**Ein Jahrhundert des Lebens erschaffen und aufrecht erhalten:** **Herausforderungen für ein neues Zeitalter** Endlich sind wir in ein neues Jahrhundert eingetreten. Zu einem solchen Zeitpunkt ist es natürlich, dass es ein großes Maß an Hoffnung wie auch an Besorgnis gibt. Verglichen mit den intellektuellen Strömungen, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts populär waren, fehlt heute etwas, das damals allgegenwärtig war: Ein Gefühl von Optimismus. Natürlich gibt es große Erwartungen hinsichtlich des Fortschritts der Wissenschaft und Technologie - besonders auf den Gebieten der Informations- und Biotechnologie. Aber es gibt auch große negative Vorzeichen an der politischen und wirtschaftlichen Front, besonders in Japan. Was wird das neue Jahrhundert bringen? Ich glaube, dass heute viele Menschen ein tiefes Gefühl von Desillusionierung verspüren. Sie fragen sich, ob das zwanzigste Jahrhundert wirklich eine Zeit des Fortschritts für die Menschheit war. Wenn der bemerkenswerte Fortschritt der Wissenschaft und Technologie auch viel Segensreiches mit sich gebracht hat, so haben die unaufhörlichen Kriege und die nie zuvor da gewesenen Schrecken dieser Zeit doch einen unauslöschlichen Schatten auf die Herzen der Menschen geworfen. Wie können wir diesen dunklen Schatten vertreiben? Welche zentralen Werte sollen den Unternehmungen der Menschen im einundzwanzigsten Jahrhundert zugrunde liegen? Wenn ich über diese Fragen nachdenke, erinnere ich mich an meine Gespräche mit Linus Pauling (1901 - 1994), der als Vater der modernen Chemie gefeiert wird. In unseren Gesprächen, die später in Buchform veröffentlicht wurden, teilte ich mit ihm meine langjährige Überzeugung, dass wir das einundzwanzigste Jahrhundert zu einem "Jahrhundert des Lebens" machen müssen. Dr. Pauling gewährte diesem Konzept seine volle Unterstützung, das er wie folgt beschrieb: "Ein Jahrhundert, in dem den Menschen, ihrem Glück und ihrer Gesundheit weit größere Aufmerksamkeit geschenkt wird." (1) Dr. Paulings Leben umspannte das gesamte turbulente zwanzigste Jahrhundert. Als Wissenschaftler und Friedensaktivist hörte er bis zu seinem Tod im Alter von 93 Jahren niemals damit auf, menschliche und soziale Realitäten zu hinterfragen. Vielleicht hatten deshalb seine Worte so eine einzigartige Bedeutung für mich. Unsere Überzeugung, dass wir die zu überwindenden Herausforderungen oder die einzuschlagende Richtung nicht erkennen werden, solange die Menschheit die grundlegenden Fragen von Leben und Tod nicht in den Griff bekommt, drängte uns zu der Entscheidung, die japanische Ausgabe unseres Dialoges "In Quest of a Century of Life" (Auf der Suche nach einem Jahrhundert des Lebens) zu betiteln. Wie wird die Geschichte das zwanzigste Jahrhundert beurteilen? Eric Hobsbawms bedeutendes Werk "Das Zeitalter der Extreme - Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts (2) enthält in dieser Hinsicht zahlreiche wertvolle Einsichten. Das Einführungskapitel dieses Buches "Das Jahrhundert aus der Vogelschau" enthält die Analysen von zwölf Denkern von Weltruf. Bei der Lektüre beeindruckt, mit welcher Übereinstimmung ein Gefühl schmerzlicher Furcht übermittelt wird. René Dumont (Agronom und Ökologe, Frankreich): "Ich sehe es nur als ein Jahrhundert der Massaker und Kriege." (3) William Golding (Nobelpreisträger, Schriftsteller, Großbritannien): "Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, dass dieses Jahrhundert das gewalttätigste Jahrhundert der Menschheitsgeschichte war." (4) Hobsbawn fragt dann: "Weshalb blickten so viele der Reflexion fähige Denker ohne Genugtuung zurück und ganz gewiss ohne Vertrauen in die Zukunft? Wahrscheinlich nicht nur deshalb, weil es ohne Zweifel das mörderischste Jahrhundert von allen war, über die wir Aufzeichnungen besitzen: mit Kriegszügen von nie gekannten Ausmaßen und von nie da gewesener Häufigkeit und Dauer, unterbrochen nur für kurze Zeit in den zwanziger Jahren, und beherrscht von bis dahin einmaligen menschlichen Katastrophen, die von diesen Kriegen hervorgerufen worden waren (von den größten Hungerkatastrophen der Geschichte bis hin zum systematischen Genozid)." (5) Materieller Fortschritt, spirituelle Rückentwicklung Es mag nicht ganz fair sein, nur auf die dunklen Kapitel der jüngsten Geschichte hinzuweisen. Es gibt sicherlich Aspekte des zwanzigsten Jahrhunderts, die es wert sind, als echter Fortschritt anerkannt zu werden. Allen voran die Tatsache, dass offener Imperialismus und Kolonialismus nicht länger akzeptabel sind. Gleichermaßen haben die Vereinten Nationen trotz ihrer vielen Niederlagen in den vergangenen 50 Jahren kontinuierlich als weltweite politische Organisation gewirkt - weit länger, als ihr Vorgänger, der Völkerbund. Es gibt weit weniger Menschen, die offen demokratische Werte in Frage stellen. Und wenn es auch noch ein langer Weg ist, so sind die Fortschritte der Frauen, ihr Hervortreten in allen Bereichen der Gesellschaft im Verlauf dieses Jahrhunderts, wirklich bemerkenswert. Wenn die Wirtschaft und Technologie auch eher gemischte Resultate hervorgebracht haben, so müssen auf der positiven Seite der materielle Wohlstand (wie schlecht verteilt er auch sein mag) sowie der Fortschritt in den Bereichen Transport, Kommunikation, medizinische Versorgung und Hygiene gezählt werden. Das sind alles Beiträge, deren Wichtigkeit niemand bestreiten wird. Und wenn wir das Ausmaß betrachten, in welchem die Menschheit als Ganzes Zugang zu Menschenrechten besitzt, so gibt es einen riesigen Unterschied zwischen den rechtlichen und institutionellen Strukturen, die vor einhundert Jahren bestanden, und denen, die heute bestehen. Trotz dieser Errungenschaften bleibt die unbestreitbare Tatsache, dass das zwanzigste Jahrhundert eine Zeit unglaublichen Blutvergießens war. Die Schätzung eines Analytikers besagt, dass doppelt so viele Menschen in den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts getötet wurden wie in den vier Jahrhunderten davor zusammengenommen. Das vergangene Jahrhundert war in der Tat eine Zeit des Massengemetzels - Millionentodes - ohne Beispiel in der Geschichte. (6) In abschließender Analyse muss gesagt werden: Das zwanzigste Jahrhundert war eine Zeit, die durch schamlose Missachtung des menschlichen Lebens gekennzeichnet war. Es war eine Zeit, in der die Quellen des Lebens ausgehungert, ausgetrocknet und dadurch zerstört wurden. Des Weiteren ergibt eine sorgfältige Prüfung der Verbesserungen und Fortschritte, die im zwanzigsten Jahrhundert erzielt wurden, dass sie im Grunde genommen alle materieller und physischer Art waren. Blickt man jedoch in die innere Welt, die Welt der menschlichen Spiritualität, so kann man kaum leugnen, dass diese Zeit eher von Rückentwicklung denn von Fortschritt gekennzeichnet war. Das spirituelle Leben der Menschheit scheint einer Einbahnstraße des Schrumpfens und der Verkümmerung gefolgt zu sein. Es hat sich in dem verfangen, was der Buddhismus als "kleines Selbst" bezeichnet, ein Zustand der Isolation, der dann vorherrscht, wenn die Verbundenheit unter den Menschen, zwischen den Völkern und zwischen Mensch und Kosmos abgetrennt wird. Wie kann dieser historische Trend umgekehrt werden, um ein wirkliches Jahrhundert des Lebens hervorzubringen? Das war die historische und gesellschaftliche Herausforderung, die anzusprechen Pauling und ich uns verpflichtet fühlten. Es gab in letzter Zeit viele Arbeiten, die über das zwanzigste Jahrhundert reflektierten. Sie sind nicht nur auf die Forschungen von Historikern beschränkt. Bei den Büchern dieser Art, die zu lesen ich die Gelegenheit hatte, beeindruckte mich die Tatsache, dass es mehr als nur einige wenige sind, die auf eine spirituelle Krise hinweisen. So zum Beispiel in "The Crisis of the Mind" (Die Krise des Geistes), geschrieben in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg von Paul Valéry (1871 - 1945): Dieser Essay von 1919 stellt sehr eindringlich die spirituelle Krise dar, die der erste "totale Krieg" der Welt auslöste. Es gab in der Tat so etwas wie ein ungutes Vorgefühl, dass sich die europäische Zivilisation ihrem Untergang näherte, obwohl sie sich in ihrer glorreichsten Zeit zu befinden schien. (7) Valéry behandelte ausführlich solche Problematiken wie die Unzulänglichkeit des Wissens, die grausamen Ziele, denen sich die Wissenschaft verschrieb, und das Gefühl der Orientierungslosigkeit. Diese Probleme gibt es auch heute noch; Valérys tiefe Einsichten in den spirituellen Bankrott der westlichen Moderne beschreiben eine Flugbahn, die bis in die letzten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hineinreicht. An anderer Stelle untersucht er die Ursachen, die der spirituellen Krise zugrunde liegen. Er zeigt einen Gegensatz zu "unseren Vorfahren, die ihre Philosophie genauso leidenschaftlich dafür eingesetzt haben, das Universum zu bevölkern, wie wir unsere Philosophie später eingesetzt haben, um alles Leben im Universum auszulöschen". (8) Diese Aussage mag zwar eine gewisse ungerechtfertigte Nostalgie für die Vergangenheit wiederspiegeln, doch ich glaube, dass sie etwas Wesentliches über die Zeit, in der wir leben, prägnant zusammenfasst. Ich glaube jedoch nicht, dass der Prozess des "Auslöschens allen Lebens im Universum" beabsichtigt war. Die Bemühungen in den Bereichen der Literatur und Philosophie konnten sich nicht über die verminderten Möglichkeiten der Sprache erheben, um bedeutungsvolle Weltanschauungen zu erschaffen. Diese ernsthaften Versuche, die Sprache wiederzubeleben und einen lebendigen semantischen Raum zu kreieren, schlugen allesamt fehl. Zugleich muss die zentrale wichtige Rolle anerkannt werden, welche die Wissenschaft und Technologie in diesem Prozess spielen. Der Fortschritt der modernen Wissenschaft setzte eine mechanistische Betrachtungsweise der Natur als Objekt von Manipulation und Kontrolle voraus, die ihrem Wesen nach getrennt neben der menschlichen Welt stand. In den letzten fünfundzwanzig Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zeigten gewisse Sachverhalte immer unerbittlicher die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in unserer wissenschaftlichen Herangehensweise. Dazu zählen das dramatische Auftreten einer weltweiten Umweltkrise sowie die Gefahren des Klonens. Diese Technologie stellt ein wichtiges intellektuelles Grenzgebiet dar. Sollte sie jedoch missbraucht werden, könnten sie die Grundlagen unseres Menschseins untergraben. Unser fundamentales Verständnis der Natur und des Lebens muss die Tatsache anerkennen, dass die subjektiven und objektiven Bereiche untrennbar sind und dass die Menschheit ein integraler Bestandteil der Natur ist. Takafumi Matsui, Professor an der Universität Tokyo, argumentierte, dass Descartes berühmtes "cogito ergo sum" (Ich denke, also bin ich) heute durch etwas ersetzt werden sollte, dass sich mehr in Richtung "Ich interagiere, also bin ich" oder "Ich beteilige mich, also bin ich" bewegt (9). Das ist eine Aussage, der ich vollkommen zustimme. Sie passt nämlich zu der Aussage, die meines Erachtens die Essenz der Philosophie von José Ortega y Gasset (1883 - 1955) beschreibt, eine Aussage, die ich in meinem Friedensvorschlag vor vier Jahren zitiert habe: "Ich bin ich selbst plus meine Umstände, und wenn ich die nicht rette, kann ich mich selbst nicht retten." (10) Leben, Herz, Spiritualität Das Leben - nicht im rein biologischen Sinn, sondern im umfassenderen Sinn wie von Valéry angedeutet - steht im Mittelpunkt des steigenden Interesses und der Diskussion im Japan der Jahrtausendwende. Es ist interessant, festzustellen, dass die Worte, die dabei gebraucht werden, tendenziell alte, einfache Begriffe sind, die - historisch betrachtet - eher von Frauen benutzt werden und mehr die Gefühle als den Intellekt ansprechen: "Leben", "Herz", "Spiritualität". Solche Diskussionen wurden von einer Flut schockierender Verbrechen ausgelöst, die an Kindern verübt wurden. Das mag erklären, warum diese Worte verwendet wurden, die direkt das Gefühl ansprechen. Auf einer tieferen Ebene zeichnet sich hier jedoch eine langsame aber wichtige Veränderung in den Anliegen und Werten der Menschen ab: eine lebenswichtige Sensibilität, die mitten im Herzen unseres gegenwärtigen spirituellen Klimas beheimatet ist. Sir Yehudi Menuhin (1916 - 1999) zu treffen, war für mich eine kostbare Gelegenheit, offen und frei mit einem Mann Gedanken auszutauschen, dessen Vision und Errungenschaften als einer der größten Violinisten des Jahrhunderts ich zutiefst respektierte. Sir Yehudi bezog sich gern auf die Worte eines Führers der amerikanischen Ureinwohner, Chief Seattle. Dieser soll in den 1850er Jahren als Reaktion auf ein Angebot von weißen Siedlern, die Land kaufen wollten, eine Rede gehalten haben, aus der Sir Yehudi folgendes zitierte: "Wenn ich mich entscheide, \[das Angebot\] anzunehmen, (...) stelle ich eine Bedingung: Der weiße Mann muss die Tiere dieses Landes wie seine Brüder behandeln. (...) Ich habe tausend verrottende Büffel in der Prärie gesehen, liegen gelassen vom weißen Mann, der sie von einem vorbei fahrenden Zug aus erschossen hat. Ich bin ein Wilder und verstehe nicht, wie das rauchende Eisenpferd wichtiger sein kann als die Büffel, die wir nur zum Überleben töten. Was ist der Mensch ohne die Tiere? Wenn alle Tiere tot wären, würde der Mensch an der großen Einsamkeit des Geistes sterben, denn was immer den Tieren passiert, passiert auch dem Menschen. Alles ist miteinander verbunden. Was immer der Erde widerfährt, widerfährt auch den Söhnen der Erde." (11) Sir Yehudi betonte, wie zutreffend Chief Seattles Worte für unsere Zeit sind - für alle Zeiten. In der Tat können wir es uns nicht leisten, das Bewusstsein und die Sensibilität in dieser Rede als primitiven Animismus abzutun oder sie als bloße idyllische Romantik zu betrachten. Ein derartig diskriminierendes Bewusstsein, das das Abschlachten wilder Tiere zur Unterhaltung erlaubt, rechtfertigt ebenso das gewaltsame Entfernen der Indianer von ihrem Land und ihre Einkerkerung in Reservate. Und darüber hinaus ist es mit dem Ziel, ein neues Jahrhundert des Lebens hervorzubringen, absolut unvereinbar. Diskriminierung ist im Grunde nichts anderes als das Errichten von Barrieren der Unterscheidung zwischen den Erscheinungsformen des Universums, um sie dann mit einer Werte-Hierarchie auszustatten. Dadurch werden die Bande zerrissen, die alles im Universum miteinander verbinden. Mit diesem Akt werden in der Folge Unterdrückung und Ausbeutung gerechtfertigt. In diesem Sinne muss Diskriminierung als Entweihung der Heiligkeit des Lebens verdammt werden. Eine miteinander verbundene, voneinander abhängige Welt "Alle Dinge sind miteinander verbunden." Dieses von Chief Seattle angesprochene Bewusstsein findet sich im Buddhismus wieder und wird dort erweitert. Zugleich betrachtet der Buddhismus das Niederreißen von Barrieren - in der Bemühung, sich der Realität, dem ursprünglichen Wesen des Lebens selbst, zu nähern - als seinen höchsten Auftrag. Dies wird in dem Konzept von einem einzigen Lebensmoment, der sowohl fühlende wie nicht-fühlende Existenzen umfasst, ausgedrückt. Mit anderen Worten, ein wesentlicher Lebensmoment (jpn. ichinen) enthält in sich alle Bereiche der Phänomene (sanzen) \[12\]. Dies umfaßt nicht nur fühlende Wesen, wie menschliches und tierisches Leben, sondern auch nicht-fühlendes Leben, wie Gräser und Bäume, und sogar scheinbar leblose Berge und Flüsse. Gleichermaßen lehrt der Buddhismus, dass die Buddhaschaft - das Potential für höchste Freude, Weisheit und Mitgefühl - in allen Dingen existiert. (13) Wenn es auch präzisere Definitionen von "Lebensmoment" und "Buddhaschaft" gibt, so ist es für den gegenwärtigen Zweck vermutlich ausreichend zu sagen, dass sie im wesentlichen der erweiterten Bedeutung des Wortes "Leben" entsprechen, das ich verwendet habe. Obwohl der Buddhismus die direkte Wertschätzung des Lebens teilt, die den Animismus charakterisiert, weicht sein Ansatz in folgender Hinsicht ab. Der Buddhismus betrachtet das Leben im tiefsten Sinn nicht als etwas, das uns einfach ohne Bemühung verliehen wird, sondern als ein leuchtendes und fruchtbares Reich, das nur durch die eifrigste geistige Bemühung betreten und erfahren werden kann. Es gibt Parallelen zu dem Prozess, den René Descartes (1596 - 1650) in seinem "Discourse on the Method" (Abhandlung über die Methode) (14) beschrieb. Mit anderen Worten: In einer oft absurden und von Widersprüchen erfüllten Welt kann ein vollständig erwachter Lebenszustand nur durch einen Prozess von ständigem und schmerzhaftem Zweifeln und Nachdenken erreicht werden, ein Prozess, der die vollen Ressourcen von Wissen, Emotion und Willen nutzt. Der Eintritt in die gleichberechtigten und unvoreingenommenen Bereiche des Lebens kann nur durch eine Sensibilität erreicht werden, die durch einen dauerhaften und eifrigen Prozess des Suchens poliert und verfeinert wird. Diese Bereiche als unvoreingenommen und gleichberechtigt zu beschreiben, bedeutet jedoch nicht, zu behaupten, dass sie konturlos oder anonym sind. Was ich versuche zu beschreiben, ist das, was der Buddhismus "abhängiges Entstehen" bezeichnet (jpn. engi) - die Tatsache, dass alle Phänomene untereinander verbunden sind und dass die Zyklen des Entstehens (Geburt) und Vergehens (Tod) voneinander abhängig wiederholt werden. Es gibt keine Worte, die diese Realität angemessen beschreiben, obwohl solche Begriffe wie Vollkommenheit, Konzentration, Wachsamkeit, Harmonie, Balance und Einheit dazu einfallen. Der buddhistische Kanon beschreibt diesen Zustand als "jenseits aller Worte, weder durch Gedanken noch Handlungen vermittelbar". (15) Sogar Shakyamuni Buddha in seinem vollständig erwachten Zustand zögerte vor der Aufgabe, diese tiefe und subtile Erleuchtung seinen Zuhörern auf eine Weise zu vermitteln, die weder Missverständnisse noch Verachtung herausfordern würde. Mein eigener Mentor Josei Toda (1900 - 1958), der zweite Präsident der Soka Gakkai, erfuhr wegen seines religiösen Glaubens schwere Verfolgungen durch die japanischen Militärbehörden in den dunklen Zeiten des zweiten Weltkrieges. Unter brutalsten Bedingungen inhaftiert, widmete er seine Bemühungen dem Nachdenken und Suchen nach der Wahrheit. Dadurch war er in der Lage, diesen Bereich des wahren Wesens des Lebens zu erreichen. Während seiner Gefangenschaft entschloss er sich, das Lotos-Sutra mit seinem ganzen Wesen zu lesen und zu verstehen. Mit konzentriertem Gebet zitierte er das Mantra des Lotos-Sutras einige zehntausend Mal am Tag, als er das Sutra wieder und wieder durchlas. Im Sutra "Zahllose Bedeutungen" (jpn. Muryogi kyo), das als Einleitung zum Lotos-Sutra dient, fand er eine Passage, die ihn vollkommen verwirrte. In einem Vers, der den Buddha preist, las er: "Sein Wesen ist weder existent noch nicht-existent; Ohne Ursache oder Bedingung, Ohne Selbst oder Andere; Weder eckig noch rund, Weder kurz noch lang; (...) Weder dies noch das, Weder blau noch gelb, Weder rot noch weiß; Weder ocker noch violett, noch bunt." (16) Alles in allem enthält dieser Vers vierunddreißig solcher Verneinungen. Nach diesem hartnäckigen Prozess, jede Ausdrucksmöglichkeit zu verneinen, fragt man sich: Was ist das für ein Buddha, der dann übrigbleibt oder daraus hervorgeht? Mit einer fokussierten und geschärften Konzentration all seiner spirituellen Kapazitäten gewann Toda die Einsicht - und damit einen großartigen und unzerstörbaren Lebenszustand - dass der Buddha nichts anderes als das Leben selbst ist. Über Todas Erfahrung schrieb ich in meinem historischen Roman "Ningen kakumei" ("Die menschliche Revolution"): "Dieser Augenblick der Öffnung in Todas Leben war ausreichend, um die zukünftige Richtung der Philosophie in unserer Welt zu verändern. Die Zeit wird das ganz sicher zeigen." (17) Das war meine Überzeugung, als ich diese Worte erstmals im Januar 1968 geschrieben habe. Mein Glaube ist seitdem unverändert geblieben. Das kontinuierliche Wachstum der Soka Gakkai International (SGI), die sich mittlerweile in 163 Ländern und Territorien der Welt verbreitet hat, führt seinen spirituellen Ursprung und Antrieb auf Todas Erfahrung im Gefängnis zurück. Darüber hinaus speist sich meine eigene Verpflichtung, aus dem neuen Jahrhundert eine Zeit der Verehrung der Heiligkeit des Lebens zu machen, aus derselben Quelle. Ich bin davon überzeugt, dass die einzigartige und unschätzbare Erfahrung meines Mentors der Dreh- und Angelpunkt für einen Weg aus der Sackgasse sein kann, in der sich die Menschheit befindet. Denn ich glaube, dass seine Erfahrung wirklich universell ist, jeden engen sektiererischen Rahmen sprengt und geeignet ist, das spirituelle Leben der ganzen Menschheit zu bereichern. Die Familie in der Krise Der englische Historiker Arnold Toynbee (1889 - 1975) drängte uns, sich nicht von den oberflächlichen Aspekten der Geschichte gefangen nehmen zu lassen, sondern eher die "langsame, kaum fassbare, unberechenbare Bewegung, die unterhalb der Oberfläche arbeitet und in die Tiefen vorstößt" zu betrachten. (18) In diesem Sinne ist auch meine vorherige Behauptung zu verstehen, der häufige Gebrauch solcher Begriffe wie Leben, Herz und Spiritualität sei in Japan ein Indiz für eine tiefgreifende Veränderung in der Interessensausrichtung der Menschen und somit in den Tendenzen der Zeit. Ich glaube, sie steht ganz einfach für eine Suche nach Identität, nach einer zufriedenstellenden Auffassung von Realität in einer Zeit, in der alle Werte, Strukturen und Systeme auf der elementarsten Ebene in Frage gestellt werden. In den letzten Jahren wurde viel Aufhebens um die Revolution in der Kommunikations- und Internettechnologie gemacht. Die grundlegende Frage bleibt jedoch: Wer wird die Herausforderungen annehmen und die positiven Möglichkeiten dieser Revolution umsetzen? Wo werden die Menschen ein echtes Gefühl von Identität und Zweck finden? Wenn wir solche Fragen nicht angehen, werden wir möglicherweise feststellen, dass die Zukunft, die uns erwartet, alles andere als rosig ist, sondern eine Zukunft, in der Leben, Herz und Spiritualität erstickt und vernichtet werden. Es ist dieses Gefühl der Furcht vor einer unsicheren Zukunft, die die Menschen zu einer inneren Reise oder Suche drängt. In jedem Fall ist es mir unmöglich, den ungetrübten Optimismus zu teilen, den einige Kommentatoren wegen der explosionsartigen Entwicklung der Informationstechnologien empfinden. Das Ausmaß und die Tiefe der Krise, die zur Zeit auf uns zukommt, kann nur innerhalb des historischen Kontextes der spirituellen Entwicklung erfasst werden, die die menschliche Rasse hinter sich hat. Die Familie soll die älteste Form der menschlichen Gemeinschaft sein, und es lässt sich der Standpunkt vertreten, dass die Entwicklung eines Familienverbandes das ist, was uns von anderen Tieren unterscheidet. Nirgendwo sind die Auswirkungen der Krise von Leben, Herz und Spiritualität intensiver spürbar als in der Familie. Eltern-Kind-Beziehungen und Familienbeziehungen ganz allgemein unterscheiden sich von anderen menschlichen Beziehungen dadurch, dass sie im wesentlichen nicht von uns ausgesucht wurden. Sie sollten als etwas erkannt werden, dass aus den Tiefen unseres Lebens entstanden ist, und als solches die realsten und wichtigsten Beziehungen darstellen. Dennoch verlieren selbst diese Bindungen ihre Stärke und sogar ihre Realität. In Japan ist die Krise der Familie in den letzten Jahrzehnten immer offensichtlicher geworden. Sie ist die zugrunde liegende Ursache für das fortdauernde Auftreten der wirklich beunruhigenden und bizarren Verbrechen, die von Kindern begangen werden. Hinter jedem dieser undenkbaren Verbrechen steckt eine ernsthafte Schwächung oder sogar ein komplettes Zusammenbrechen der Bande familiärer Liebe. Wie viele Kommentatoren betonen, hört die Familie auf, ein Ort der Erneuerung und Wiederbelebung zu sein und wird zu einem erstickenden Ort der Isolation und Entfremdung. Wir beobachten, dass die Bindungen unter den Menschen, ebenso wie die Verbindungen, die wir mit der Natur und dem Kosmos fühlen sollten, ihre Realität verlieren und mehr und mehr "virtuell" werden. Ich glaube, dass die spirituelle Krankheit, die so viele junge Menschen in Japan heute befallen hat - Isolation, Rückzug, extreme Apathie, Verlust der Ausdrucksfähigkeit und der Zusammenbruch der persönlichen Identität - als Beweis für dieses Phänomen betrachtet werden kann. Diese spirituelle Krankheit hat die Fähigkeit der Menschen zugrunde gerichtet, jene Wahrheit zu fühlen, dass "alle Dinge miteinander verbunden sind". Da die authentische Wirklichkeit von mehreren Schichten ihres virtuellen Gegenstücks verdunkelt ist, erfahren die Menschen jene Entwurzelung, die die französische Philosophin Simone Weil (1909 - 1943) so treffend als "déracinement" beschreibt. (19) Sie sehnen sich nach einem bewussten Gefühl, am Leben zu sein. Kurz gesagt, sie suchen nach sich selbst. Verehrung des Lebens Ich glaube, dass die Krisen des Lebens, des Herzens, der Spiritualität und der Familie alle derselben Quelle entspringen. Das ist der Hauptgrund für mein Bestreben, die Verehrung des Lebens zur geistigen Triebkraft für die kommende Zeit zu machen. Indem wir die tiefsten Bereiche des Lebens untersuchen - das weite, lebenswichtige Netzwerk von Interaktion und Interdependenz - können wir die so dürftig gewordenen Bindungen wiedererwecken und wiederaufbauen. Ich spreche von einer Art Lebensliebe, die Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832\) durch seinen Faust ausrufen lässt: "Zum Augenblicke dürft' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!" (20) Wenn wir von dieser tiefsten Wertschätzung des Lebens erhellt sind, wird es uns gelingen, die wahre Bedeutung von Leben und Sterben wiederherzustellen und neu zu gestalten. Nur wenn wir auf existenzielle Fragen wie "Warum diese Familie?" "Warum dieses Geschlecht?" "Warum diese Leiden?" antworten können, können wir die letztendliche Frage beantworten: "Warum dürfen wir andere nicht töten?". Eine Erneuerung der Verehrung des Lebens ist notwendig, wenn die Menschheit eine klare Richtung im neuen Jahrhundert finden soll. Wie sollen wir dabei vorgehen? Gemeinsam mit Faust müssen wir unsere Bemühungen vollkommen auf den "Augenblick" konzentrieren. Dabei müssen wir zwei Dinge verstehen. Erstens, dass alles im gegenwärtigen Moment enthalten ist. Zweitens, dass die Art, in der wir an diesen Moment herangehen, entscheidend ist und den gesamten Verlauf unseres Lebens bestimmt. Das erstgenannte Verständnis ist notwendig, da das wahre Wesen des Lebens, der Realität, nur in genau diesem Moment zu finden ist. Alles andere als der gegenwärtige Augenblick ist bis zu einem gewissen Grad virtuell. Das stimmt mit Sicherheit für die Zukunft, kann aber auch von der Vergangenheit behauptet werden. Die Ereignisse der Vergangenheit sind alle in den Fluss und Rahmen solch künstlicher Konstrukte wie tägliche, historische oder wissenschaftliche "Zeit" eingebettet. Sie sind keine echte Realität. In den buddhistischen Schriften finden wir folgendes Zitat: "Wenn Sie die Ursachen verstehen wollen, die in der Vergangenheit existierten, dann betrachten Sie die Ergebnisse, die sich in der Gegenwart manifestieren. Und wenn Sie verstehen wollen, was sich in der Zukunft zeigen wird, dann betrachten Sie die Ursachen, die in der Gegenwart existieren." (21) Das beschreibt keine lineare Progression von Ursache und Wirkung. Viel eher deutet es an, dass alles im gegenwärtigen Moment enthalten ist. Wie Josei Toda erkennen konnte, begegnen wir den tiefsten Bereichen des Lebens, der abhängigen Entstehung, wenn es uns gelingt all diese künstlichen Konstrukte - einschließlich der Fallstricke der Sprache - zu durchbrechen. Abhängige Entstehung beschreibt den Grad, in dem jede einzelne Existenz mit allen anderen verbunden ist. C. G. Jung (1875 - 1961), der in der östlichen Philosophie sehr bewandert war, drückte eine ähnliche Einsicht aus, als er über die Schrecken des zweiten Weltkriegs reflektierte: "Selbst wenn wir - juristisch betrachtet - in das Verbrechen nicht verstrickt waren, so sind wir - dank unserer menschlichen Natur - doch immer potentielle Kriminelle." (22) Dieser Gedankengang mag zwar zuerst etwas aus dem Zusammenhang gegriffen scheinen, doch aus der Perspektive der buddhistischen Lehre der abhängigen Entstehung hat er seine eigene sehr überzeugende Logik. Wenn wir zu dieser Wahrheit erwacht sind, können wir die zeitlosen Bindungen wahrnehmen, die uns mit denen verbinden, die in entfernten Gebieten des Erdballs leben. Wir können verstehen und schätzen, dass jeder von uns derselben menschlichen Familie angehört. Die grenzenlose Erweiterung des Selbst, die Fähigkeit zu spüren, dass wir alle durch zahllose unsichtbare Bande miteinander verbunden sind, das ist es, was der Buddhismus als das "große Selbst" bezeichnet. Das Zweitgenannte, also die Art, wie wir den gegenwärtigen Moment erfassen, ist entscheidend, weil der Zugang zum wirklichen Reichtum und der überbordenden Vitalität des Lebens nur durch unaufhörlichen spirituellen Kampf - von Moment zu Moment - erlangt werden kann. Diese Einstellung ist der Trägheit und der Passivität genau entgegengesetzt, die mit spirituellem Bankrott einhergehen. Nichiren, der buddhistische Weise des dreizehnten Jahrhunderts, dessen Schriften die Aktivitäten der SGI inspirieren, fordert uns in einem berühmten Text auf, stets nach größerer Stärke zu streben, Tag für Tag, Monat für Monat. Er warnt uns: schon bei der geringsten Nachlässigkeit werden wir in die Fänge der Negativität geraten. (23) Mit anderen Worten, nur jemand, der die kontinuierliche Bemühung auf sich nimmt, seinen oder ihren Geist zu stärken, jemand, der ein angespanntes und waches Bewusstsein beibehält, jemand, der sich zu einem ununterbrochenem Flug emporschwingt - nur so jemand wird den Leitstern der echten Realität berühren können. Das ist das Ideal der Selbstbeherrschung, wie sie Shakyamuni ohne Unterlass verkündet hat. Im Gegensatz dazu wird jemand, dessen Geist schwach ist, dessen Einstellung passiv ist, dessen Ziel verloren gegangen ist, von negativen Gefühlen wie Furcht, Hass, Eifersucht und Feigheit heimgesucht werden. Mohandas K. Gandhi (1869 - 1948) stellte fest: "Bei der Gewaltlosigkeit gibt es keine Niederlage. Doch Gewalt führt am sichersten zu einer Niederlage." \(24) Dieser Mann, der niemals einen einzigen Schritt zurückgewichen ist, ist ein großes Beispiel und ein Pionier für das Jahrhundert des Lebens. "Es gibt keine Niederlage..." Dieser große spirituelle Führer war erfüllt von unerschütterlichem Vertrauen und Stolz wenn es darum ging, stets der Meister seines Selbst zu sein. Sein lebendiges spirituelles Erbe wird stets das Licht Ruhm und Triumph ausstrahlen. Solange dieses eine Prinzip kompromisslos und unvermindert aufrecht erhalten wird, ist der letztendliche Sieg garantiert. Wenn auch der Realisierung von Gandhis Traum einer gewaltlosen Welt zahllose Herausforderungen entgegenstehen, so bin ich doch überzeugt, dass keine davon ausreichend wäre, seine Überzeugung auch nur im geringsten zu erschüttern. Kreative Koexistenz und Autonomie Wie können wir den Geist beschreiben, der das einundzwanzigste Jahrhundert beseelen muss, wenn es ein Jahrhundert des Lebens werden soll? Zwei besondere Merkmale, die mir dazu einfallen, sind "kreative Koexistenz" und "autonome Funktion des inneren Willens". Diese beiden Punkte kommen in ihrer Bedeutung den bereits angesprochenen Schlüsselworten "Leben" und "abhängige Entstehung" sehr nahe. Zugleich waren diese beide Merkmale im geistigen Leben des zwanzigsten Jahrhunderts auffallend abwesend. In scharfem Gegensatz zu den Idealen der kreativen Koexistenz und der Autonomie stehen der Wettbewerb (im negativen Sinn des Wortes) und die Druckanwendung von außen. Sie sind die Schlüsselmerkmale für totalitäre Philosophien wie Faschismus und Bolschewismus, die das zwanzigste Jahrhundert beherrscht haben. Ich glaube, dass das Vorherrschen solcher Ideologien der vielleicht größte Einzelfaktor war, der aus diesem Jahrhundert eine Zeit des beispiellosen Abschlachtens machte. In allen Ideologien - nicht nur im Faschismus und Bolschewismus - ist der Fehler eingewebt, aufgrund wahrgenommener Unterschiede Barrieren der Diskriminierung zu errichten. Diese werden dann als fest und unveränderlich behandelt. Das schreibt wiederum die eigene Überlegenheit fest und rechtfertigt die Verdrängung und Unterdrückung von anderen. In Zeiten sozialer Unruhe können Ideologien die Form extremer und fanatischer Schlachtrufgesänge annehmen. In solchen Fällen enthüllt der "Wettbewerb" seine rauen und primitiven Aspekte des Gegeneinander und Ausschließens anderer. Äußere Macht wird mit dem skrupellosen Gebrauch der "Hard Power" angewendet. Die blutgetränkte Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bestätigt diese Tendenzen eindrucksvoll. Ortega y Gassets "Aufstand der Massen" ist zu Recht als Meisterwerk bekannt, das den Krankheitsbefund der Massengesellschaft des zwanzigsten Jahrhundert schonungslos enthüllt. Darin finden wir diese einsichtigen Worte: "Dies ist die Epoche der 'Strömungen' und des 'Dinge schleifen lassen'. Kaum jemand bietet den oberflächlichen Wirbelstürmen, die in der Kunst, den Gedanken, der Politik (...) auftauchen, irgendeinen Widerstand." (25) In so einer Zeit wachsen die Gefahren des Ausschließens, der Konflikte und der Gewaltanwendung exponential. Nach Joseph Goebbels infamer Maxime funktioniert das so: Wiederhole eine Lüge hundert Mal und sie wird zur Wahrheit. Solche Ideologien wie der nationale Fanatismus des Faschismus und der Klassenkampf des Bolschewismus sind die dämonischen Produkte der unreflektierten Unterwerfung unter die vorherrschenden Strömungen. Wir müssen erkennen, dass die gegenwärtige Bewegung zur Globalisierung die Gefahr in sich birgt, ein weiterer ideologischer "-ismus" zu werden. Ich bin durchaus gewillt, das positive Potential und die Verdienste der Globalisierung als einen Megatrend unserer Zeit anzuerkennen. Jedoch kann ich auch hier den ungezügelten Optimismus einiger Kommentatoren nicht teilen. Insbesondere bin ich besorgt, dass die unflexible Anwendung sogenannter "globaler Standards" dafür sorgen könnte, dass die Logik von Konflikt, Ausschluss und Druckanwendung auch von denjenigen Gesellschaften und Teilen der Welt ertragen werden muss, die nicht einem bestimmten Entwicklungsmodell entsprechen. Es sind bereits mehr als genug Warnzeichen vorhanden, um den Enthusiasmus der stärksten Befürworter der Globalisierung zu dämpfen. Damit meine ich die schockierende Ungleichheit des Wohlstands innerhalb der Gesellschaften sowie zwischen ihnen, sowie die rein spekulativen, unproduktiven globalen Geldbewegungen, die manchmal als "Kasino-Kapitalismus" bezeichnet werden. Wir müssen die bitter erlernten Lektionen der ideologischen Herrschaft beachten. Wir müssen den uneingeschränkten Wettbewerb durch einen Ethos der Koexistenz ersetzen. Statt Anwendung von äußerem Druck und Zwang müssen autonome Entscheidungen der Menschen und Gesellschaften gelten. Wir müssen diese neuen Werte verteidigen, während wir stets das langfristige Ziel verfolgen, das einundzwanzigste Jahrhundert zu einem Jahrhundert des Lebens zu machen. Die buddhistische Lehre der abhängigen Entstehung, die bis zur letzten Konsequenz betont, wie alles miteinander verbunden und voneinander abhängig ist, bedeutet im Wesentlichen dasselbe wie kreative Koexistenz. Darüber hinaus wird im Buddhismus die Wirkungsweise des Lebens - der Bereich der echten Realität, der erreicht wird, wenn wir die Fallen der Sprache und die Tendenz überwinden, Dinge als feststehende, unveränderliche Wesen zu betrachten - als "von Augenblick zu Augenblick spontan hervorquellend" beschrieben. (26) Dieser Satz beschreibt die im Wesentlichen innen-motivierte, autonome Natur der vitalen Kraft des Lebens. Wenn diese Werte zur treibenden Kraft unserer Zeit werden, dann könnten wir die Albträume des zwanzigsten Jahrhunderts hinter uns lassen und ein Jahrhundert des Lebens und des Friedens verwirklichen, einem Frieden, der weit mehr ist als ein bloßes Zwischenspiel zwischen Kriegen. Frauen gegen Krieg An dieser Stelle ist es notwendig, die äußerst wichtige Rolle zu betonen, die Frauen bei der Verwirklichung dieser Welt im einundzwanzigsten Jahrhundert einnehmen können und müssen. Im Gegensatz zu Konflikt, Ausschluss und Macht, die die Merkmale von Ideologie und traditionellerweise mit der Psychologie des Mannes verhaftet sind, richten sich Frauen naturgemäß nach Werten wie Einigkeit und Harmonie - also hin zu einer Art kreativer Koexistenz und Autonomie, die ich bereits als zentral für ein Jahrhundert des Lebens erachtete. Dies hatten sowohl Gandhi als auch sein enger Freund und Verbündeter, der große bengalische Dichter Rabindranath Tagore (1861 - 1941) schnell erkannt. Gandhi drückte seine Hoffnungen für die Frauen in der klarsten und direktesten Sprache aus: "Wenn die Frauen nur vergessen würden, dass sie dem schwächeren Geschlecht angehören, so hätte ich keinen Zweifel daran, dass sie unendlich mehr gegen den Krieg ausrichten könnten als die Männer. Beantworten Sie für sich selbst, was Ihre großartigen Soldaten und Generäle täten, wenn ihre Frauen und Töchter und Mütter sich weigerten, ihre Beteiligung am Militarismus in gleich welcher Form zu unterstützen." (27) Tagore argumentierte ähnlich von einer größeren Perspektive aus, dass die Beiträge der Frauen wesentlich sind, wenn wir die männerzentrierte Zivilisation der Macht in eine Zivilisation der Spiritualität verwandeln wollen. Die nächste Zivilisation, so ist zu hoffen, wird nicht nur auf wirtschaftlichem und politischem Wettbewerb und Ausbeutung sowie den wirtschaftlichen Idealen der Effizienz basieren, sondern auf weltweiter sozialer Kooperation und spirituellen Idealen von Gegenseitigkeit. Dann werden die Frauen ihren wahren Platz einnehmen. (28) Die Werte, Prinzipien und Ideologien, die gegenwärtig in Frage gestellt werden, sind alles Produkte Männer-dominierter Gesellschaften. Sie sind alle zunehmend in Fluktuation begriffen, ihre zugrunde liegenden Denkmuster werden hinterfragt. Werte wie Leben, Herz und Spiritualität treten immer mehr in den Vordergrund. Jeder einzelne dieser Werte ist mit dem "Weiblichen" eng verbunden. In dieser Hinsicht bin ich davon überzeugt, dass das Hervortreten der Frauen im einundzwanzigsten Jahrhundert eine Bedeutung hat, die bis ins Mark der menschlichen Zivilisation reicht. Ich glaube, das wird sich letztendlich als weit wichtiger erweisen als rechtliche und wirtschaftliche Liberalisierungen, so wichtig diese auch sind. Ein Jahrhundert des Lebens muss also auch ein Jahrhundert der Frauen sein. Seit ich 1993 das Boston Research Center for the 21st Century (29) als Friedensforschungszentrum gegründet habe, ist die Rolle der Frauen ein zentrales Thema seiner Forschungs- und Erziehungsaktivitäten. Die Arbeit des Zentrums an Themen wie die Reform der Vereinten Nationen, der globalen Umweltfragen und dem Erschaffen einer Kultur des Friedens ist mit Bedacht so strukturiert, dass die Perspektiven und die Stimmen der Frauen miteinbezogen werden. Diese Forschungsweise basiert auf der Einsicht, dass der Nutzen und Erfolg dieser Forschungsarbeit ernsthaft gefährdet würde, sollte die Perspektive der Frauen nicht einbezogen und ihre Beiträge nicht aktiv gefordert werden. Die Arbeit würde sogar von den Kernstrategien abdriften, die für eine grundlegende Lösung der anstehenden Herausforderungen notwendig sind. Ein Motto des Boston Research Center lautet: Sei ein Leuchtfeuer, das den Weg zu einem Jahrhundert des Lebens erhellt. Ich hege in der Tat die Hoffnung, das Boston Research Center möge seine Forschungen mit einem besonderen Augenmerk auf die Frauen weiterführen, während es daran arbeitet, ein globales Netzwerk der Friedensforschung aufzubauen und dadurch den Weg erhellt zu den ozeanischen Weiten eines Jahrhunderts des Lebens. Die Familie: Feuerprobe der Menschheit Die Krise der Familie droht die fundamentalsten Ebenen unserer Menschlichkeit zu unterminieren. Sie macht auf drastische Weise die Notwendigkeit deutlich, dass Frauen eine wichtigere Rolle beanspruchen. Der Zusammenbruch und der Wiederaufbau der Familie ist einer der größeren Trends der Zeitgeschichte und ist beispielsweise auch das Hauptthema in Francis Fukuyamas "Great Disruption: Human Nature and the Reconstruction of Social Order" (Große Zerrissenheit: Die menschliche Natur und die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung). (30) Wir müssen dies aus einer größeren historischen Perspektive betrachten. In gewissem Sinn kann die Geschichte der Familie als die Geschichte der Menschheit betrachtet werden. Dem japanischen Primatenforscher Masao Kawai \(31) zufolge lässt sich die Entstehung der Mutter-Kind-Beziehung 200 Millionen Jahre zurück datieren, wohingegen die Geschichte der Vaterschaft knappe 5 Millionen Jahre alt ist und auf das Erscheinen der Säugetiere zurück geht. Denn erst dadurch, dass die Männchen der Spezies die Rolle der Vaterschaft als Gegensatz zur Mutterschaft - der Rolle der Weibchen - angenommen haben, konnte die charakteristisch menschliche Struktur der Familie entstehen, welche die menschliche Spezies von den anderen Säugetierarten unterscheidet. Kawai behauptet, dass der Zusammenbruch der Familie den Verlust der Identität unserer Spezies und die Aufgabe unserer Menschlichkeit signalisiert. Wir stehen vor einer Krise, deren Ausmaß in der Geschichte unserer Spezies ohne Beispiel ist. Damit wir unsere Menschlichkeit aufrechterhalten und vertiefen können, ist es wesentlich, dass Mütter und Väter gemeinsam in einer Partnerschaft der Gegenseitigkeit und beiderseitigen Unterstützung zusammenarbeiten. Die Beziehung zwischen ihnen muss eine Beziehung der kreativen Koexistenz sein, die auf der Erkenntnis der Interdependenz oder abhängigen Entstehung basiert. Der Schlüssel für das Funktionieren dieser Art unterstützender, auf Gegenseitigkeit beruhender Beziehung liegt in der Initiative der Frauen. Männer funktionieren meiner Ansicht nach am besten als gute Partner und Mitstreiter. Die Hauptpersonen der Familien sind jedoch die Frauen. Direkte und indirekte Erfahrungen haben mich davon überzeugt, dass die Weisheit und Stärke von Müttern das zentrale Element für die gesunde Entwicklung des Einzelnen ist. Ich rufe natürlich nicht zu einer Rückkehr zu den traditionellen Geschlechterrollen auf, wonach das Leben der Frau auf das Heim beschränkt ist. Diese Stereotypen werden gegenwärtig in Frage gestellt und bekämpft. Bei der Betrachtung der historischen Geschichte der Familie müssen wir jedoch einfach anerkennen, dass die Frauen eine tiefe, in der Tat unermessliche Rolle spielen, eine Rolle, der allerhöchster Respekt gezollt werden muss. Die Begrenzungen der modernen männlichen Identität sind solcher Art, dass Goethes Faust - ihre Verkörperung par excellence - seine Erlösung von der Selbstzerstörung im "Ewig Weiblichen" suchen muss. (32) Konsens über die japanische Friedensverfassung herstellen An dieser Stelle möchte ich etwas zur gegenwärtigen Debatte über die japanische Verfassung beitragen. Sie mag ein spezifisch japanisches Anliegen sein, doch ich glaube, man muss sich ihm zuwenden, wenn das Versprechen eines Jahrhunderts des Lebens realisiert werden soll. Um auf historische und soziale Veränderungen reagieren zu können, sind geeignete Maßnahmen zur Änderung einer Verfassung - also des landeshöchsten Gesetzes - nur selbstverständlich und richtig. Genau wie Japan begann auch Deutschland seine Nachkriegsgeschichte mit einer neuen Verfassung im Bestreben, aus den bitteren Lektionen des zweiten Weltkriegs zu lernen. Im Gegensatz zu den Japanern haben die Deutschen in der Zwischenzeit ihre Verfassung bei zahlreichen Gelegenheiten geändert. Im Januar 2000 wurden in Japan im Oberhaus und im Unterhaus des Parlaments Untersuchungskommissionen eingesetzt, die den Prozess der parlamentarischen Debatte über die gegenwärtige Verfassung in Gang setzten. Es herrscht eine Tendenz, alle Verfassungsdebatten auf den Artikel 9 (Kriegsverzicht) zu konzentrieren. Die Ansichten darüber, ob er in seinem jetzigem Zustand beibehalten oder abgeändert werden sollte, sind sehr gespalten. Dieser enge Fokus ist unglücklich und kurzsichtig, denn er verdunkelt andere wichtige Verfassungsfragen, die sich direkt auf die Art von Demokratie auswirken werden, die Japan im einundzwanzigsten Jahrhundert zu werden hofft. Solche Fragen sind unter anderem diverse komplexe Menschenrechtsangelegenheiten, die Notwendigkeit eines Umweltkrisenmanagements und die Problembewältigung im Zusammenhang mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Ebenfalls Berücksichtigung verdienen die Einführung von nationalen Referenden und die Direktwahl des Premierministers, um dem Willen der Bevölkerung besser gerecht zu werden. Es ist wichtig, dass die Verfassung im Lichte dieser Problematiken überarbeitet wird und mit dem Ziel, eine bessere Gesellschaft zu verwirklichen. In dieser Hinsicht ist eine Verfassungsdebatte notwendig und positiv. Es ist jedoch unbedingt erforderlich, dass die Änderungen im Rahmen einer langfristigen Vision vorgenommen werden, die durch dauerhafte Prinzipien gestützt wird. Hastige Änderungen, die auf kurzsichtigen Zielen für sofortigen politischen Gewinn basieren, oder Änderungen ohne die nötige Zeit für die Entwicklung eines echten nationalen Konsens müssen unter allen Umständen vermieden werden. Solch ein Vorgehen könnte später zu Bedauern führen und würde zudem Rechtmäßigkeit einer Verfassungsänderung in Frage stellen. Bei allen Debatten über die Verfassungsreform dürfen wir niemals vergessen, dass die Ideale des Pazifismus und der internationalen Zusammenarbeit, die in der Präambel und im Artikel 9 ausgedrückt werden, das Herz und die Seele der japanischen Verfassung sind. Sie sind das, was sie dazu qualifiziert, eine "Friedensverfassung" genannt zu werden. Obwohl es Raum für vielschichtige Diskussionen über spezielle nationale Sicherheitsfragen geben muss, bin ich vor allem darüber besorgt, ob die Prinzipien und der Geist der Friedensverfassung nicht ausgehöhlt werden. Aus diesem Grund glaube ich, dass der Artikel 9 nicht angerührt werden sollte. Diese Ansicht vertrete ich schon lange. Die pazifistische Botschaft, die Japan während des letzten halben Jahrhunderts unter der gegenwärtigen Verfassung in der Welt verbreitet hat, war in ihrer Art allzu leider allzu kläglich. Diese Bemühungen wurden von hartnäckigen und anachronistischen Versuchen untergraben, das Rad der Zeit zurück zu drehen oder gar die letzten Invasionskriege Japans zu rechtfertigen. Das Resultat davon: Japan ist nicht als wirklich pazifistische Nation hervorgetreten, die von unseren asiatischen Nachbarn oder von der Welt insgesamt anerkannt und für vertrauenswürdig befunden wird. Die Fallstricke des "Ein-Land-Pazifismus" Japans Befürworter des Friedens litten unter der Tendenz, sich nach innen zu wenden, ihr Interesse auf Japan zu begrenzen. Damit verbunden ist das Versagen, zu einer konkreten Art des Handelns zu gelangen, die tatsächlich die Welt verändern könnte. Das Resultat dieses egoistischen "Ein-Land-Pazifismus", ignorant gegenüber den Bewegungen der internationalen Gesellschaft und den Belangen anderer Länder, war ein falscher Friede. Das ist weit von der ursprünglichen Absicht der Verfassung entfernt, deren Präambel das Recht der Menschheit erklärt, in Frieden zusammen zu leben. Wenn wir uns im neuen Jahrhundert wirklich von dem vergangenen Jahrhundert des Krieges verabschieden wollen, ist Japans Ausbrechen aus seiner Stagnation und Sackgasse absolut erforderlich. Ich glaube, Japan sollte im einundzwanzigsten Jahrhundert mit einer realitätsbezogenen und globalen Perspektive handeln, neues Leben in die Absicht und Ideale des Artikel 9 hauchen und sie mit der Welt teilen. Ich erinnere mich an die Worte des japanischen Philosophen Arimasa Mori (1911 - 1976): "Die Welt ist ein Wettbewerb in Selbstbeherrschung. In dieser Hinsicht ist die Politik dem Militär überlegen. Darin ist ebenfalls die wahre Bedeutung des Friedens zu finden." (33) Diese Betrachtungsweise sollten wir uns sorgfältig zu eigen machen. Was in Japans politischer Nachkriegskultur am meisten fehlte - nicht nur im Hinblick auf Verfassungsfragen - war Selbstbeherrschung, aufrichtige Überzeugung und ein starkes und waches Bewusstsein, von dem ich bereits gesprochen habe. Es ist eine unleugbare Tatsache, dass Japans Führer sich während der Jahre des Kalten Krieges in einer Weise verhalten haben, die weder selbstmotiviert noch autonom war. In der Zeit nach dem Kalten Krieg hat sich das nicht geändert. Der Zusammenbruch von Japans Seifenblasenwirtschaft, ein Ereignis, dessen psychologische Auswirkung manchmal mit Japans Niederlage im zweiten Weltkrieg verglichen wird, hat eine spirituelle Landschaft der Passivität und Apathie geschaffen, die von irgendeinem Ideal der Selbstbeherrschung oder Überzeugung weit entfernt ist. Das gleiche gilt für die Verfassungsdebatte. Das wichtigste ist, die Kernprinzipien und Überzeugungen des Pazifismus sorgfältig und eigenständig auszuarbeiten, die so charakteristisch sind für die gesamte Verfassung. Es ist meine Überzeugung, dass dies auch ohne eine Änderung des Artikels 9 geschehen kann. Der Artikel 9, insbesondere der erste Absatz, verdankt viel dem Vertrag von Paris aus dem Jahre 1928, in dem die Unterzeichner auf Krieg als Instrument nationaler Politik verzichten. Das war ein direkter Versuch, das tiefe Verlangen der Menschheit nach Abschaffung des Krieges zu realisieren. Mit dem Verzicht auf "Krieg als souveränes Recht der Nation sowie der Androhung oder dem Gebrauch von Gewalt als Mittel zu Beilegung internationaler Auseinandersetzungen" akzeptiert die japanische Verfassung Beschränkungen der nationalen Souveränität. Von seinem Ursprung her ist klar, dass Japans Akzeptanz dieser Bedingung der beschränkten Souveränität auf dem Gedanken basierte, dass die aufgegebenen Aspekte der Souveränität einer internationalen Körperschaft überantwortet würden, insbesondere den Vereinten Nationen. Japans beste und auch selbstverständlichste Entscheidung wäre deshalb, die freiwillige Beschränkung der Souveränität als Motivation zu nehmen, mit der UN sorgfältig und koordiniert für einen dauerhaften Frieden in der Welt zusammenzuarbeiten. Eine solche Entscheidung würde mit der Absicht der Präambel der japanischen Verfassung und der UN-Charta völlig übereinstimmen. Würden die besonderen verfassungsmäßigen Verpflichtungen Japans in einen größeren, universellen Kontext gestellt, dann sollte es möglich sein, eine Politik zu entwickeln, die Japan als echte Friedensnation in der Welt bekannt macht. Japan hat die Gelegenheit, eine Führungsrolle zu übernehmen bei der Schaffung von Vorraussetzungen für wirklich universelle und effektive UN-zentrierte Sicherheits- und Konfliktpräventionssysteme. Im Zusammenhang damit ist es entscheidend, dass wir effektive Methoden finden, internationales Verständnis und Kooperation zu fördern. Hier ist in Japan noch viel Platz und Möglichkeit für eine proaktivere Haltung. Auf dem geistigen Boden der Selbstbeherrschung und echter Überzeugung kann Japan auf Gebieten wie der internationalen Entwicklung und der Anhebung von Lebensstandards beitragen, sowie im Bildungs-, Kultur- und Sportaustausch. Dies setzt ganz wesentlich voraus, dass alle japanischen Bürger ihre Passivität ablegen und eine tiefe Selbstverpflichtung zu sinnvollem Handeln eingehen. Es ist mein inbrünstiger und dauerhafter Wunsch, dass Japan eine führende Rolle in diesem beispiellosen und fordernden Experiment übernimmt, eine Welt ohne Krieg zu verwirklichen. Eine zentrale Rolle für die UN Der Erfolg von Japans diesbezüglichen Bemühungen ist tief mit der zukünftigen Ausrichtung und Entwicklung der UN verknüpft. Um Frieden im kommenden Jahrhundert zu verwirklichen ist es absolut wesentlich, dass wir die traditionelle Vormachtstellung von miteinander konkurrierenden nationalen Interessen - die Ursache so vieler Kriege und Tragödien - durch eine internationale Gemeinschaft ersetzen, die sich dem Wohlergehen der gesamten Menschheit und der Erde widmet. Die UN kann und muss eine entscheidende Rolle bei dieser Veränderung spielen. Die Herausforderungen, denen die Menschheit gegenübersteht - Friedensförderung und Abrüstung, Umweltschutz, Armutsbekämpfung - erfordern ganz eindeutig eine Kooperation und eine Harmonisierung unserer Bemühungen über nationale Grenzen hinweg. Wir müssen uns in der Tat als eine Menschheit vereinen, die sich in einem gemeinsamen Kampf engagiert. In dieser Hinsicht haben wir wirklich keine andere Wahl als uns an die UN zu wenden. Ein halbes Jahrhundert lang hat sie als Forum für einen globalen Dialog internationalen Konsens hergestellt. Sie hat sich ständig in humanitärer Unterstützung und Hilfsprogrammen überall auf der Welt engagiert. Ich bin überzeugt, dass nur die UN - trotz all ihrer Beschränkungen und Probleme - die Schlüsselrolle bei der Vereinigung der Menschheit spielen kann. Die Millenniumsdeklaration der Vereinten Nationen (34), die beim Millenniumsgipfel im September 2000 von einer bisher einmaligen Versammlung von Staats- und Regierungschefs angenommen wurde, hat in dieser Hinsicht eine tiefe Bedeutung. Die Deklaration ruft die Länder der Welt dazu auf, die Verantwortung für die Lösung globaler Probleme gemeinsam zu tragen und stellt ganz klar fest: "Als die universellste und repräsentativste Welt-Organisation muss die UN die zentrale Rolle spielen." Das hohe Ziel und der Gründungsgeist der UN werden in der Präambel der UN Charta kraftvoll ausgedrückt: "Wir, die Völker der Vereinten Nationen - fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat..." (35) Es ist an der Zeit, die Bemühungen für die Erschaffung eines Gefüges voranzutreiben, das wirklich die gesamte Menschheit involviert in einen gemeinsamen Kampf, die Geißel des Krieges vom Angesicht der Erde abzuschaffen. Soft Power, Beteiligung der Völker Die Diskussion über die zukünftige Richtung der UN konzentriert sich unausweichlich auf Fragen wie: "Was für eine Welt wollen wir?" und "Wie sollen wir auf die verschiedenen Herausforderungen reagieren?" Wenn wir über diese Fragen nachdenken, dürfen wir nie außer acht lassen, dass das Wesen der UN in der "Soft Power" zu finden ist - in der Kraft von Dialog und Kooperation. Wenn die UN Charta die Möglichkeit der Anwendung von "Hard Power" einschließlich Militäraktionen klar akzeptiert (Kapitel VI über die friedliche Beilegung von Streitfällen wird gefolgt von Kapitel VII, das Maßnahmen zur Durchsetzung festsetzt), so hat eine friedliche Lösung eines Konfliktes doch absolute Priorität. Die Anwendung von Hard Power ist Krisensituationen vorbehalten, aus denen es keinen anderen Ausweg gibt. Internationalen Frieden und Sicherheit durch den Einsatz von Soft Power zu verwirklichen bleibt die unveränderliche und wichtigste Aufgabe der UN. Diese Aufgabe wird durch die Ursprünge der UN deutlich: die bitteren Lektionen zweier Weltkriege. Wenn wir das einundzwanzigste Jahrhundert zu einem Jahrhundert des Lebens machen wollen, das auf dem Ethos kreativer Koexistenz und Autonomie aufbaut, dann ist es lebenswichtig, niemals dieses fundamentale Prinzip aus den Augen zu verlieren. Während die rechtmäßigen Funktionen des UN Sicherheitsrats anerkannt werden müssen, ist gleichzeitig klar, dass sich die UN des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf den Weg der Soft Power konzentrieren muss, mit ihrer Betonung auf Konfliktprävention und Stabilisierung potentieller Krisensituationen. Das erfordert eine Aufwertung der menschlichen Sicherheit - des Schutzes und Wohlergehens der Menschen - im Gegensatz zum bloßen Schutz nationaler Grenzen. Zu diesem Zweck sollten wir die unschätzbaren Lektionen und Erfahrungen der letzten fünfzig Jahre miteinbeziehen, um es dem Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) und den Hilfsorganisationen zu ermöglichen, konstruktivere und aktivere Rollen zu übernehmen. Dabei hoffe ich inständig, dass die Sondertagung der UN-Generalversammlung zum Thema Kinder im September 2001 \(36) wertvolle Ergebnisse liefern wird aus den ernsthaften Diskussionen darüber, was wir als Menschheit für die zukünftigen Generationen tun können. Für die stärkere Ausrichtung der UN auf Soft Power wird es gleichermaßen wichtig sein, die kooperativen Beziehungen zwischen der UN und der Zivilgesellschaft voranzutreiben, d. h. mit dem breiten Spektrum der Nichtregierungs- und Freiwilligenorganisationen. Das ist unbedingt erforderlich, wenn wir sicherstellen wollen, dass die UN wirklich von den Menschen, durch die Menschen und für die Menschen existiert. Die UN würde geschwächt und marginalisiert, sollte sie von der Logik der Konfrontation und des Ausschlusses überrannt werden, dem negativen Erbe des zwanzigsten Jahrhunderts, das von miteinander konkurrierenden nationalen Interessen beherrscht wurde. Sollte die UN der Versuchung unterliegen, sich auf Druck und Zwang zu verlassen, so würde dies Ursachen für weitere Konflikte schaffen - und die UN würde an Glaubwürdigkeit und Vertrauen verlieren. Daher ist es wesentlich, ihre Identität als eine Organisation zu stärken, die sich dem Wohlergehen der gesamten Menschheit widmet und von den Menschen an der Basis unterstützt wird. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das Schicksal der Menschheit im einundzwanzigsten Jahrhundert davon abhängt, wie erfolgreich die UN handlungsfähig gemacht und dabei den Menschen an der Basis eine Hauptrolle zugesichert werden kann. Diese neue Leitlinie wird in der bereits erwähnten Millenniumsdeklaration klar widergegeben. Der Abschnitt über die Stärkung der UN definiert Zivilgesellschaften als unverzichtbare Partner und verkündet den Entschluss, "dem privaten Sektor, Nichtregierungsorganisationen und Zivilgesellschaften im allgemeinen, größere Möglichkeiten zu geben, zu der Verwirklichung der Ziele und Programme der Organisation beizutragen." Dies ist eine sehr wichtige Aussage, die explizit darauf abzielt, die UN in die Lage zu versetzen, über ihr bestehendes Rahmenwerk als Zusammenkunft souveräner Staaten hinauszuwachsen. Die Beteiligung der Menschen ist der beste Weg, die UN neu zu beleben. Das ist sogar absolut notwendig, wenn die UN ihre gegenwärtigen Beschränkungen überwinden und sich zu einem Konzentrationspunkt für die Aktivitäten der globalen Zivilgesellschaften entwickeln soll. Wenn die UN die vielfältigen Talente und Fähigkeiten gewöhnlicher Bürger zusammenbringt, wird sie in der Lage sein, ihre eigentliche Essenz, ihren humanistischen Charakter, zu bereichern und zu verstärken. Ich bin davon überzeugt, dass dies der Weg ist, den sie in die Zukunft hinein beschreiten sollte. Nun ist die richtige Zeit für effektive Maßnahmen, um diese Vision zu verwirklichen und durchzuführen. In dieser Hinsicht sind die Vorschläge, die im Mai 2000 bei dem "We the Peoples Millennium Forum" - eine Zusammenkunft der globalen Zivilgesellschaften im Vorfeld des Millenniumsgipfels - gemacht wurden, eine reiche Quelle an Ideen für konkrete Taten. (37) In einem der angenommenen Papiere drängt das Forum auf die Schaffung eines globalen Zivilgesellschaftsforums. Es fordert die Ausweitung der beratenden Rechte der NGOs (Nichtregierungsorganisationen) sowie Zugang und Teilnahme an der Generalversammlung und anderen Hauptorganen der UN. Diese Initiativen stimmen mit den Ideen überein, die ich in der Vergangenheit vorgeschlagen habe, und ich fordere, dass sie so schnell wie möglich umgesetzt werden. Reformvorschläge Im letzten Jahr hat das Toda Institute for Global Peace and Policy Research (Toda Forschungsinstitut für Weltfrieden und Politik) \[38\] einen Bericht über das Global Governance Reform Project mit dem Titel "Reimagining the Future" (Die Zukunft neu denken) veröffentlicht. (39) Es ist das Ergebnis von Forschungen, die in Zusammenarbeit mit der La Trobe Universität Melbourne und der Chulalongkorn Universität Bangkok durchgeführt wurden. Insbesondere spiegelt er die Arbeit zweier Expertenrunden wider, denen so führende Denker wie Boutros Boutros Ghali angehörten, der frühere Generalsekretär der UN. Mit der Forderung nach einer demokratisierten globalen Regierungsform als ein Schlüssel zur Stärkung der UN präsentiert dieser Bericht konkrete Initiativen für eine kühne Reform, wie zum Beispiel die Schaffung eines Völkerparlaments, das die UN offener und zugänglicher für die Zivilgesellschaft machen würde. Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit zu einem Gedankenaustausch mit Johan Galtung, einem Pionier auf dem Gebiet der Friedensforschung. Damals äußerte er diesen Gedanken über den besonderen Wert eines Völkerparlaments: "Vielleicht glaube ich mehr an lang andauernde Dialoge, die zu neuen Ideen und einem Konsens führen, als an kurze Debatten, die wenige Ideen hervorbringen und in Abstimmungsentscheidungen enden, bei denen es Gewinner und Verlierer gibt." (40) Neue institutionelle Maßnahmen müssen entwickelt werden, die in einem Dialogprozess die Beteiligung der Menschen voll integrieren. Das ist der sicherste Weg für die Entwicklung einer langfristigen Vision, die niemanden zurücklässt und die Interessen und Sorgen aller Parteien berücksichtigt. Pläne in dieser Richtung werden von verschiedenen Organisationen vorgeschlagen, und meiner Ansicht nach ist die Zeit gekommen, die entscheidenden Schritte zu ihrer Realisierung zu unternehmen. Den NGOs sollte nicht einfach nur eine unterstützende Rolle für die jeweiligen Regierungen zugedacht werden; tatsächlich sind sie die Schlüsselfiguren bei der Errichtung einer neuen internationalen Ordnung, die auf einem Ethos der kreativen Koexistenz und Autonomie basiert. Wenn es darum geht, die Würde und Sicherheit jedes Einzelnen zu beschützen, wird die UN umso effektiver sein, je mehr sie die Energien und Bemühungen der Menschen verkörpert. Die Unterstützung der Völker der Welt zu gewinnen, ist auch ein Schlüssel zur Lösung der seit langem schwierigen Aufgabe der UN, stabile Finanzierungsquellen zu sichern,. Die gegenwärtige Abhängigkeit von den Beiträgen der Mitgliedsstaaten behindert die Möglichkeiten der Organisation, Notfallmaßnahmen in Krisen zu treffen oder sich in einer konzentrierten und nachhaltigen Weise mit bestimmten Problemen zu befassen. Eine Stabilisierung der UN-Finanzen durch eine zusätzliche Finanzierungsquelle würde helfen, diese Probleme zu lindern. In diesem Zusammenhang möchte ich die Schaffung eines Völkerfonds für die UN vorschlagen. Dabei könnte man von den Vorbildern unabhängiger Mittelbeschaffung lernen, wie sie beispielsweise von der UNICEF so erfolgreich eingesetzt werden. Diese neue Organisation würde sich aktiv um das Aufbringen von Geldern bemühen und Spenden von Einzelpersonen, Organisationen und Verbänden annehmen. Die gesammelten Mittel würden in erster Linie dafür verwendet werden, die humanitären Aktivitäten der UN zu unterstützen. Die Armut auslöschen, die Umwelt schützen An dieser Stelle möchte ich über die dringenden globalen Aufgaben der Armutsbekämpfung und des Umweltschutzes sprechen. Das sind Hauptprobleme, die als Teil einer gemeinsamen Menschheitsanstrengung gelöst werden müssen. Diese Anstrengung muss von den Menschen selbst und mit der UN als ihrer Zentrale angeführt werden. Die Ausrottung der Armut muss stärker und konzentrierter angepackt werden. Dem Entwicklungsbericht der Weltbank des Jahres 2000/2001 zufolge leben 1,2 Milliarden Menschen - circa zwanzig Prozent der Weltbevölkerung - von weniger als einem US-\$ pro Tag. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass sich diese Zahl, wenn überhaupt, dann nach oben bewegt. (41) Im letzten Jahr veröffentlichte die Weltbank einen wichtigen Bericht mit dem Titel "Voices of the Poor" (Stimmen der Armen) \[42\]. Es ist das Ergebnis einer zehnjährigen Anstrengung, die Originalstimmen von rund sechzigtausend Menschen aus sechzig Ländern zusammenzutragen. Die Studie vermittelt die tatsächliche Lebenswirklichkeit von armutsgeplagten Menschen und versucht zu erhellen, was die grundsätzlichen Ursachen dieses Problems und die Sehnsüchte der armen Menschen sind. Die Weltbank drängt auf die Berücksichtigung der folgenden Punkte bei der Umsetzung von Grundsatz- und Hilfsprogrammen: 1) Erweiterung der wirtschaftlichen Möglichkeiten für die Armen, damit sie sich selbst aus der Armut befreien können. 2) Die Menschen zu Entscheidungen befähigen, die ihr Leben und ihre Arbeit betreffen. 3) Eine Grund-Infrastruktur und Programme zur Erweiterung von Hilfsmaßnahmen in Katastrophen- und Notsituationen entwickeln. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen vertritt ebenfalls diese Ansicht. In seinem Buch "Development as Freedom" (Entwicklung als Freiheit) behauptet er, dass die Menschen nicht nur als Nutznießer von Entwicklungsprogrammen betrachtet werden sollten, sondern dass "die Menschen bei adäquaten sozialen Möglichkeiten ihr eigenes Schicksal effektiv formen und einander helfen können. Sie müssen nicht hauptsächlich als passive Empfänger von Leistungen aus schlauen Entwicklungsprogrammen betrachtet werden." (43) Ich stimme mit Sen vollkommen überein, dass Menschen als die Macher von Veränderungen gesehen werden sollten. Es ist entscheidend, von den Menschen selbst herauszufinden, was benötigt wird und dies in Hilfs- und Entwicklungsprogramme einfließen zu lassen, anstatt solche Programme in einer "von-oben-herab-Manier" willkürlich zu planen. Das ist die wirkliche Bedeutung von Demokratisierung. Auf internationaler Ebene sollte es ein ständiges Forum geben, in dem die Stimmen der an den Rand gedrängten Menschen gehört werden können. Gegenwärtig haben nur die wohlhabenden Länder Möglichkeiten geschaffen wie den OECD-Gipfel und die jährlichen Treffen des Weltwirtschaftsgipfels in Davos, um sich zu treffen und gemeinsam die Richtung der internationalen Politik und Wirtschaft zu diskutieren. An dieser Stelle möchte ich etwas vorschlagen, das "Forum der Erde" genannt werden könnte. Dieses Forum sollte als Brücke zwischen den Menschen der Entwicklungsländer und jenen Zusammenkünften der Reichen dieser Welt fungieren. Das könnte den Dialog und die Diskussion hin zu einer globalen Gesellschaft vereinfachen, die wirklich gerecht und chancengleich ist. Nach meiner Vorstellung sollte dieses Forum vor allem die Entwicklungsländer durch ihre Regierungs- und Nichtregierungsvertreter involvieren, aber auch Vertreter von internationalen Körperschaften, einschließlich des UN-Generalsekretärs. Dort würden die Fehlschläge und die besten Methoden der verschiedenen Länder und Organisationen ausgetauscht und von ihnen gelernt. Es würde eine Globalisierungspolitik unterstützen, die die Ansichten der Entwicklungsländer wirklich respektiert und eine Entwicklungshilfe ermöglichen, die den wahren Bedürfnissen der Menschen gerecht werden würde. Dieses Forum könnte zweimal pro Jahr zusammenkommen und Vertreter zu den Gipfeltreffen und nach Davos entsenden, um seine Resultate und Forderungen zu präsentieren. Dadurch würde sichergestellt, dass die Ansichten der Entwicklungsländer in den Agenden dieser Konferenzen auf adäquatere Weise beachtet würden. Der G8-Gipfel 2000 in Kyushu, Okinawa (44) war der erste OECD-Gipfel, der einen Dialog zwischen den Führern der entwickelten Länder und den Entwicklungsländern beinhaltete. Auf dieser Erfahrung sollte aufgebaut werden. Solch ein Dialog sollte ein integraler Bestandteil der andauernden Gipfel-Vorbereitungen werden. Dieser Dialog ist entscheidend, um die Menschen aller Völker im Kampf gegen die Armut - und gegen das unaussprechliche Leid, das sie verursacht - zu vereinen. Die andere Herausforderung, der wir begegnen müssen, ist der Schutz und die Förderung der Umwelt auf globaler Ebene. Die Rio-Umweltkonferenz 1992 hat das Bewusstsein dafür, wie dringend notwendig es ist, auf globaler Ebene zu kooperieren, um die Umwelt zu schützen, erheblich verstärkt. Daraus sind internationale Umweltabkommen wie das "United Nations Framework on Climate Change" (UN-Rahmenwerk zum Klimawechsel) entstanden. Trotz dieser Bemühungen ist jedoch die Zerstörung der Umwelt weiterhin stärker auf dem Vormarsch als alle Maßnahmen dagegen. Die Situation verschlechtert sich weltweit. Wenn dieser Trend nicht umgekehrt wird, werden wir uns garantiert einer Krise von verheerendem Ausmaß gegenübersehen. Der einzige Weg, der uns bleibt, ist eine Revolution im Bewusstsein der einzelnen Menschen und ganzer Gesellschaftsformen. Genau dies ist das Ziel der "Earth Charter" Initiative (45), die von Michail Gorbatschow und anderen unterstützt wird. Hierin liegt auch ihr großer Wert. Seit einer ganzen Reihe von Jahren bemüht sich die SGI, durch vielfältige Aktivitäten die Earth Charter Kampagne zu unterstützen. Auch hat das Boston Research Center Konferenzen und Seminare veranstaltet, auf denen vielschichtige Perspektiven und Anregungen für den Entwurf der Earth Charter entwickelt wurden. Der Text der Earth Charter wurde im März letzten Jahres fertiggestellt. Er ist das Produkt von hartnäckigen Bemühungen, die Stimmen und Meinungen von Menschen unterschiedlichster Herkunft weltweit zusammenzuführen. In vier Kapiteln und sechzehn Abschnitten gibt die Charta eine verständliche Sammlung ethischer Prinzipien bekannt, auf denen eine neue globale Gesellschaft aufgebaut werden sollte. Schon in den Überschriften der jeweiligen Kapitel zeigt sich klar die Reichweite und Tiefe dieses Dokuments: 1) Respekt und Sorge für die Gemeinschaft des Lebens; 2) Ökologische Integrität; 3) Soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit; 4) Demokratie, Gewaltlosigkeit und Frieden. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Prinzipien der Earth Charter, die sich aus einem globalen Dialog herauskristallisiert haben, als Grundlage für ein Jahrhundert des Lebens dienen können. Eines der Ziele der Earth Charter Initiative ist es, 2002 - dem zehnten Jubiläum der Rio-Konferenz - von der UN-Generalversammlung anerkannt zu werden. Es ist entscheidend, dass die Prinzipien der Earth Charter im Leben jedes Einzelnen als fundamentale ethische Leitlinien verwurzelt werden. Sie darf nicht nur zu einer Übereinkunft zwischen Regierungen werden. Die SGI wird weiterhin die Earth Charter durch vielfältige Aktivitäten unterstützen. Neue Ausstellungen werden dafür geplant, um die Menschen darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig es ist, dass sie offiziell verabschiedet wird und sie zum persönlichen Anliegen, zur persönlichen Verpflichtung jeder einzelnen Person werden zu lassen. Die zukünftigen Funktionen und Beiträge Chinas und Indiens Ich möchte nun die regionalen Belange Asiens und Afrikas ansprechen, die so wichtig sind bei der Erörterung der praktischen Schritte für eine Welt der kreativen Koexistenz und der Autonomie. In Asien möchte ich mich heute auf die Rollen Chinas und Indiens konzentrieren. Beide Länder werden eine immer wichtigere Rolle einnehmen, nicht nur kraft ihrer Einwohnerzahl, Größe und Bedeutung für die internationale Sicherheit, sondern - weit entscheidender - wegen dem, was man als "kulturelle Perspektive" bezeichnen könnte. Ich erinnere mich voller Zuneigung an Arnold Toynbee, als er mit mir seine Gedanken über China teilte: "Vielleicht ist es Chinas Schicksal, politische Einigkeit und Frieden nicht nur der halben, sondern der ganzen Welt zu geben." (46) Seine Überzeugung, dass unsere Vision nicht von unmittelbaren Phänomenen geblendet werden sollte, war ein beständiger Faktor in seiner großen Geschichtstheorie. Diese Überzeugung ist auch in seinen gerade zitierten Worten spürbar. Er war sich sicher, dass die Zukunft nur dann richtig vorhergesehen werden kann, wenn man die tieferen, langsameren Bewegungen sorgfältig betrachtet, die letzten Endes die bestimmenden Faktoren der Geschichte sind. In dieser Zeit rief ich dazu auf, die diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und China wieder herzustellen und China in die UN aufzunehmen. Toynbees Einschätzung von Chinas Bedeutung traf auch meine eigenen Gefühle genau. 1974 - ein Jahr nach meinen Gesprächen mit Toynbee in London - verwirklichte sich mein langgehegter Wunsch, China zu besuchen. Seit damals habe ich als Privatperson versucht, kulturellen und pädagogischen Austausch zwischen China und Japan zu fördern, um die freundschaftlichen Bande zu vertiefen. Durch diese Bemühungen wurden mir all die Qualitäten intensiv bewusst, die Toynbee als das spirituelle Erbe der chinesischen Zivilisation beschrieben hat. Diese Qualitäten sind auch heute noch eine grundlegende Kraft für die gegenwärtige Gesellschaft, in die sie einfließen und die sie dadurch verändern. Dazu gehört die Weltanschauung, dass Harmonie die Priorität vor Konfrontation hat und Einigkeit Priorität vor Zerstückelung. Eine andere Qualität ist ein humanistisches Denken, das durch praktische Anwendung nach der bestmöglichen Lösung sucht, statt strikt an Theorien anzuhaften. Wo Harmonie so betont wird, liegt ein Ethos der kreativen Koexistenz in der Tat nahe. Eine Weisheit, die über Jahrtausende gepflegt wurde und die in der Datong-Utopie symbolisiert ist. Dieses Thema war zufällig Teil meiner Rede an der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften 1992 (47). Die Wirklichkeit auf der praktischen Ebene zu betrachten hat inzwischen auch zu einer graduellen Reformmethodik geführt, die in dem kühnen Experiment einer sozialen Marktwirtschaft erkennbar ist. Desgleichen ist die Idee "ein Land, zwei Systeme", die nach der Rückkehr von Hongkong und Macao entstanden ist, eine Erweiterung dieses Denkens. Es ist höchst bedauerlich, dass einige Teile der japanischen Gesellschaft immer noch die historische Realität des japanischen Aggressionskriegs gegen China leugnen und dass diese Leugnung sogar in Schulbüchern Eingang gefunden hat. 1995 drückte der damalige japanische Premierminister anlässlich des fünfzigsten Jahrestags der Niederlage Japans tiefe Reue und eine von Herzen kommende Entschuldigung aus. Wir können die Leugnung historischer Tatsachen nicht länger tolerieren, denn sie stellen nicht nur die Aufrichtigkeit dieser offiziellen Aussage in Frage, sondern diskreditieren Japan auch innerhalb der internationalen Gemeinschaft, wo es als eine Nation mit Gewissen gilt. So wie in China, ist auch Indiens lange Geschichte voller tiefer Spiritualität. Eine Linie von Persönlichkeiten, die von Shakyamuni Buddha, über König Ashoka bis zu Mahatma Gandhi reicht, zeigt die volle Pracht des menschlichen Geistes. Auch wenn ich aus Platzgründen hier nicht detailliert darauf eingehen kann, so bin ich doch sicher, dass in Indien so etwas wie ein "kosmischer Humanismus" existiert. In ihm werden die Begrenzungen aufgehoben, die der Humanismus der modernen wissenschaftlichen Rationalität aufbaut, der verrückterweise die Menschen auf eine immer kleinere, unbedeutendere Präsenz reduziert. Der kosmische Humanismus hat als höchstes Ziel eine kreative Koexistenz, die auf gemeinsamen spirituellen Prinzipien beruht anstatt auf Eroberung durch Gewalt. Er strebt danach, eine harmonische Gesellschaft zu verwirklichen, in der Unterschiedlichkeit respektiert wird, und die nicht die Spaltung fördert, die durch Diskriminierung und Ausschluss entsteht. C. G. Jung sagte: "In Indien scheint es nichts zu geben, das nicht schon hunderttausendmal gelebt hat." (48) Hierin finden sich die buddhistischen Vorstellungen von Verbundenheit untereinander und Abhängigkeit voneinander wieder. In den letzten Jahren haben anscheinend nur bestimmte Aspekte von Indien und China die Aufmerksamkeit der Welt auf sich gezogen, wie zum Beispiel ihre nuklearen Kapazitäten oder ihr überragendes technisches Können. Aber ich glaube, dass die Kraft der Spiritualität, die die Geschichte beider Länder durchfließt, das Potential hat, um ein Zeitalter der "Soft Power" mit einzuleiten. Natürlich ist es nicht meine Absicht, die Vergangenheit dieser beiden Länder zu glorifizieren und ich bin mir der vielfältigen Herausforderungen bewusst, denen sie sich zur Zeit gegenübersehen. Nichtsdestotrotz zweifele ich nicht daran, dass sie beide wichtige Beiträge in Asien und der ganzen Welt leisten, wenn das spirituelle Erbe, das sie schon so lange pflegen, weiterhin kreativ entwickelt und innerhalb des größeren Rahmens einer neuen globalen Zivilisation zur Blüte gebracht wird. Nord- und Südkorea: Dialog für den Frieden Kein Land ist frei von einer negativen Vergangenheit oder aktuellen Problemen. Es ist unproduktiv, sich nur auf die dunklen Kapitel eines Landes oder einer Kultur zu konzentrieren. Für jede Kultur ist es weitaus konstruktiver, wenn sie versucht, den größtmöglichen positiven Einfluss auf andere Kulturen und die Welt an sich auszuüben. Dieser Gedanke lag auch dem Vorschlag zugrunde, den ich erstmals 1998 vorgebracht habe: Der G8 Gipfel sollte so erweitert werden, dass China und Indien einbezogen werden, da diese Länder ebenfalls eine besondere Verantwortung für die Welt tragen. Im zwanzigsten Jahrhundert gab es den schlimmsten je gesehenen Wettkampf um Herrschaft. Im einundzwanzigsten Jahrhundert muss die Menschheit unbedingt ihren Fokus verändern, das Streben nach hegemonialer Herrschaft ablegen und in einen "humanitären Wettbewerb" treten, also eine Ära der kreativen Koexistenz entstehen lassen, wo die inneren spirituellen und moralischen Qualitäten jeder einzelnen Kultur und Tradition freigesetzt werden. Der Schlüssel dafür, um das Wettrennen um Herrschaft endgültig hinter uns zu lassen, ist der Dialog. Die führenden Persönlichkeiten der beiden Hälften des geteilten Koreas hielten letztes Jahr Gespräche von wirklich historischer Bedeutung ab, die uns den Wert und die Wichtigkeit des Dialogs wieder vor Augen führen. Zum ersten Mal überhaupt trafen sich die Staatschefs dieser beiden Länder - Kim Dae-Jung, Präsident der Republik Korea und Kim Jong-II, Vorsitzender der Demokratischen Volksrepublik Korea - in Pjöngjang, der Hauptstadt von Nordkorea. Im Juni letzten Jahres diskutierten sie drei Tage lang über den Frieden und die Zukunft der Halbinsel. Seit fünfzehn Jahre habe ich wiederholt nach einem persönlichen Treffen der Regierungsoberhäupter beider Koreas gerufen. In meinem Friedensvorschlag 2000 sagte ich, dass fünfzig Jahre nach dem Beginn des Koreakrieges die Gelegenheit ergriffen werden müsse, den Kalten Krieg auf der koreanischen Halbinsel zu beenden. Auch aus diesem Grund hat mich dieser Dialog sehr bewegt. Es ist entscheidend, dass dieses Gipfeltreffen fortgesetzt wird, damit die langjährige Pattsituation entwirrt und die Spannungen auf der Halbinsel wirklich gelockert werden können. Ich hoffe zutiefst, dass ein geplanter Besuch des Vorsitzenden Kim Jong-II in Seoul, wie es in der gemeinsamen Süd-Nord-Erklärung festgehalten wurde, in der näheren Zukunft realisiert wird und dass regelmäßige Gipfelgespräche etabliert werden können. Des weiteren wünsche ich mir zutiefst, die beiden Koreas mögen den Prozess der Vertrauensbildung fortsetzen und die Drohung eines Krieges auf der Halbinsel zunehmend beseitigen. Afrika: Herausforderung und Versprechen Afrika ist - gemeinsam mit Asien - eine Region von herausragender Bedeutung für den Weltfrieden. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind verschiedene regionale und interne Konflikte in verschiedenen Teilen Afrikas ausgebrochen, die das Leben und die Lebensumstände der Menschen verwüstet haben. Einem Gutachten zufolge hat es in den elf Jahren seit dem Ende des Kalten Krieges 108 bewaffnete Konflikte gegeben, von denen jeder mehr als eintausend Leben gefordert hat. Die überwiegende Mehrheit dieser tragischen Konflikte haben in Asien und Afrika stattgefunden. (49) Als Resultat der andauernden Konfliktsituationen leben zunehmend mehr Afrikaner als Flüchtlinge. Stand im Januar 2000: 6,2 Millionen laut dem Büro des UNHCR (Hoher Kommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen). (50) Tragische Nebenprodukte von Konflikten sind oftmals Nahrungsmittelknappheit und Hungersnot. "State of Food and Agriculture 2000" (Situation der Nahrungsmittel und Landwirtschaft 2000) herausgegeben von der Food and Agriculture Organisation FAO (51) berichtet, dass in neunzehn afrikanischen Ländern Hungersnot herrscht, deren Hauptursache bewaffnete Konflikte sind. Diese Fälle haben dramatischer zugenommen als jene, in denen die Hungersnot durch Naturkatastrophen verursacht wurde. Bisher wurden keine effektiven Gegenmaßnahmen für das Problem der hartnäckigen Armut gefunden, und das hat zu einem unangebrachten Pessimismus auf dem gesamten Kontinent geführt. Durch die sogenannte "Hilfsmüdigkeit" der entwickelten Länder wird dies noch intensiviert. Die internationale Sorge für Afrika nimmt fast in dem Maße ab, wie die Hilfsbedürftigkeit zunimmt. Die AIDS-Problematik verschlimmert diesen Zustand. Afrikas Krise ist jedoch eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen, wenn wir Frieden in einer zunehmend globalisierten Welt realisieren wollen. Und von einer grundlegend humanitären Perspektive aus betrachtet ist Gleichgültigkeit unentschuldbar. Die historischen Realitäten, die Afrika lange erdulden musste - Kolonialherrschaft und willkürliche Aufteilung von Ländereien durch die Großmächte - müssen zu den Ursachen für die gegenwärtige Krisensituation gezählt werden. Daher ist es die gemeinsame Verantwortung der Menschheit, sicherzustellen, dass dieses tragische Erbe nicht in die Zukunft übertragen wird. Afrika ist die Wiege der Menschheit. Es war ein Kontinent der Hoffnung. Von Alters her ist dort eine reiche Vielfalt an Zivilisationen entstanden, die der Menschheit großen Segen auf vielen Gebieten - einschließlich der Philosophie und Wissenschaft - beschert hat. Ich glaube schon lange fest daran, dass das einundzwanzigste Jahrhundert das Jahrhundert Afrikas sein muss. Teilweise ist diese Überzeugung aus der Erfahrung meines ersten Besuchs im UN-Hauptquartier 1960 entstanden, kurz nachdem ich die Verantwortung übernommen hatte, der dritte Präsident der Soka Gakkai zu werden. Dort sah ich die Energie und Vitalität der afrikanischen Delegierten, die an der Generalversammlung und verschiedenen Komiteesitzungen teilnahmen. Ich war davon tief beeindruckt. 1960 war in der Tat ein ganz besonderes Jahr für Afrika: siebzehn afrikanische Nationen gewannen ihre Unabhängigkeit. Damals habe ich begonnen, Freundschaften mit politischen, kulturellen und intellektuellen Häuptern verschiedener afrikanischer Länder zu entwickeln, in der Hoffnung dazu beizutragen, dass ein Jahrhundert Afrikas Wirklichkeit wird. Darüber hinaus habe ich mich als Gründer der Soka Universität (52) und der Min-On Konzertagentur (53) aktiv dafür engagiert, dass ein breitgefächerter pädagogischer und kultureller Austausch unter den Menschen gefördert wird. Die SGI hat sich besonders der Unterstützung von Aktivitäten der Flüchtlingshilfe verpflichtet, die vom Büro des UNHCR durchgeführt wurden. Auch in diesem Jahr, dem fünfzigsten Jubiläum der Flüchtlingskonvention, werden wir unsere Kampagnen weiterführen, um Geldmittel zu sammeln und Aufmerksamkeit für das UNHCR und andere Organisationen zu wecken. Friedvolle Solidarität: Afrikas Aufgabe Dauerhafter Friede in Afrika, das unser Nachbar in einer miteinander verbundenen Welt ist, muss jedem von uns ein unmittelbares Anliegen sein. Viele wichtige und konstruktive Visionen für Afrika sind über die Jahrzehnte entwickelt worden. Ideen, die Nationen Afrikas in starker Solidarität und einem gemeinsamen Streben nach Frieden und Wohlstand zusammenzubringen. Dazu gehören die Vorschläge von Ghanas erstem Präsidenten Kwame Nkrumah (1909 - 1972\) und anderer Führer der Pan-Afrikanischen Bewegung für die Vereinigten Staaten von Afrika. Sie können nicht als bloße Überbleibsel des Aufschwungs der postkolonialen Periode abgetan werden. Die Vereinigten Staaten von Afrika waren eine Vision, die der nigerianische Präsident Olusegun Obasanjo und ich bei unserem Gespräch vor zwei Jahren diskutierten. Es gibt in der Tat ein wachsendes Bewusstsein unter den afrikanischen Ländern dafür, wie wichtig es ist, die Pan-Afrikanische Solidarität weiterzuentwickeln. Beim Gipfeltreffen der Organization of African Unity OAU (Organisation für die Einheit Afrikas) (54) im Juli 2000 in Lomé, Togo, unterzeichneten die Führer von siebenundzwanzig Ländern einen Vorschlag für die Schaffung einer afrikanischen Union. Abgeleitet von den Erfahrungen der europäischen Integration soll diese Afrikanische Union ein afrikanisches Parlament, einen Pan-Afrikanischen Gerichtshof und eine eigene Zentralbank für den Kontinent haben. Auch wenn keine Einigung über einen Zeitplan für dieses Projekt erzielt werden konnte, ist es wirklich bedeutsam, dass die afrikanischen Länder sich auf das gemeinsame Ziel einer Afrikanischen Union verständigen konnten. In seiner langen Geschichte hat die OAU viel erreicht. Von der Einführung der "Banjul Charter on Human and Peoples' Rights" (Banjul Charta über die Rechte der Menschen und Völker) über das Abkommen, das Afrika zur nuklearwaffenfreien Zone erklärt, bis hin zur jüngsten Vermittlung im Äthiopien-Eritrea-Konflikt. Die internationale Gemeinschaft hat die Verantwortung, großzügige Unterstützung und Kooperation bei der Erschaffung der Afrikanischen Union und der weiteren Stärkung der kontinentalen Einheit zu leisten. Die Europäische Union hat ihre Errungenschaften des letzten halben Jahrhunderts in einem Bericht über ihre strategischen Ziele für die Jahre 2000-2005 mit dem Titel "Shaping the New Europe" (Das neue Europa formen) zusammengefasst: "Die Europäische Union erbringt den lebendigen Beweis dafür, dass Frieden, Stabilität, Freiheit und Wohlstand auf einem Kontinent erreicht werden können, der einst von Kriegen zerrissen war." (55) Wenn man eine Zeitspanne von fünfzig bis einhundert Jahren ansetzt, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass das, was durch die EU erreicht worden ist, nicht auch für Afrika möglich sein sollte. Mit dem Bild der Vereinigten Staaten von Afrika vor Augen, sagte Präsident Nkrumah von Ghana, dass sie "als eine große Macht hervortreten werden, deren Größe unzerstörbar ist, weil sie nicht auf Furcht, Neid und Misstrauen aufgebaut oder auf Kosten anderer erreicht wurde, sondern auf Hoffnung, Vertrauen und Freundschaft gegründet und auf das Wohl der ganzen Menschheit ausgerichtet ist." (56) Diese Vision einer friedvollen Solidarität, die Präsident Nkrumah als Afrikas Aufgabe definiert hat, sollte das leitende Prinzip der regionalen Integration im einundzwanzigsten Jahrhundert sein. Wettbewerb, der aus Feindseligkeit und Ausschluss, äußerem Druck und Zwang hervorgeht, führt nur zu Furcht, Neid und Misstrauen. Die überbordende Vitalität des menschlichen Geistes dagegen, der nach kreativer Koexistenz und Autonomie strebt, kultiviert Hoffnung, Vertrauen und Freundschaft. Dieses Jahr hat die UN zum "Internationalen Jahr der Bewegung gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und der damit verbundenen Intoleranz" ausgerufen. Die Weltkonferenz zu diesem Thema findet im September in Südafrika statt (57). Die SGI plant an NGO-Foren teilzunehmen, die parallel zu den Konferenzen der Regierungen stattfinden werden. Sie wird betonen wie wichtig die Erziehung in Menschenrechtsfragen ist, um der Ignoranz zu begegnen, der Grundursache von Intoleranz. Stärke, Weisheit, Solidarität Die Zukunft von Afrika und der gesamten Menschheit im einundzwanzigsten Jahrhundert hängt davon ab, inwieweit die einfachen Menschen ihre inneren Kapazitäten für Stärke, Weisheit und Solidarität erwecken. Ich kann gar nicht genug betonen, wie wertvoll der offene Dialog ist, damit diese Qualitäten hervorgebracht werden. Dialog hat die Kraft, unsere gemeinsame Menschlichkeit wiederherzustellen und wiederzubeleben, indem er unsere innewohnende Kapazität für das Gute freisetzt. Er ist eine unverzichtbare Kraft, durch die sich Menschen vereinen und wo Vertrauen genährt wird. Das Versagen, den Dialog zur Grundlage der menschlichen Gesellschaft zu machen, führte zu den bitteren Tragödien des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Jahr 2001 wurde zum "Jahr des Dialogs zwischen den Zivilisationen" erklärt (58). Wir müssen den Geist des Dialogs verbreiten, um ihn zur Hauptströmung des einundzwanzigsten Jahrhunderts - dem Jahrhundert des Lebens - zu machen. Auf diese Weise können wir gemeinsam ein Zeitalter erschaffen, in dem alle Menschen die Früchte des Friedens und des Glücks genießen und ihre grenzenlose Würde und ihr Potential feiern. Dialog kann zur Erschaffung einer neuen globalen Zivilisation führen. Die Mitglieder der SGI werden als engagierte und verantwortliche Bürger in ihrer jeweiligen Gesellschaft fortfahren, aufrichtigen Dialog zu führen, um eine Solidarität des Volkes für Frieden und Menschlichkeit auf der ganzen Welt zu errichten. 26\. Januar 2001 Daisaku Ikeda Präsident der Soka Gakkai International Endnoten Wenn die Quellenangabe in Englisch angegeben ist, so wurde das entsprechende Zitat aus dem Englischen übersetzt. (Anmerkung der Übersetzer) \(1) Pauling, Linus and Daisaku Ikeda. A Lifelong Quest for Peace. Trans. and ed. Richard L. Gage. Boston: Jones and Bartlett Publishers, 1992. S. 45 \(2) Hobsbawm, Eric. Das Zeitalter der Extreme - Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München: Hanser, 1997. \(3) ibd. \(4) ibd. S. 15 \(5) ibd. S. 27 \(6) Sakurai, Tetsuo. Senso no seiki- Dai-ichiji sekai taisen to seishin no kiki \[The Century of War-World War I and the Crisis of the Mind\]. Tokyo: Heibonsha, 1999. \(7) Valéry, Paul. History and Politics. Trans. 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