**Essay Nr. 33 ** „Die wunderbare Begegnung“ von SGI-Präsident Ikeda =================================================== **Herr Demirel, ** **Ex-Staatspräsident der Republik Türkei ** **Schlagen wir eine Brücke zwischen „West“ und „Ost“! ** Auf der Welt gibt es verschiedene Länder. Zum Beispiel in Japan wird der Mietspreis für eine Wohnung, in die die Abendsonne hinein scheint, wegen der lang anhaltenden Hitze im Vergleich mit anderen Wohnungen stark herabgesetzt. Jedoch im Gegensatz dazu wird in den skandinavischen Ländern auf eine solche Wohnung in ähnlicher Lage, wo der Sonnenschein heiß begehrt wird, mehr Wert gelegt. Sie gilt dort als „gute Wohnung“. Es gibt eine Kultur, in der beim Gespräch „jemanden direkt ins Auge zu schauen“ als unhöflich betrachtet wird, und es gibt wiederum eine andere Kultur, in der man „jemanden nicht direkt ins Auge zu schauen“ als unhöflich ansieht. In Japan isst man den Reis üblicherweise aus der Schale, indem man sie in die Hand nimmt. Diese Art aber ist in Korea nicht vornehm. Oder wenn man aber meint, es müsse höflich sein, dass man bei der Unterhaltung seinen Gesprächpartner nicht anhaucht, besteht eine Möglichkeit, von jemandem wie den Arabern missverstanden zu werden; sogar könnte man sie beleidigen, sie aber denken: „Warum will er mich nicht als Freund behandeln?“ Denn sie leben gerade gegensätzlich zur westlichen Kultur in einer Tradition, dass beim Gespräch den „Mundgeruch des Freundes zu riechen“ wunderbar sei. In der Welt gibt es auch solche Menschen, die bereit sind, sich ihrem „Vaterland“ zu widmen. Genau so gibt es wiederum solche Menschen, die der Ansicht sind, der Staat sei nichts anderes als eine Art Dienstleistungsorgan. Daher sind sie bereit, in ein Land zu gehen, das die bestmögliche Dienstleistung anbietet. Bevor wir darüber diskutieren, ob dies gut oder schlecht ist, ist es meines Erachtens für uns wichtig zu wissen und zu erkennen, dass es überhaupt solche Gedanken gibt. Das „Verständnis über andere Kulturen“ zu vertiefen ist jetzt, wo die Welt näher zusammengerückt ist, ein dringendes Anliegen. Vor einiger Zeit ereignete sich in New York zwischen einem Haitianer und einem Koreaner ein Streit. Denn es gab im Hintergrund kulturbedingte unterschiedliche Auffassungen der Beteiligten. Ein Haitianer berührt während der Unterhaltung gern die Hand oder den Arm seines Gesprächpartners. Das ist seinerseits ein Ausdruck der Freundschaft. Aber im ostasiatischen Kulturkreis wird eine derartige Geste im allgemeinen nicht der Form der Höflichkeit entsprechend angenommen. Wenn beispielsweise ein Ostasiat sich weigert, angetastet zu werden, könnten die Haitianer dies möglicherweise als Grund empfunden haben, vom Koreaner diskriminiert worden zu sein. Oder im koreanischen Geschäft sind die Artikel ordentlich und schön dekoriert zur Schau gestellt. Dabei hoffen sie, dass die Waren nicht beliebig berührt werden. Wenn es aber nach dem Haitianer geht, ist es selbstverständlich, dass man die Ware in die Hand nimmt und sie von allen Seiten ausgiebig bewertet, bis man dann einen dementsprechenden Preis aushandelt. Aus solchen Gründen türmten sich die emotionalen Reibungen der beiden Volksgruppen derart auf, so dass es, soviel ich erfahren habe, bis zur Boykottbewegung in den koreanischen Geschäften kam. Was den kulturellen Unterschied angeht, kann er, falls die menschliche Beziehung tief verankert ist, als eine neue Entdeckung betrachtet werden, wodurch die Partner ihren Respekt gegenseitig vertiefen können. Jedoch ist es oft der Fall, dass der kulturelle Unterschied auch ein Missverständnis verursacht und die Menschen zum Zwist führt. Der größte Fehler ist, etwas „anderen aufzuzwingen“. Auf jeden Fall müssen wir uns darum bemühen, zuzuhören, was und wie die anderen denken! Es ist jedoch oft der Fall, dass man sich von der Arroganz, „keine Ohren zu haben, auf andere zu hören“, selbst schwerlich bewusst werden kann. Heute leben wir in einer modernen Zeit, in der wir mannigfaltigen Kulturen begegnen. Was ist überhaupt notwendig, um zu vermeiden, dass diese „Begegnung“ der verschiedenen Menschen und Kulturen nicht zum „Zusammenprall“ führt, sondern sie zum harmonischen „Zusammenspiel“ der Freude werden zu lassen? Die Freiheit wurde angekettet ------------------------------- Der Kosename von Herrn Demirel, dem Ex-Staatspräsidenten der Türkei, war „Baba“, was „Vater“ heißt. Bis er im vorigen Jahr sein Amt niederlegte, arbeitete er über vierzig Jahre lang im Zentrum der türkischen Politik. Er ist jemand, der vom starken Sturm der Gesellschaft ständig umhergeworfen worden ist. Er wurde siebenmal Premierminister und erlebte dabei zweimal einen Staatsstreich. Bei dem zweiten Coup d’état (1980) wurde er auch verhaftet und eingekerkert. Er machte einen Aufruf: „Wer jetzt ins Gefängnis geworfen wurde, das bin nicht ich, sondern das türkische Volk. Nicht ich wurde angekettet, sondern die Demokratie, die in der Türkei Wurzel zu schlagen begann.“ Die Armee befahl, die Partei aufzulösen, und dass Herr Demirel in den nächsten zehn Jahren keine polischen Tätigkeiten ausführen durfte. Er war tatsächlich sieben Jahre lang „angekettet“. Es war im Oktober 1992 – fünf Jahre nach der „Befreiung“ – als ich ihn traf, als er nach Japan kam. Er hielt das Amt des Premiers gerade zum siebten Mal inne. Kreuzung von Ost und West sowie Süd und Nord ---------------------------------------------- Es war um die Zeit, in der der Golf-Krieg nach dem Kalten Krieg zu Ende ging. Der Premier sagte zu mir: „Die Welt verändert sich und bewegt sich heftig. Gerade deshalb ist die Handlung für den Frieden von entscheidender Wichtigkeit.“ Darauf entgegnete ich: „Gerade die Türkei befindet sich in einer Position, wo sie eine Schlüsselrolle spielen möge, Ost und Nord zu verbinden und Süd und Nord zusammenzuschließen. Ihr Land hat für die Verschmelzung der Menschheit eine mystische Aufgabe.“ Denn in der Tat gibt es in der Türkei sowohl Asiatisches als auch Europäisches. Ein halbes Jahr vor diesem Treffen befand ich mich in Istanbul und schaute die „Meerenge des Bosporus“ an. Das war bei meinem Besuch, den ich nach dreißig Jahren wieder der Türkei abstattete. Das westliche Ufer der schmalen Meerenge liegt in Europa, und das östliche Ufer in Asien. Die Reisenden, die aus dem Okzident kommen, begegnen der duftenden „orientalischen Welt“, und die Reisenden, die aus dem Morgenland kommen, können hier dem Abendland, dem Herrscher der neuzeitlichen Welt, begegnen. Die Welt wird für die Reisenden aus den beiden Richtungen anfangen, ein „anderes Gesicht“ zu zeigen. Und im Norden liegt die slawische Welt einschließlich Russland, im Süden das „Mittelmeer“ und „Afrika“. Darüber hinaus besteht eine neue Bindung, die nach dem Verfall der Sowjet-Union zwischen den fünf Republiken (Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Turkmenistan und Aserbaidschan) entstanden ist. Es ist die Türkei, in der Homer geboren wurde, und in die Alexander der Große (Alexandros III, 356-323 v. Ch.) ritt. Eine Zeit lang florierte dort die griechische Zivilisation. Im Zeitalter des „byzantinischen Reichs“ war die Türkei das Zentrum der christlichen Welt. Und genau so im osmanisch-türkischen Zeitalter war sie das Zentrum der islamischen Zivilisation. Die Mannigfaltigkeit ihrer Geschichte ist wie ein Kaleidoskop – die Menschen, die in der Stadt umherlaufen, sind wirklich vielfältig. Der Boden der Türkei gibt uns einen Eindruck, als ob er die gesamte Menschheit einschließen und vereinigen würde: > „Möge West in meiner Brust Ost werden! Und möge Ost in meinem Haus > West werden!“ > > **Warum stehst du für die Seite der Barbaren? ** Herr Demirel ist als ein belesener Mann bekannt. Als er mir sagte; „Präsident Ikeda, Ihren Dialog mit Dr. Toynee (1889-1975) habe ich schon gelesen“, war ich überrascht. Denn es ist noch kein halbes Jahr vergangen, nachdem das Buch in türkischer Sprache während meines letzten Besuches in der Türkei erschienen war! Dr. Toynbee. Er ist jemand, den ich herzlich vermisse. Und auch für ihn war die Türkei ein Land mit einer besonderen Bedeutung. Das kommt daher, weil die Türkei ihm vor allen anderen Historikern einen Anlass gab, von der „westlich orientierten Weltanschauung“ auszusteigen. In seiner Wohnung in London erzählte er mir: „Einst musste ich meine Kündigung bei der London Universität einreichen. Denn ich habe einmal über die Türken geschrieben, wie ich sie mit meinen Augen gesehen habe, und dies veröffentlicht. Das hat die Menschen verärgert, die über die Türken Vorurteile besaßen.“ Wenn das 1921 geschehen sein sollte, war er erst 32 Jahre alt. Er ging zu dem Ort des Geschehens, um die wirkliche Lage des „griechisch-türkischen Kriegs“ genau zu untersuchen. Erst betrachtete er den Krieg seitens der Griechen, und dann von der türkischen Seite her. Das war für Dr. Toynbee unbedingt notwendig. Warum? Weil er seit langem von einem Aphorismus von Augustinus (354430) angeführt wurde, der lautete, „man solle von einer anderen Partei hören“. Insbesondere legte er großen Wert auf eine der beiden Parteien, für die ungerechterweise die größere Gefahr bestand, nicht gehört zu werden. Er schreibt: „Wenn man die Sachlage richtig ansehen will, muss man bestrebt sein, sie von der Seite derjenigen, die schweigen, zu sehen.“ „In diesem Krieg sind die Griechen wieder diejenigen, die das Recht für die Veröffentlichung monopolisieren. Die Länder des Westens hörten zu, was die Griechen sagten, und die Europäer beherrschten die Welt. Ich kannte mich in der Rechtfertigung der Griechen aus. Daher dachte ich, es könnte genügen, selbst wenn man sie einfach sprechen lässt. Aber ich musste bestrebt sein, zu hören und zu verstehen, wie die Türken sich äußern wollten.“ So ging er in die Stadt, in der unzählige Türken massakriert wurden. Und er sah mit seinen Augen das Elend der türkischen Flüchtlinge. Wie kann es überhaupt möglich sein, dass eine derartige Tragödie in Europa nicht bekannt ist! Dr. Toynbee schrieb alles, was er tatsächlich sah, und schickte seinen Artikel per Telegramm an einen Zeitungsverleger nach England. Der Chefredakteur der Zeitung „Manchester Guardian“ ließ Dr. Toynbees Artikel mutig unverändert veröffentlichen. Warum „mutig“? Denn im Westen waren seit mehreren Jahrhunderten Berichte verbreitet worden, dass die Türken so barbarisch wie Kannibalen und fast keine Menschen seien! Umso schlimmer erging es den Türken, weil zu jener Zeit in Europa die Erinnerung an die frische Tat wieder erweckt wurde, dass die osmanischen Türken unzählige Armenier auf grausame Weise umgebracht hatten. Es war unnötig zu sagen, dass nach der Veröffentlichung des Artikels vehemente Kritiken der Leser an den Verleger geschickt wurden. „Wie unverschämt, dass ihr so „einen gegenüber den Türken sympathischen Artikel“ veröffentlicht habt, von denen zu sprechen man sich überhaupt bitter schämen muss.“ Es gereichte dem Zeitungsverleger zur Ehre, „dass er sich nicht vor dem christlichen Vorurteil gegen die Gläubigen des Islam beugte“. Auf der türkischen Seite aber war das Echo riesig. „Was! Ist ein Engländer zum türkischen Flüchtlingslager gegangen? Das ist erstaunlich! „Was! Hat dieser Engländer seinen Bericht geschickt, wie er die Lage tatsächlich gesehen hat? Ist das wirklich wahr? Zum Teufel! Ist der Bericht, wie er geschrieben wurde, in der Zeitung in England veröffentlicht worden? Ich kann das gar nicht glauben! Zeige mir die Zeitung her! Tja, das ist wahr! Es ist das erste Mal. Zum ersten Mal ist das, was wir sagen wollten, in der ganzen Welt veröffentlicht worden! > **Ein Land, in dem „die Welt anders betrachtet werden“ kann. ** Über die Menschen, die sich mit strahlenden Gesichtern um die Zeitung versammelten, erzählte Dr. Toynbee so lebendig, als ob er alles erst gestern erlebt hätte. Solange wir die Welt nur von der Seite des Westens anhand der westlichen Medienberichte betrachten, können wir das „wahre Wesen“ des Geschehens nicht richtig erkennen. Es gibt eine Welt, die von Afrika aus gesehen wird, es gibt eine Welt, die von Arabien aus gesehen wird. Und es gibt eine Welt, die von Lateinamerika aus gesehen wird. Genau so gibt es eine Welt, die von Minderheitsvölkern aus gesehen wird. Die „Globale Gesellschaft“ kann sicher keine andere Bezeichnung für die „EuropäischAmerikanische Gesellschaft“ sein. Im Zug auf dem Heimweg von Istanbul fasste Dr. Toynbee ein Konzept über sein Lebenswerk „Studie der Geschichte (Study of Histry)“ in eine Notiz. Zu einem späteren Zeitpunkt errichtete er eine epochale geschichtliche Anschauung, die als „Anschauung der globalen Menschheit“ bezeichnet werden kann, und schenkte sie der Menschheit. Nichtsdestotrotz wurde Dr. Toynbee, der von der Öffentlichkeit als jemand betrachtet wurde, der versuchte, die Türken zu beschützen, von der London Universität verwiesen. Er sagt: „In den darauffolgenden dreiunddreißig Jahren habe ich in einer privaten wissenschaftlichen Einrichtung ‚Royal Institute of International Affairs’ Jahresberichte über internationale Themen geschrieben und damit meinen Lebensunterhalt verdient.“ Leiden in der Geschichte der modernen Türkei ---------------------------------------------- Ex-Staatspräsident Demirel wurde im Jahr 1924 geboren. Das war genau das Jahr, in dem Dr. Toynbee sein Lehramt an der London Universität niederlegte. Während der Grundschulzeit hütete er die Schafe und half seinen Eltern auf dem Bauernhof. Er besuchte sowohl die Mittelschule als auch die höhere Schule mittels eines Stipendiums. Als er zum ersten Mal für die Wahl kandidierte, appellierte er an die Wähler: „Ich bin Demirel, der Sohn des Schäfers.“ Mit vierzig Jahren wurde er Premierminister. Er wurde der „Kennedy der Türkei“ genannt“. Seit der Zeit befindet er sich fortgesetzt auf einer Reise zum fernen Ziel. Die Geschichte der modernen Türkei ist im gewissen Sinne ein experimentaler Ort für den „Dialog zwischen der abendländischen Zivilisation und der islamischen Zivilisation“. Die „türkische Revolution“, die von Kemal-Atatürk (Mustafa Kemal, 1881-1938), dem ersten Staatspräsidenten der Türkei, angeführt wurde, brachte eine rasche Modernisierung mit sich. „Modernisierung“ bedeutete „Europäisierung“. Zu dem Zweck wurde die „Ent-Islamisierung“ des Staates fast in übertriebenen Maßen durchgeführt. Das System der staatlichen Religion wurde abgeschafft, und die Politik wurde von der Religion getrennt sowie die Erziehung von der Religion. Die Benutzung der arabischen Schriften wurde untersagt, und es ging zu den römischen (lateinischen) Schriften über. Der wöchentliche Feiertag wurde von Freitag auf Sonntag verlegt. Und als Kalender wurde ebenfalls der Sonnenkalender anstelle des islamischen Kalenders benutzt. Den Schleier (Çarºaf), mit dem die Frauen ihr Gesicht verbargen, sowie den türkischen Hut (Fes) zu tragen, wurde ebenfalls verboten. Das war eine große Revolution, die mit der Meiji-Restauration Japans verglichen werden kann. Trotz vehementer Widerstände setzte Kemal-Atatürk seine Linie durch. Obwohl die Europäisierung fortschritt, wurde die Kluft zwischen den Armen und den Reichen nicht geringer, auch die Widersprüche der Gesellschaft verschwanden nicht. Von den siebziger Jahren an entwickelte sich eine Bewegung, in der die Menschen versuchten, wieder zum Islam zurückzukehren. Diese Bewegung wurde dahin gehend geführt, um den Menschen zu ermöglichen, ihre Frustration zum Ausdruck zu bringen. > **Ein Land, in dem die abendländische Zivilisation und die islamische > Zivilisation zusammen treffen. ** Fürwahr sind sie islamisch, obwohl sie europäisiert sind. Und sie sind Mitglieder Europas, obwohl sie Islamiten sind.“ Es wuchs die Zahl der Menschen, die in ihrer Tradition einen Ort vermissten, wo sie ihr Gefühl der Unsicherheit beruhigen konnten. Und wenn ihr Gefühl gegen den Westen durch irgendein Ereignis entfacht wurde, wurde die politische Bewegung weiter verschärft. Es gab einen Zusammenstoß zwischen dem rechten und dem linken Flügel. Es ereigneten sich Volksaufstände; Terroranschläge und Zerstörungen nahmen in rasantem Tempo zu. Wenn die Lage sich zuspitzt, stärkt sich die Macht der Armee unter dem Motto, in der Gesellschaft wieder eine Ordnung zu gewinnen. Das ist nun einmal die beständige Realität in der Geschichte. Der Grund der Verhaftung Herrn Demirels war auch auf die Machtübernahme durch das Militär zurückzuführen. In einer derartig stürmischen Zeit setzte er seine Position, die „Freiheit und die Demokratie zu beschützen“, konsequent durch und fuhr in seinem Kampf fort. Er entging mehrmaligen Mordanschlägen. Nachdem Staatspräsident Özal (1927-1993), mit dem ich ebenfalls zusammentraf, im Jahr 1993 verstarb, ist Herr Demirel nachfolgend Staatspräsident geworden. Die Gefahr, alle Menschen über einen Kamm zu scheren ----------------------------------------------------- Herr Demirel sagte mir ernst: „Unter allen wichtigen Angelegenheiten gibt es nichts wichtigeres als den Frieden. Und für den Frieden müssen wir mit anderen Menschen zusammen arbeiten, indem wir ihnen vertrauen. Während der Zusammenarbeit können wir das Vertrauen gegenseitig verstärken und müssen alle Probleme, was auch immer geschehen mag, freundschaftlich lösen.“ Ich bin völlig seiner Meinung. Wichtig ist, einander kennen zu lernen und Freunde zu werden. Was noch wichtig ist, nicht einfach zu bestimmen oder zu entscheiden, „dass miteinander zu reden sich nicht lohne“. An jenem Tag sagte Dr. Toynbee zu sich: „Wir sollten die Türken nicht über einen Kamm scheren. Dadurch können wir die Menschlichkeit jedes einzelnen Menschen nicht mehr sehen. Es ist wichtig, das Individuum, das lebt, zu sehen. Es gibt keine andere Möglichkeit noch eine andere Lösung des Problems.“ Diesen Entschluss hegte Dr. Toynbee tief im Inneren und setzte ihn in die Tat um. Er lernte selbst türkisch und schloss Freundschaft mit den Türken. Er sagte auch: „Unabhängig von Religion, Nationalität und Rasse können wir schließlich feststellen und sogar erkennen, dass diejenigen, mit denen wir uns mit der Zeit persönlich anfreunden, Menschen sind, wie du und ich.“ Die Gewalt, die durch das „Image“ erzeugt wird ------------------------------------------------ Ist die Gefahr, alle Menschen über einen Kamm zu scheren, seit Lebzeiten Dr. Toynbees geringer geworden? Leider können wir dies nicht mit Sicherheit sagen. Es ist möglich, dass die durch das Image erzeugte Gewalt sogar zugenommen hat. Zum Beispiel reiste ein Journalist, der davon hörte, dass sich die Menschen in Skandinavien trotz des Pflegesystems in der Wohlfahrtgesellschaft einsam fühlen und die Selbstmordrate steigen würde, nach Schweden und fragte die Menschen, die auf der Bank im Park saßen, einen nach dem anderen: „In welchem Park kann ich die einsamen älteren Menschen fotografieren?“ Informationen, die nach einer bestimmten Schablone gemäß einem vorgefassten Image zugeschnitten sind, stark verbreitet. Wenn man im Fall eines Kriegs ununterbrochen nur solche Bilder im Fernsehen sieht, die darüber berichten, dass man vom Gegner angegriffen wurde, wird der Zorn des Volks immer stärker geschürt. In solchen Fällen ist es üblich, dass Bilder, in denen die durch das gegnerische Bombardement sich in einem höllischen Zustand befindlichen Menschen dargestellt sind, nicht gezeigt werden. Der technische Fortschritt der Medien bringt die Gefahr mit sich, das bereits aufgebaute Image noch zu vergrößern. Solche Fallen lauern überall auf uns. **Seien Sie sich bitte dessen bewusst! ** > **– Ihrer eigenen Arroganz und Ihrem eigenen Vorurteil! ** Deshalb ist es notwendig, dass jeder einzelne von uns sich selbst fragt. Ob ich das durch die Medien projizierte Image einfach übernommen habe oder nicht? Ob ich vage Informationen einfach angenommen habe, ohne sie zu überprüfen oder nicht? Ob ich mein Vorurteil unbewusst gestärkt habe oder nicht? Inwieweit weiß ich eigentlich über die Tatsache des Geschehens Bescheid? Habe ich sie selbst überprüft? Bin ich zum Ort des Geschehens gegangen? Habe ich die Betroffenen des Geschehens getroffen? Habe ich versucht, herauszufinden, was sie sagen wollten? Bin ich nicht derjenige, der sich vom böseartigen „Gerücht“ auf der Nase herumtanzen lässt? Ich denke, ein solcher „Dialog mit sich selbst“ ist von entscheidender Wichtigkeit. Ein Mensch, der sich dessen bewusst ist, „ich muss wohl zahlreiche mir selbst unbekannte Vorurteile haben“, kann im Gegensatz zu solchen Menschen, die sich einbilden, dass sie selbst gar keine Voreingenommenheit hätten, die Dialoge mit den Menschen fremder Kulturen besser und reibungsloser führen. Menschen, die aufgehört haben, sich selbst zu reflektieren und einen Dialog mit sich selbst zu führen, werden dogmatisch. Sie sind mit einer Einbahnstraße vergleichbar; sie können weder anderen zuhören noch miteinander reden. „Dialog“ um des Friedens willen. Denn der Ausgangspunkt des Friedens liegt im aufrichtigen „Dialog mit sich selbst“. Brücke, die Arabien und den Westen verbindet ---------------------------------------------- Während seiner Studentenzeit an der technischen Hochschule Istanbul erzählte Ex-Staatspräsident Demirel seinen Kommilitonen von einem Traum, den er verwirklichen wollte: „Ich werde an der Meerenge des Bosporus eine Brücke schlagen. Sie soll Europa und Asien zusammenschließen!“ Im späteren Zeitpunkt konnte die „Brücke des Bosporus“, die aus zwei Teilen besteht, mit japanischer Hilfe fertig gestellt werden. Sein Traum ging in Erfüllung. Eine „Brücke“ zu schlagen, ist von großer Wichtigkeit. Ohne sie kann kein Mensch hinübergehen. Falls eine „Brücke“ existiert, können die Menschen den Weg bahnen und ihm nach und nach folgen. Japan sollte meines Erachtens noch mehr bestrebt sein, um zwischen der arabischen Welt und der europäisch-amerikanischen Welt eine „Brücke des Dialogs“ zu schlagen. Denn Japan hat einerseits historisch gesehen der arabischen Welt gegenüber kein „Minus-Erbe“ und ist andererseits mit Europa sowie Amerika befreundet. Jeder Mensch ist ein „Erdenbürger“ ------------------------------------ Ich denke: Wenn ein Mensch geboren ist, ist er nicht als ein Türke geboren worden und auch nicht als ein Amerikaner. Er ist weder als ein Palästinenser noch als Jude geboren. Solche Bezeichnungen haben nicht mehr Bedeutung als ein kleines „Losungswort“. Jeder von uns wurde bei seiner Geburt als ein einzigartiges „Leben“ entbunden. Er ist als „Mensch“ geboren. Keine Mutter hat sich gewünscht, dass sie einen Japaner oder einen Araber gebären wollte. Sie muss sich lediglich gewünscht haben, dass ihr Kind gesund geboren werden und prächtig wachsen möge. Unabhängig davon, in welchem Land und mit welchem Namen das alles bezeichnet wird; Rose ist Rose, Veilchen ist Veilchen, und Menschen sind Menschen. Die Wolken, die sich hoch über die blaue Meerenge des Bosporus in die Ferne bewegen, sowie der Wind mögen sich, während sie auf die Menschheit auf der Erde hinunterschauen, leise miteinander unterhalten: „Seien Sie sich bitte dessen bewusst! Von diesem hohen Himmel aus ist die Welt eins. Alle Menschen sind Erdenbürger. Dass es keinen „Amerikaner“ gibt, Dass es keinen „Araber“ gibt. Wer da existiert, ist das „Leben“ eines Jungen, der mit dem Namen „Bob“ zufälligerweise in Amerika wohnt, Und das Leben eines Jungen, der mit dem Namen „Mohammed“ zufälligerweise im Irak wohnt. Sie sind die gleichen „Kinder der Erde“. Nichtsdestotrotz werden sie je nach der Bezeichnung des Landes geteilt und unterwiesen, sie sollten sich gegenseitig hassen! Seien Sie sich bitte dessen bewusst! Von dieser Dummheit, von dieser Arroganz! Und von der Grausamkeit, diesen Hass in nächste Generationen weiter zu tragen! Das „Bewusstsein des Erdenbürgers“ ist jetzt dringend erforderlich. Es existiert nicht irgendwo in der Ferne, und sicher nicht im Bildschirm des Computers. Sondern im „Herzen“ der Menschen, die als menschliche Wesen die Schmerzen anderer Menschen auf sich nehmen: „Solange Sie leiden, leide ich mit. Unabhängig davon, wer Sie sind, und was Ihr Leid ist.“ (Auszugsweise: am 30. September 2001)