs zur Frau nahm (Sep. 1862). Seine Frau scheute keine Mühe und unterstützte ihn mit großer Hingabe.
Indem er seinen eigenen, originellen Stil entwickelte, der von seinen vielen wertvollen Erfahrungen und Überlegungen geprägt war, vertiefte er sich in den Roman „Krieg und Frieden“ im Alter zwischen Ende 30 und 41 Jahren.
Das Drama dieses Romans spielt sich während des Russlandfeldzugs ab, den Napoleon 1812 unternahm. In diesem von den Russen so bezeichneten „Vaterlandkrieg“ schlug die russische Armee das große Heer Napoleons zurück. Tolstoi war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass diese siegreiche Geschichte noch immer zahlreiche Menschen im Lande in Begeisterung versetzte.
Der Maßstab seines Romans „Krieg und Frieden“ ist grandios, und das ist regelrecht ein Meisterwerk, das man mit einem tiefen Brunnen vergleichen kann, der niemals versiegt. Eine Szene hinterließ in meinem Herzen einen tiefen Eindruck.
Inmitten des heftigen Kampfs zwischen der russischen und der französischen Armee stürzte Fürst Andrej auf dem Schlachtfeld zu Boden. Was vor seinen Augen erschien, war nur der hohe Himmel:
Fürst Andrej dachte: „Wie still, wie ruhig, wie feierlich, gar nicht so, wie ich eben dahergestürmt bin, gar nicht so, wie wir rennen und schreien und kämpfen, und wie sich der Franzose und der Artillerist mit wütenden, entsetzten Gesichtern den Wischer zu entwinden suchten – ganz anders ziehen die Wolken über diesen hohen, unendlichen Himmel dahin. Wie kommt es, dass ich früher niemals diesen Himmel gesehen habe? Wie glücklich bin ich, dass ich ihn endlich sehe. Ja! Alles ist eitel, alles ist Lug und Trug, außer diesem unendlichen Himmel. Es gibt nichts, nichts außer ihm . . . Und auch er ist wohl nicht . . . nichts ist . . . außer der Stille . . . der Ruhe . . . Gott sei Dank!“
Menschen! Wie lange wollt ihr diesen unsinnigen Krieg weiter führen? – ihm kam es so vor, als wollte der Himmel zu ihm sprechen.
Obwohl Tolstoi einen Menschen, der in der reißenden Strömung der Geschichte eine allzu kleine Existenz darstellt, beschreibt, bleibt sein Stil jedoch heiter und kraftvoll. Denn nicht der Krieg, sondern gerade der Friede soll eigentlich Inhalt des menschlichen Lebens sein.
Leben ist alles!
Liebe das Leben!
Wie wunderschön es ist, das Leben zu leben!
Was er besingt, ist der Lobgesang auf ein vitales, lebendiges Leben.
Die Worte, die Pierre am Ende des Romans zu seiner Frau Natascha sagt, sind so etwas wie ein Appell an die Welt:
„Ich sage nur: Reicht euch die Hände, ihr, die ihr das Gute liebt, und lasst uns nur dem einen Banner folgen: werktätige Tugend. (...) Ich wollte nur sagen, dass alle Gedanken, die große Folgen gehabt haben, immer höchst einfach gewesen sind. Meine ganze Idee ist ja nur die, wenn sich die schlechten Menschen miteinander verbinden und dadurch eine Macht bilden, so müssen die ehrlichen Menschen ja nur dasselbe tun. Das ist doch höchst einfach.“
Tolstoi beschrieb die großartige innere Kraft eines misshandelten Volkes. Aus diesem Grund konnte er die Herzen der Menschen in der gesamten Welt bewegen.
Wer Geschichte schafft, sind einfache Menschen!
Tolstois Ruf bleibt ewig bestehen.
Etwa zu der Zeit, als er sich in der Schlussphase seines Romans „Krieg und Frieden“ befand, musste Tolstoi verreisen, um ein Grundstück zu inspizieren, das er kaufen wollte. Es lag so weit weg, dass er für diese Reise fünf Tage brauchte. Unterwegs erwuchs in ihm langsam ein Gefühl der Sinnlosigkeit.
„Wohin gehe ich?“ „Wozu?“
Eines Abends übermannte ihn Furcht. Diese Erfahrung beschrieb er später in „Die Notizen eines Verrückten (?)“:
„’Wovor ängstige ich mich denn überhaupt? Wovor fürchte ich mich?’
‚Vor mir!’ antwortete die Stimme des Todes lautlos, ‚Ich bin hier.’
Eine schauderhafte Kälte erfasste mich.“ (sinngemäße Rückübersetzung)
Tolstoi dachte: Obwohl der „Tod“ allgegenwärtig ist und alles irgendwann einmal zugrunde geht, kann ich mit solchen Dingen (Inspizierung) überhaupt beschäftig sein?
Ich muss den Sinn des Lebens grundlegend überprüfen!
So empfand er ernsthaft. Tolstoi hielt sich selbst die Frage vor, wie er die Ideale, die er in seinem Roman besang, in diesem realen Leben verwirklichte. Er begann, viele Bücher von Philosophen wie Immanuel Kant (1724-1804) und Arthur Schopenhauer (1788-1860) intensiv zu lesen und ernsthaft nach dem Weg zum absoluten Glück zu suchen.
Was ist absolutes Glück?
Was ist das Ziel des Lebens?
Es ist das Glück. Dann: was ist Glück?
Sein Inhalt kann wohl je nach dem Menschen verschieden sein.
Seitdem er sich mit „Krieg und Frieden“ beschäftigte, setzte sich Tolstoi für die Heiratspläne seines zweitältesten Bruders Sergej und seiner jüngeren Schwester Maria und weiter für das Glück ihrer Familien voll und ganz ein. Unklar ist bis heute, ob seine Geschwister wirklich glücklich wurden. Sergej, der eine Frau aus einem Volk heiratete, dem die Gesellschaft diskriminierend gegenüberstand, wurde wiederum von der Gesellschaft fallen gelassen. Seine Schwester Maria indessen konnte in ihrer Familie nicht glücklich werden und ging schließlich in ein Kloster.
In seinem Roman „Anna Karenina“, den er nach „Krieg und Frieden“ im Alter zwischen 45 und 49 Jahren schrieb, wird die Tragödie einer Frau beschrieben, die von der unvernünftigen Gesellschaft erdrückt wird, weil sie reinen Herzens nach wahrer Liebe sucht.
Konflikte zwischen ihm und seinen Geschwistern bildeten den Hintergrund, der Tolstoi dazu bewegte, diesen Roman zu schreiben.
Anna, die Protagonistin dieses Romans, besitzt einen vornehmen Ruf und alles Glück. Durch die feinen Differenzen im Herzen zwischen Anna und ihrem Mann geht das Familienglück zugrunde. Man reißt sie und ihren geliebten Sohn auseinander. Anna versucht ihren Sohn an seinem Geburtstag heimlich zu treffen. Aber als sie ihn dann sieht, ist ihr Herz voller Trauer, vergisst sie ihm die mitgebrachten Spielzeuge zu schenken. Obwohl ihr Sohn nicht genau weiß warum, verspürt er, dass seine geliebte Mutter unglücklich ist und leidet.
In der Gesellschaft, die die Liebe verzerrt, die gepaart ist mit einer herzlosen Voreingenommenheit, verliert Anna, die nach wahrem Glück sucht, mit der Zeit dennoch alles, was sie hat.
Hingegen fragt sich Lewin (Ehemann von Anna), der sich aus der Sicht der Gesellschaft auf dem Gipfel des Glücks befinden sollte, im letzten Teil des Romans:
„Ohne zu wissen, was meine Existenz für einen Sinn hat und warum ich überhaupt auf der Welt bin, kann ich nicht leben. Dennoch kann ich es nicht wissen, also ich kann nicht weiterleben.“
Der Sinn, um weiterzuleben, wurde ihm unklar. Auf der Klippe, unmittelbar vor seinem Selbstmord, hält sie sich doch zurück. Anna war unglücklich, und Lewin, der von der Liebe umgeben war, konnte auch nicht glücklich sein. Wo bleibt dann Glück?
Es waren die Worte eines einfachen Bauern (Fjodor), der auf diese schwierige Frage die Antwort gab: „Lebe fürs Seelenheil!“
Anlässlich des Dialogs mit einem einfachen Menschen erwacht Lewin zum Glauben.
Tolstoi, der die Menschen durch und durch erforschte, wendet seine Schritte dann schließlich in Richtung Religion.
(aus „Seikyo Shimbun“ vom 16. Dezember 2002)
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